Im Sternerestaurant
Eine humorvolle Story von
Wolfgang Paul
Aus dem Buch: Und ewig küsst mich Dornröschen wach!
Einfach nur schön, wenn ein guter Vorschlag, der mal keine Arbeitsaufträge enthält, von meiner netten Mitbewohnerin kommt. Essen gehen! In einem kleinen netten Restaurant, unweit unseres gemeinsamen Domizils.
Essen ist nicht nur ein ausgeprägtes Hobby von mir, es ist vielmehr eine Leidenschaft. Da kann man noch so sehr die Zubereitung selbst loben, ich beschränke mich vorzugsweise auf das Wesentliche, auf den Verzehr der Speisen. Prioritäten müssen halt sein. Meine sind damit gesetzt. Der einzige Haken an der Sache ist leider, dass man mir meine Prioritätensetzung auch ansieht. Von vorne geht es noch. Und dunkle Kleidung, so fand ich schnell heraus, kaschiert meinen kleinen Bauchansatz. Der Spiegel im Haus aber zeigt unbarmherzig und ohne jegliches Feingefühl die Rundung meines Köpers, in seiner ganzen ungeschminkten Wahrheit. Da, wo einst einmal so etwas wie Muskeln waren – sich fast schon ein Sixpack erkennen ließ – mussten diese aus reinen Wärmeschutzmaßnahmen meines Körpers weichen. Und egal wie viel ich aß, eine Gewichtsreduzierung schien einfach nicht möglich.
Allen Teilnahmen an Kursen sowie Krafttrainings zum Trotz: Es tat sich nichts am kleinen Speckbäuchlein. Verschiedene Male hatte mich meine Ernährungsberaterin schon sanft auf den Umstand hingewiesen, dass der Bauchumfang wohl wieder etwas angewachsen sei. Deshalb wunderte ich mich umso mehr, dass ausgerechnet sie einen Restaurantbesuch vorschlug. Das musste doch einen Grund haben, denn Frauen haben doch immer einen Grund für die Dinge, die sie tun, dachte ich. Handeln Männer zumeist vollkommen grundlos, so haben Frauen immer Motive.
Ich kam ins Schwitzen, eine heiße Welle schoss durch meinen Körper. Hatte ich vielleicht unseren Kennenlerntag oder gar unseren Hochzeitstag vergessen? Oder hatte sie heute Geburtstag? Namenstag? War heute Valentinstag? Gab es einen besonderen Anlass, den ich übersehen hatte? Schnell nahm ich den Kalender zur Hand und ging alle Daten akribisch durch. Erleichtert atmete ich auf, als ich keinen wichtigen Termin ausmachen konnte, der mir vielleicht durchgegangen sein könnte. Nachdem ich nochmals vom 1. Januar bis zum 31. Dezember alle Termine durchgegangen war, atmete ich sehr erleichtert auf. Dennoch blieb mir ein unbestimmtes Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Es war fast dasselbe Gefühl, das ich hatte, als ich neulich in die Verkehrskontrolle geriet und mir aber sicher war, mich ordnungsgemäß verhalten zu haben. Als der Polizist mich aber scharf ansah und sein Blick Walters Blick deutlich ähnelte, kamen mir erhebliche Zweifel. Der Schweiß auf meiner Stirn musste wohl Anlass genug für den Polizisten gewesen sein, mich mit auf die Wache zu einer Befragung zu nehmen. Und nur, weil ich einer Phantomzeichnung ähnlich sah, konnte ich erst nach drei Tagen Untersuchungshaft entlassen werden. Am Ende stellte sich natürlich heraus, dass alle meine Sorgen unbegründet gewesen waren. Dann stand ich wieder als freier Bürger, der kurzzeitig seiner Rechte beraubt worden war, vor den Türen des Polizeipräsidiums.
Hoffentlich war es auch im Falle dieser ausgesprochenen Einladung meiner Frau so. Das ungute Gefühl aber hielt sich hartnäckig, als suchte mein Hirn immer noch fieberhaft nach etwas, das ich vergessen haben könnte. Ein Teil meiner Datenzentrale blieb in Dauerbeschäftigung, arbeitete im Hintergrund unermüdlich und suchte gleichzeitig nach möglichen Entschuldigungen im Falle, dass doch irgendetwas übersehen worden wäre. Es ist genau dieses kalkulierte weibliche Verhalten, das uns Männer in solche Nöte bringt und uns wertvolle Lebensjahre kostet, denn Ungewissheit ist tödlich für uns. Ich vermutete, dass die Frauen längst herausbekommen hatten, wie sie unsereins frühestmöglich loswerden konnten.
