Was ist integral?
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Was ist integral?

Dieser Artikel dient einer Aufklärung zum Begriff 'integral', seinem Hintergrund, des Verständnisses und vor allem der Möglichkeiten, die sich hinter diesem unscharfen Sammelbegriff, bieten.

@Roger Schlegel hat sich in seinem Buch "Bei vollem Bewusstsein" intensiv mit integraler Organisationsentwicklung auseinandergesetzt und aus meiner Sicht die bisher treffendste Umschreibung von 'integral' geliefert, an die ich mich hier anlehne bzw. übernehme (es besser machen zu wollen, fange ich gar nicht erst an):

  1. Integral steht für den erwähnten Sammelbegriff für Denker, die eine umfassende, alles integrierende Sicht auf die Menschheitsentwicklung vertreten.
  2. Integral ist die Bezeichnung für einen bestimmten Grad an Ich-Entwicklung, die ein Mensch nach verschiedenen Modellen (Spiral Dynamics, Stages, Ego-Development, uvm.) erreicht hat.
  3. Integral ist eine Denkhaltung und Arbeitstechnik, die Ken Wilber mit der Abkürzung AQAL zusammenfasst. Damit meint er eine Technik, die aus möglichst vielen Perspektiven eine Fragestellung vollständig betrachtet: alle Quadranten, alle Linien sowie alle Zustände.

Alle 3 Definitionen zu beschreiben ist hier in der Kürze nicht möglich. Deshalb möchte ich mich auf einige konkrete Aspekte daraus konzentrieren.

Gibt es menschliche bzw. Ich-Entwicklung?

An dieser Frage scheiden sich die Geister. Aus integraler Sicht ganz klar, ja. Die oben erwähnten Modelle beschreiben dabei die mögliche Entwicklung, die wir als Menschen durchlaufen können, bisweilen mit einem hohen Detailgrad (weitere Forscher auf dem Gebiet: Jean Gebser, Jean Paget, Robert Kegan, uvm.). Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Die Frage aus individueller Sicht ist: kann ich unterschiedliche Arten zu denken (das Wie, sprich die Struktur des Denkens, nicht das Was, den Inhalt) in meiner eigenen Wirklichkeitskonstruktion feststellen?

Generell gesprochen bedeutet "Entwicklung" mehr Aspekte in den eigenen Blick auf die Welt einfließen zu lassen als früher. Doch was sind solche Aspekte, die ich vielleicht mittlerweile und künftig "sehen" bzw. wahrnehmen kann, die mir früher nicht aufgefallen sind. Hier ein Auswahl:

  1. die Verschiedenheit des Denkens, über verschiedene Kindheits- und Jugend-"Stufen" hinweg bis hinein ins Erwachsenenalter
  2. (immer mehr und intensivere) Gefühle
  3. (immer mehr) zu den Gefühlen dazugehörige Bedürfnisse
  4. Werte und weitere Motivationsfaktoren
  5. "Zustände", Stimmungen, Verhalten und Möglichkeiten abhängig von Schlaf, Essen, Alter, Körperphasen, etc.
  6. (immer intensivere und tiefere ) Wahrnehmung des Körpers
  7. Nahrungsmittelunverträglichkeiten
  8. (immer tiefer liegende) Intentionen und Absichten
  9. tatsächliche Leidenschaften
  10. Bedeutung, Konstruktion und Wirkung von Sprache - sowie deren Grenzen
  11. Generell Trennungen und Grenzen, die bei genauerer Betrachtung nicht mehr haltbar sind
  12. persönliche Limitierungen, wie innere Gesetze, Glaubenssysteme, erlernte Kernüberzeugungen und Verhalten
  13. Einflüsse der Systeme in den wir uns befinden bzw. befunden haben, auf uns, unser Denken, unser Selbstbild und unser Handeln
  14. eine Identität, die wir geschaffen haben, um mit der Welt um uns herum klar zu kommen
  15. unsere Antreiber, inneren Anteile und vor allem verdrängten Persönlichkeitsanteile, die wir nun nicht mehr nur in Form von Projektionen in anderen sehen, sondern die Projektionen selbst erkennen. Projektionen sind ein sehr spannendes Thema.

Und, und, und.

Wichtig finde ich zu erklären, dass es dabei ein gewisses Muster gibt. Zuerst erkenne ich etwas neues in mir, dann fange ich an, das gleiche in meiner oder meinem Gegenüber festzustellen, dann erweitert sich diese Sichtweise auf mehrere Anwesenden bis sich der Kreis der Personen immer weiter vergrößert (Organisationen, Länder(-verbunde), Welt) und wir schließlich feststellen, dass sich vieles von unserer neuen Wahrnehmung nicht nur auf Menschen beschränkt, sondern auch in Teilen alle Wesen (Tiere, Pflanzen, etc.) umfasst.

