Inklusion: Im selbstbestimmten Leben ist kein Platz für Mitleid

Inklusion: Im selbstbestimmten Leben ist kein Platz für Mitleid

Im Umgang mit so genannten „Behinderten“ sind viele befangen. Wir wollen nur das Beste, aber tatsächlich kennen wir nur selten die wirklichen Bedürfnisse und wahren Gefühle derjenigen, denen wir helfen wollen. Warum eigentlich nicht? Klar ist: Echte Inklusion kann so nicht gelingen – auch nicht in den Unternehmen.

Wenn Menschen mit anderen mitfühlen, deren Behinderung oder Krankheit sie wirklich betroffen macht, ist das ja zunächst einmal ehrenhaft. Behinderte haben mit Einschränkungen zu kämpfen und müssen an jeder Ecke mit Barrieren rechnen – können also kein normales Leben führen, oder? Ist das der Grund, warum sie uns Nicht-Behinderten leidtun? Aber wer definiert, was „normal“ ist? Und wo fängt Behinderung eigentlich an? Ich denke: Uns würde ein Perspektivwechsel guttun.

Es fängt bereits beim Wording an: Ganz selbstverständlich verwenden wir Begriffe wie „Betroffene“ oder „Behinderte“, doch ist uns eigentlich klar, was das bei dem oder der Bezeichneten auslösen kann? Automatisch drängen wir diejenigen in eine Opferrolle. In einem Interview mit n-tv geht der Aktivist Raul Krauthausen noch einen Schritt weiter und behauptet, Menschen ohne Behinderung fühlten sich von Menschen mit Behinderung bedroht. Viele empfinden es als Angriff, wenn man sie auf das Thema Inklusion aufmerksam macht, und erfinden tausend Gründe, warum es so schwer sei, „Behinderten“ die gleichen Rechte einzuräumen. Seiner Meinung nach ist es reine Bequemlichkeit und Menschen ohne Einschränkungen würden sich in der Beschützerrolle sogar wohl fühlen.

Und da sind wir mitten in der Diskussion um echte Selbstbestimmung. Weil wir eine Gesellschaft haben, in der wir mehr oder weniger bewusst in „little boxes“ leben, wie es Malvina Reynolds in ihrem gleichnamigen Song treffend beschreibt – also in vordefinierten, geregelten Lebensmodellen – ist es schwer, außergewöhnliche Lebenssituationen vorurteilsfrei zuzulassen. Damit jene Menschen in besonderen Lebenslagen – ob mit Behinderung oder (chronischer) Krankheit – selbstbestimmt leben können, müssen wir endlich von unserem hohen Mitleidsross herabsteigen und das vermeintliche Recht, diese Menschen und ihre Situationen zu beurteilen, abtreten. Die Sichtweise auf das eigene Leben sowie die Prioritätenbildung für sich und innerhalb der Familie sollten entscheidend sein für Glück oder auch Unglück. Immer noch herrscht bei vielen die Annahme, behinderte Menschen und ihre Familien müssten automatisch unglücklicher sein als gesunde oder „normale“ Menschen. Ich habe einmal ein Gespräch zwischen zwei Jugendlichen im Rollstuhl mitbekommen, sie unterhielten sich über „Geher“ und dass sie nicht mit ihnen tauschen möchten. Sie kannten seit Geburt nichts anderes und konnten sich ein Leben als „Geher“ gar nicht vorstellen; für sie ist ein Leben im Rollstuhl ganz „normal“.