Als der Abend anbrach, befand sich noch immer mindestens 50 % meiner organischen Recheneinheit in der statistischen Auswertung der Daten. Mein Gehirn suchte verzweifelt nach unterschiedlichsten Kombinationen von Entschuldigungen, die zu den möglichen Versäumnissen passen könnten.
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Mein Misstrauen darüber, einfach so abends essen zu gehen, ohne besonderen Anlass, begleitet von kleinen Schweißattacken, weckte anscheinend keine Aufmerksamkeit bei meiner Liebsten. Die genoss einfach mein sichtliches Unbehagen. Mir dämmerte so langsam, dass der Schlachtplan meiner Mitbewohnerin schon lange geschmiedet sein musste. Offensichtlich hatte sie es lange geplant und klug arrangiert, mich im Ungewissen zu lassen. Jetzt hatte ich es endlich verstanden, war sichtlich erleichtert – und mein Gehirn fuhr langsam wieder auf „Warp Null Komma eins“ herunter. Nach Raumschiff-Enterprise-Maßstäben entsprach das dem normalen Tagespensum eines Büroalltags. Die komplette Entspannung.
Aber ich hatte nicht mit meiner Begleiterin gerechnet. Die nämlich hatte noch ganz andere Gemeinheiten in petto. So erfuhr ich, dass sie einen Tisch in einem Sternelokal reserviert hatte. Als das Wort Sternelokal auf meine Denkzentrale hart aufschlug, musste der Kommandant in meinem Gehirn erneut auf „Warp 11“, also auf volle Leistung, herauffahren. Das zog so einige Energie von allen übrigen Körperteilen ab und ich bemühte mich um gleichzeitiges Atmen und einen Gesichtsausdruck, der annähernd so was wie „ist ja toll“ ausdrücken sollte.
Soweit ich mich erinnern konnte, hatten wir niemals solch eine Lokalität besucht. Aber ich wollte kein Spielverderber sein. Als wir am Restaurant der Extraklasse ankamen, stoppte man unseren Wagen und wollte mir sofort den Autoschlüssel wegnehmen. Da ich den Zeitpunkt meiner Fahrtüchtigkeit und der Abgabe meiner Lizenz und erst recht meines Autoschlüssels immer selbst bestimmen wollte, wehrte ich mich zunächst vehement. Erst als der Angreifer und ich wieder zu Atem kamen, erklärte er mir, dass dies zum Service des Restaurants gehöre, den Schlüssel und das Auto bekäme ich natürlich wieder. Man wolle es mir also gar nicht stehlen. Da meine Kraft für einen zweiten Überwältigungsangriff auf den Hotelpagen nicht mehr reichen würde, stimmte ich missmutig zu. Meine Begleitung verdrehte nur die Augen. Das bedeutete so viel wie: „Immer musst du übertreiben.“ Vermutlich hatte sie mal wieder recht.
Ich rückte mein teures Jackett zurecht und wir traten gemeinsam in das Feinschmeckerrestaurant ein, das auf den ersten Blick steril wie ein Kachelgeschäft wirkte. Meine Begleitung strahlte über das ganze Gesicht, sie genoss die ganze schlichte Aufmachung in diesem weißen Fliesenlager, das sich meiner Meinung nach nur als Restaurant getarnt hatte. Ich glaubte aber zu durchschauen, dass man der Einfachheit halber nur eine ehemalige Abteilung für Bäder umstrukturiert hatte. Und auch die weißgekachelte Bar, an der wir kurzzeitig Platz nahmen, bis unser reservierter Tisch frei wurde, überzeugte mich einmal mehr davon, dass uns später die Bademäntel für ein Bad gereicht werden würden – anstelle eines Verweilgetränkes. Als 45 Minuten Wartezeit vergangen waren, erwog ich schon den dicken Feuerwehr C-Schlauch, den ich im Eingangsbereich entdeckt hatte, zu nehmen, und die „Besetzer“ unseres Tisches einfach hinaus auf die Straße zu spülen. Meinen Blick hielt ich während der ganzen Wartezeit auf die dreisten Gäste gerichtet. Als hätten sie meine Absichten erkannt, zahlten die Herrschaften, nahmen vom distinguierten Kellner ihre Garderobe in Empfang und gingen schnell von dannen. Mit gesenktem Haupt gingen sie an mir vorbei. So sehr ich auch in ihren Gesichtern versuchte zu lesen, ob das Essen in diesem Hause gut oder nur mittelmäßig gewesen war, ich erkannte nichts in ihrer ausdruckslosen Mimik. Außer Angst! Denn ich hielt den Feuerwehrschlauch in den Händen, den ich spontan noch vor einer Minute von der Wand gerissen hatte. Alle übrigen Gäste hatten ebenso eine gewisse Ausdruckslosigkeit im Gesicht, die dem des Bedienpersonals glich.
