IMHO: TikTok & Taktik

IMHO: TikTok & Taktik

Auf Instagram zählt, wer du bist und auf TikTok, was du kannst. So einfach ließe sich der Unterschied zusammenfassen. So einfach ist es aber nicht. Mit TikTok entsteht nicht ein neues lustiges Social Network, sondern ein vermeintlich erster Vorgeschmack eines neuen Typ Internets.

TikTok ist das Experiment zu sehen, ob China im Konsumentenweb des Westens Fuß fassen kann. Mit 2 Milliarden Downloads (circa 57% Userbase in China) scheint das gelungen zu sein. Nur ist die App kalkuliertes Konstrukt einer Konzernzentrale (und wahrscheinlich auch Parteizentrale) und eben nicht die Idee eines Jungen in seinem Studienzimmer. Mit welchem Ziel expandiert TikTok jetzt in den Westen? Geht es ums Geld verdienen? Oder um andere Form von Macht und Einflussnahme?

Anders als Instagram, YouTube, Facebook, Twitter oder Snapchat arbeitet TikTok mit einem deutlich schwächeren Social Graph. Auf TikTok braucht man keine Freunde oder Anhänger um Spaß zu haben. Man braucht nichtmal ein Konto, nur Interessen. Der hyper-personalisierte Algorithmus empfiehlt Inhalte auf der Grundlage von Tausenden von Objekten und Tags, die in jedem einzelnen Video analysiert wurden; zusammen mit der User-Historie, Wiederholungen (Replays), den Vorlieben, Kommentaren, Freigaben und sogar Aktivitäten nach dem Ansehen. Die App akkumuliert im Prinzip alle möglichen Inhalte aller möglichen TikToker und lässt sie vom Algorithmus immer wieder neu zusammensetzen. Der Algorithmus lernt viel schneller als bei anderen Social Networks, weil die Inhalte viel fragmentierter sind und viel mehr Reaktionen der User pro Session ausgewertet werden können. TikTok hat einen Interest Graph zur Eroberung gebaut.

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Anders als die hiesigen Networks leidet TikTok nicht unter dem Kontext-Kollaps der eintritt, wenn man zu viele Freunde auf einer Plattform hat. Der nicht-chronologische Feed ist bei TikTok default-Zustand. Anderes als zum Beispiel Instagram, fördert TikTok alle Inhalte auf seiner Plattform und nicht nur die der erfolgreichsten Influenzer. So baut jeder Nutzer in kurzer Zeit Schwungmasse auf. Wer den ganzen Aufstieg TikToks und die kalkulierten Konzeptbausteine verstehen will, den empfehle ich diese Abhandlung. Sie ist sehr lang und sehr gut.

Facebook's Akquise von Giphy deutet auf einen Bruch hin: GIF statt Graph

TikTok lässt sich leichter verstehen, wenn man sich anschaut, wie die Platzhirsche auf TikTok reagieren. Hier fällt der Kauf von Giphy durch Facebook auf. Warum kauft Facebook einen Service, der absolut gar kein Geld verdient und wahrscheinlich auch nie verdienen wird? Für 400 Millionen Euro? Vermutlich geht es hier nicht um Geld, sondern um Abwehr.

Die neue Erzählform von TikTok, die, wie wir gelernt haben, ohne Abhängigkeit vom Social Graph auskommt und die einen Algorithmus als Produkt hat, der hunderte Content-Pieces millionenfach virtuos formt, sie ausspielt und mit ihnen lernt, hat sich eindeutig in die Downloads von Instagram eingefressen und stiehlt potentielle zukünftige User. So zumindest wird das Plateau der Downloadzahlen von Instagram im Kernmarkt USA interpretiert.