Zu viele Vorbehalte, zu wenig echtes Wissen

Was können wir als Gesellschaft also tun, damit Menschen mit „Behinderung“ selbstbestimmt leben können? Im ersten Schritt: ihnen unverkrampft begegnen. Mit-, statt übereinander sprechen. Vor allem in der Wirtschaft gibt es weiterhin große Vorbehalte: Noch viel zu wenige Unternehmen beschäftigen Menschen mit Behinderungen und zahlen dafür lieber eine entsprechende Ausgleichsabgabe, die mit maximal 320 Euro aus meiner Sicht viel zu gering ist. Unsicherheit und Unkenntnis verhindern, dass die Inklusionsquote viele höher ausfallen könnte. Das gilt auch gleichermaßen für die Schulen. Noch kämpfen wir mit zahlreichen Vorurteilen. Zugegeben: Nicht alles ist in der Umsetzung immer optimal gelaufen. Aber das heißt eben auch nicht, dass der Weg grundsätzlich falsch sei. Damit Inklusion gelingen kann, müssen eben bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Darunter verstehe ich nicht nur barrierefreie Räume, sondern vor allem auch genug und gut geschultes Personal. Dafür müssen wir die Menschen – und ganz wesentlich die Entscheidungsträger – stärker sensibilisieren und den Dialog fördern. Ein öffentliches Sprachrohr für Kinder und Jugendliche mit Krankheit oder Behinderung ist z.B. die „Grüne Bande“ des Bundesverband Kinderhospiz in Kooperation mit Aktion Kindertraum. Auf der Plattform können sich die Mitglieder vernetzen, austauschen und eigenverantwortlich Öffentlichkeitskampagnen zu selbst gewählten Themen umsetzen. Damit versuchen sie raus aus dem Abseits in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen.

Wir regulieren ohne zuzuhören

Und im zweiten Schritt muss es darum gehen, einen entsprechenden Rahmen zu schaffen, aber eben nicht zu definieren. Basis dafür müssen die Wünsche und Erfordernisse derjenigen sein, die eben auf Hilfe angewiesen sind. Sie sind es, die wir endlich zur Sprache kommen lassen müssen. Denen, die es wollen und können, müssen wir die Möglichkeit bieten, für sich selbst zu sorgen und ihren Lebensunterhalt so unabhängig wie möglich zu verdienen. Sollte dafür eine Assistenz benötigt werden, muss diese gestellt werden, und zwar in dem Umfang, den der oder die „Behinderte“ wünscht. Ich kenne einen jungen Mann, der auf einer Vollzeitstelle arbeiten könnte – und auch will. Er darf jedoch nicht, weil ihm nur eine Assistenz für 20 Wochenstunden genehmigt wurde. Wenn er mehr arbeiten möchte, muss er selbst für eine zweite Assistenz aufkommen, wodurch er jedoch nicht mehr genügend Einkommen zum Leben verdienen würde. Das ist doch bürokratischer Irrsinn und hat mit einer modernen Gesellschaft nicht viel zu tun. Bei der Wahl eine:r Assistent:in für den Alltag müssen „Behinderte“ außerdem ein Vetorecht bekommen, vor allem wenn es um die Intimsphäre geht. Eine Alternative könnte hier beispielsweise ein Pflegeroboter sein. Auch das Thema Wohnen spielt eine wichtige Rolle: Viele dezentrale Wohn- und Lebensmöglichkeiten geben ein Gefühl von Selbstständigkeit. Heime und Einrichtungen hingegen vermitteln einen exklusiven Eindruck – wir im privaten, ungestörten, „normalen“ Heim gegen die im öffentlichen, überwachten Gebäude. Diese Parallelwelten gilt es aufzubrechen und miteinander zu verschmelzen.

Es gibt noch einiges zu tun und vieles zu reflektieren, aber ich setze vor allem auf unsere jüngeren Generationen, dass sie den Inklusionswandel vorantreiben. Denn mit den Jungen kommen neue Perspektiven, da bin ich sicher.

 

Hans Werner-Neske

Inhaber CD Neske Golfberatung & - organisation

1 Jahr

Liebe Ute, Du sprichst mir und sicherlich auch vielen anderen aus dr Seele! Lieben Gruß und Dank dafür 👌😊🙏

Andreas Wrede

Gründungschefredakteur Max Magazin Deutschland

3 Jahre

😀😀😀

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