Vieles davon hat Ähnlichkeit mit dem Erlernen von einer neuen Sprache. Am Anfang ist die neue Wahrnehmung noch zögerlich, fragmentiert und unzuverlässig. Mit der Zeit jedoch wird diese immer sicherer & selbstverständlicher. Das Zusammenspiel aller Einflüsse und Aspekte wird immer flüssiger und instantaner erlebt. Der (Personen-, Wesens-)Kreis, den wir dabei einbeziehen können, wird, wie erwähnt, immer größer, die eigene Selbsterfahrung immer tiefer, vielfältiger und bunter.

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Quelle: trustwrx.org

Im Prinzip sind dem allem keine Grenzen gesetzt. Der erstmal limitierende Faktor ist unsere Verarbeitungskapazität. Jeder neue Aspekt fordert uns für eine ganze Weile. Was man angefangen hat zu sehen, kann man es nicht mir ausblenden. Da wir nicht mehr nur mit dem Verstand, sondern zunehmend auch mit dem Herzen (siehe Emotionen, Gefühle, Bedürfnisse) sowie immer besser mit dem Körper, Dinge erfahren und in unser Gewahrsein einfließen lassen, läuft bei uns eine riesige Sensordatenfusion wie in unseren modernen und künftigen Autos, die immer weniger im Detail differenziert werden können und zu einer einzigen riesigen Informationsquelle verschmelzen. Wenn Menschen davon sprechen "Energien wahrzunehmen" ist das manchmal simple Manipulation oder, wie hier gemeint, tiefgreifende Qualität. Man kann es als Summe aller Eindrücke verstehen.

Ist diese Entwicklung erstrebenswert?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Generell gesprochen, ist es wichtig, neue Perspektiven in die eigene Wahrnehmung einfließen zu lassen. Denn wir können so besser mit Komplexität und Unsicherheit umgehen, werden resilienter & flexibler, haben ein intensiveres Erleben und werden besser darin nachhaltige Lösungen zu finden. Prinzipiell lässt sich diese Entwicklung auch in der Breite kaum verhindern. Große Beschleuniger sind die weltweite Vernetzung und die globalen Herausforderungen.

Für den einzelnen Menschen heißt diese Entwicklung aber auch sich mit vielen Themen auseinanderzusetzen, die man vorher unbewusst, aber aus gutem Grund, aus seinem Leben ausgeschlossen hat. Das Leben kann sich dadurch stark verändern, was viele Folgen und Folgeprobleme nach sich zieht. Zudem geht mit neuen Wahrnehmungen und damit Erkenntnissen gerne mal das bisherige Weltbild und damit die eigene Identität zu Bruch. Das ist emotional, mental und auch körperlich anstrengend und kann sehr herausfordernd sein. Bevor es besser wird, wird vieles erstmal schlechter (ähnlich zu Organisationen im Wandel). Eine vertrauensvolle und empathische Anlaufstelle, die als Tour-Leiter unterstützt und zu anderen Experten weiterverweisen kann, ist ein kostbares Gut.

Aber es ist auch ein extrem starker Antreiber, sich neue Kompetenzen anzueignen. Denn der Umgang mit den neuen Einsichten erfordert teilweise völlig neue Mittel, die in der Schule und anderen westlichen Ausbildungsrichtungen nicht in der Breite vermittelt werden. Man wird selbst zum eigenen Lehrer und sucht sich die Leute, die in den Feldern Psychologie, emotionale Intelligenz, Coaching und systemischen Ansätzen bereits sehr gut sind. Lernen, Selbstbeobachtung, Selbstreflexion werden zum Selbstzweck. Eine starke Motivation entsteht zu erfahren was übrig bleibt, wenn all die obigen Themen einmal verarbeitet sind.

Through learning we re-create ourselves. Through learning we become able to do something we were never able to do. 
-Peter Senge

Was habe ich von einer integralen Begleitung?

Der Zeitpunkt, ab dem ich mich entschlossen habe, mir selbst das Wort integral auf die Fahnen zu schreiben, bezieht sich auf den dritten Punkt, den ich anfangs erwähnte. Das sogenannte AQAL Modell.

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Mir fiel wiederholt auf, dass ich Probleme immer mehr aus den darin vorhandenen Sichtweisen betrachte und die 4 Felder mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten immer weniger von einander trennen kann. Allein die Reduzierung auf AQ ("alle Quadranten") stellt eine viel höhere Anzahl und Qualität an Ressourcen da, mit denen nun Probleme angegangen werden können.