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Mit der Akquise von Giphy ändert Facebook seine Strategie, weil es einen neuen wichtigen Erzähl- und Kreativbaustein hinzufügt: Memes und die Meme-Kultur. Memes werden definiert als Iterationen gemeinsamer kultureller Überzeugungen oder Verhaltensweisen und haben sich über die Jahre zur Standardmethode entwickelt, mit der junge Menschen kommunizieren - und konsumieren. Auch auf Instagram werden Memes 7x häufiger geteilt als Nicht-Meme-Posts. Bis vor kurzem waren Memes meist Bilder mit Iterationen von Text; sie wurden mit Tastatur und Maus erstellt, aber durch Mobile hat alles im Leben der User die Chance, aufgenommen und zu einem Meme verarbeitet zu werden. TikTok zeigt, wie man aus Kamera + Musik Memes herstellt. Und damit Content herstellt, der in seinem Zeitgeist jedes Posting der Freunde (oder irgendeiner der Kardashians) links liegen lässt.

Ironie ist die Sprache der Gen Z. Im krassen Gegensatz zur unendlichen Perfektion der Millenials auf Instagram wurde TikTok auf Ironie in Form von Musik und Tanz, auf Quatschmachen und Nachmachen gebaut. Giphy kann also als Zäsur in der Art und Weise gesehen werden, wie Facebook über den sozialen Austausch und das Miteinander auf seinen Plattformen nachdenkt. Kein Geheimnis, das diese neue Ausdrucksform an TikTok erinnern wird.

Der Erfolg von TikTok und das tiefe Verständnis der westlichen (Internet)Kultur wird die Mutterfirma Bytedance dazu ermutigen, mit weiteren Produkten und Services zu expandieren (auch dazu super Input im verlinkten Artikel). Wir dürfen TikTok ruhig als einen Trichter verstehen, der gewonnene Nutzer mittelfristig zu anderen Produkten führen wird. Welche Produkte werden das wohl sein? Wie gehen die Chinesen mit UGC und long-form Inhalten wie auf YouTube um? Wie entdecken und kaufen wir Produkte mit TikTok? Was machen Paypal und Co, wenn TikTok bald Payment-Funktionalitäten integriert? Die Fragen ließen sich weiter fortführen.

Eine Sache muss heute allen einleuchten: Facebook und Google als die großen westlichen Plattformen sind längst zu einer Art Infrastrukturanbieter mit Profitstreben geworden. An ihnen kommt keiner mehr vorbei, sie sind systemrelevant für das Web. Was wir gerade vor unseren Augen beobachten, ist die Entstehung eines weiteren Infrastrukturanbieters. Der allerdings kommt aus einem ganz anderen Kulturkreis mit möglicherweise ganz anderen Zielen als Profitstreben.

In My Humble Opinion (IMHO) ist ein persönlicher Kommentar, der interessante und streitbare Positionen vertritt und das Ziel hat, den Diskurs voranzubringen.

Denise Glasemann

Director - Department Lead Qualitative

4 Jahre

Edvin Babic: guckst du hier...

Christian Daul

CEO und Geschäftsführer bei REINSCLASSEN GmbH & Co. KG

4 Jahre

Sehr gut analysiert, Marcus. Da das TT Model aber so anders ist als die FB Strukturen kann ich mir nicht vorstellen wie ein paar GIF/Meme mehr ein System ändern sollten. Wie Du richtig anmerkst, geht es stark um Erwartungen und Codes der User. Damit ist es wahrscheinlicher, dass immer neue SoMe Wellen passend zu den nächsten Generationen entstehen und diese dann innerhalb ihrer Social Landscape bleiben. Das war bei Snap auch schon erkennbar. (Was wird aus denen eigentlich?) Allerdings bleiben Bedürfnisse, die ein Personal Graph nicht bedient. Daher müsste sich eine Lücke für soziale Bezüge bei der GenZ auftun. Siehst Du etwas, das hier relevant wird?

Alexander Neusinger

In the process of starting a revolution in my garage • Father of two & husband

4 Jahre

Wunderbarer Artikel Marcus! Bin gespannt auf alles was die Zukunft von #Tiktok so mit sich bringen wird. Ich frage mich aber zugleich immer warum #Twitter "#Vine" tatsächlich hat sterben lassen... war man evtl. einfach "zu früh"? Was wäre wenn Twitter bessere Entscheidungen getroffen hätte? Hätte Vine das heutige Tiktok tatsächlich überflüssig gemacht?

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