Als wir endlich unseren Tisch zugewiesen bekamen und Platz nehmen konnten, brachte uns auch schon eine Servicekraft die Menükarten. Als ich in meine hineinsah, verstand ich auch, warum wir sie so schnell in die Hände gedrückt bekommen hatten. Denn wie gewohnt – Karte öffnen, reinschauen und auswählen – war hier nicht. Für die Menükarte benötigte man eine Dechiffrierhilfe, die jedoch leider nicht beilag, so sehr ich die Karte auch hin und herwendete. Die meisten Beschreibungen verstand ich, im Gegensatz zur Hausmiteigentümerin, überhaupt nicht.
Ich verstand genau genommen nicht mehr als Bahnhof. Was sollte denn ein roh mariniertes Filet umrandet von einer Shiso-Senfgurke, eingebettet in einem Eigelb-Vinaigrette-Schäumchen sein? Shiso klang eher nach einer Kampfsportart. Ebenso wenig konnte ich aus den anderen Gerichten sonderlich schlau werden, da mir „lackiertes Störfilet“ schon von der Beschreibung her wenig zusagte. Womit sollte das denn lackiert worden sein. Igitt, dachte ich noch und verzog das Gesicht. Ich las weiter. Aber auch die weiteren Hinweise, eingefasst in kunstvolle Textabsätze mit allerlei schön gerahmten Verzierungen wie „Bienenwachsseife“ mit Sternchen gekennzeichnet, weckten in mir sofort einen Hinweis auf Ingredienzien, wie ich sie nur aus dem Heimwerkerbedarf kannte. Jedoch passte immerhin die Seife gut in diesen weißen Waschsalon. Hier wurde sie jedoch als etwas Essbares angeboten. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als ich auf die Dessertkarte stieß, war von Reneclaudensorbet im Zwetschgensud die Rede. Schon beim lackierten Fisch kam ich ins Schleudern, erst recht beim Reneclaudensorbet. Hatte ich nicht noch zuletzt Reneclauden in einer Gärtnerei gesehen? Weiter unten in der Karte kamen die „Offs“. Jetzt war ich komplett raus. Was soll das denn alles? Warum können die nicht eine einfache, verständliche Sprache wählen, wie ich sie überall fand. Ich sehnte mich nach einem Wienerschnitzel mit Pommes und Mayo. Vielleicht noch einen gemischten Salat. Basta. Aber das hier, das war eine Spur zu viel für mich.
Wenn der untere Teil die „Offs“ sind, war dann der obere Teil der Karte für die „Ins“ bestimmt?
Weiter unten entdeckte ich die Übersetzung, dass es sich ab den „Offs“ nur um Gerichte ohne Fisch und Fleisch handele. Ich konnte kaum hinsehen, um was es sich im Einzelnen handelte. Wie gebannt folgte ich den Menüs der Karte weiter hinunter. Schwarzwurzel in Heu geräuchert. Gab man das nicht Pferden als Nahrung? Und zum Nachtisch einen Maibaum. Ja nee, is klar. Als ich die nebenstehenden Preise sah, suchte ich instinktiv nach einem Erste-Hilfe-Kasten und dem passenden Bademeister dieser Badeanstalt. Ich hoffte auf eine schnelle Wiederbelebung in dieser sterilen Umgebung. Von meinem Blutdruck, der nun von jedem Arzt als kritisch attestiert worden wäre, wollte ich erst gar nicht sprechen. Wenn ich in das glückliche Gesicht meiner Frau schaute, wollte ich ihre Serotoninausschüttung aber nicht jäh mit einem Kreislaufkollaps oder gar einem Herzinfarkt unterbrechen. Und nur die eingespeicherte Notruftaste in meinem Handy, das ich krampfhaft in meiner Hand hielt, beruhigte schließlich meine Atmung wieder und ebenso meinen Puls, der weit über 180mm/Quecksilbersäule liegen musste. Nachdem sich meine Schnappatmung wieder abgeflacht hatte, wählten wir unsere Gerichte. Bei jeder Bestellung zuckten mein Auge sowie andere diverse Körperteile verdächtig und ich dachte schon an mögliche Vorzeichen eines Schlaganfalls. Unverhofft schnell servierte man uns einen undefinierten „Gruß aus der Küche“, den ich nur zähneknirschend erwidern konnte. Denn der Koch war mir bis dato unbekannt. Und seine Gerichte kamen mir verdächtig vor. Wenn er aber so gut kochen würde, wie er sich Namen für seine Schandtaten ausdachte, dann könnte ich vielleicht noch Gefallen an den Speisen bekommen.
Nach einer angemessenen Zeit servierte man uns zuerst die vorgeheizten Teller. Dachte ich zumindest. Nur durch den konkreten Hinweis meiner Gattin gelang es mir, die Hauptspeise auf dem Teller zu entdecken, die sich wirklich gut getarnt hatte. Maximal wäre ich von einem „zweiten Gruß vom Koch“ ausgegangen, nur um sicherzugehen, falls der erste Gruß von ihm nicht angekommen sei. Als ich meine Lesebrille aufsetzte, konnte ich nun klar ein winziges Stück Fleisch auf dem großen Teller erkennen. Ich hatte es schlichtweg übersehen. Und auch die Beilagen, die sich auf dem Teller befanden, nahmen mir jede Hoffnung, jemals satt zu werden. Vielmehr wusste ich nun, wie sich Hunger anfühlt. Obwohl man gegessen hat. Meiner Frau gefiel das Ambiente ausgesprochen gut. Meinen Einwand über die Art und Menge der Speisen blieb ungehört. Ihr glückliches Gesicht sprach Bände. Ebenso, dass sie sich um meinen Gesundheitszustand überhaupt nicht sorgte.
Als wir nach allen Speisen und Getränken die Rechnung erbaten, war ich erstaunt, wie schnell diese an unserem Tisch ankam. Diskret in eine kleine, längliche Holzkiste verpackt, vermutete ich schon ein scharfes Messer. Für einen Harakiri, als allerletzten Gruß aus der Küche, dargeboten vom einfallsreichen Koch. Denn jetzt ergab die Bäderabteilung, ausgestattet mit einem großen Feuerwehrschlauch, endlich einen Sinn: Bei der sechsstelligen Summe auf der Rechnung blieb einem unschuldigen und nach Begleichung der Rechnung nun völlig mittellosen Menschen, keine andere Wahl, als hier an Ort und Stelle dem japanischen Selbstmordritual zu folgen. Als ich schon mein Hemd aufknöpfen wollte, um meinen Oberkörper zu entblößen, hinderte mich allein der bis dato so glückliche Blick meiner Begleiterin. Die verdrehte nicht nur die Augen, sondern zischte einige unverständliche Laute. Vermutlich war das ein Hinweis, mein Schicksal zu ertragen.
Als ich aber genauer auf die Rechnung sah, konnte ich erkennen, dass es sich lediglich um einen dreistelligen Betrag handelte. Mein erster Blick war wohl zuerst auf das Datum gefallen. Meine Versuche, mit dem Kellner eine Ratenzahlung mit möglicher 0 %-Finanzierung zu vereinbaren, scheiterten kläglich. Ein letztes Mal verdrehte meine Buchhalterin die Augen, was eine klare Aufforderung bedeutete, mich nicht so anzustellen. Diese Summe wieder finanziell auszugleichen, würde mich einige Stunden meines gesunden Büroschlafes kosten.
Diese Information behielt ich aber zum Erhalt der guten Stimmungslage für mich.