Leicht habe ich mir die Entscheidung nicht gemacht, aber irgendwann dann doch selbst die Erlaubnis gegeben. Zurecht?

Integral zu denken und zu handeln bedeutet, aus allen Lehren, die für die Situation geeignetsten Ansätze auszuwählen und zur Anwendung zur bringen (oder zumindest vorzuschlagen).

"Das Wichtige am Integralen Ansatz ist, dass wir mit möglichst vielen Potenzialen in Berührung sein wollen, um alle Möglichkeiten für Problemlösungen, Wachsen und Transformation auszuschöpfen."
- Ken Wilber

Was unterscheidet also eine integrale Begleitung von anderen Schulen? Neben einem Undogmatismus ("aperspektivisch" bzw. "Allparteilichkeit") sehe ich im integralen Ansatz die Fülle und Bandbreite an Lösungsmöglichkeiten als wichtigen Faktor. Der Handlungsspielraum ist dadurch, dass nichts mehr ausgeschlossen wird, im Prinzip unendlich. Jede Idee und jeder Ansatz ist grundsätzlich willkommen, andere Experten ebenso. Solange sie als wirksam und passend gesehen werden.

Wenn eine Situation nicht gut durch die eigene Kompetenz abgedeckt werden kann, überlässt die integrale Begleitung gerne für den Kontext und die Situation der Kollegin oder dem Kollegen das Feld. Integrale Begleiter:innen fördern deshalb auch eine kompetenzbasierte Führung. Dies gilt natürlich auch dauerhaft, wenn sich die Erkenntnis einstellt, das man selbst nicht mehr die geeignetste Person für die vorliegenden Anliegen ist. Denn auch eine gewissen Demut vor der eigenen Unwissenheit und Inkompetenz gehört dazu.

Warum sind System- & Strukturaufstellungen in der integralen Szene so stark verbreitet?

Wenn man die Motivation hat, die Welt mit neuen Augen zu betrachten und sich intensiv inspirieren zu lassen, dann geht die Wahl möglicherweise hin zu "Aufstellungen". Gemeint sind Familienaufstellungen, aber für den beruflichen Kontext natürlich systemische bzw. integrale Team- & Organisationsaufstellungen. Sie werden häufig gerne zu Rate gezogen, weil sie

  • auf mehreren Quadranten gleichzeitig wirken,
  • tief zugrundeliegende, "systemische" Beziehungsmuster und Interdependenzen direkt aufzeigen,
  • eine intensive Wahrnehmungs- und Emotionsschule bieten, und
  • aufgrund obiger und weiterer Effekte zu ungeahnten, aber besonders wirksamen Einsichten und Lösungen führen.

Ich kenne keinen anderen Ansatz, der so effektiv und intensiv Herz, Verstand und Zusammenhänge schult und verbindet. Allein das kognitive "Drumherum"-Wissen der Aufstellungsschulen ist für private wie berufliche Zwecke Gold wert.

Und damit beende ich meinen kleinen, eingeschränkten Einblick in die integrale Welt mit dem Angebot einer 30-minütigen kostenlosen Einführung und Erstanalyse mit einer System- oder Strukturaufstellung zu einem für euch wichtigen Anliegen.

Schreibt mich an, wenn ihr Interesse daran habt, oder euch zu eurer oder meiner Entwicklung austauschen wollt.

Dr. med. Marcus Riedel

Kompetenz/Erfahrung/Ehrlichkeit aus psychodynamischer Einzel-/ Gruppenpsychotherapie, Gruppenanalyse, Supervision und Organisationsberatung für echte und nachhaltige Veränderung in Unternehmen.

2 Wochen

Roger Müller vielen Dank für die Mühe dieser Zusammenstellung von Denkkonzepten und Wahrnehmungsperspektiven. Ich glaube persönlich nicht an die vornehmlich systemische, bewusste Erfassbarkeit aller Impulse in uns, der Welt und zwischen uns in einem so komplexen Ich-Konzept, das eben vorrangig auf Denken beruht, wobei ich aus den Zeilen entnehme, dass Denken und Fühlen in Ken Wilbers Welt anders definiert werden, als ich es kenne. Dieses Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Sprach- und Bedeutungssemiosphären ist ja auch das Grundproblem aller Geisteswissenschaften, sind Begriffe doch nur innerhalb eines Konzeptes in der Bedeutung klar. Auch würde ich dem „Ich“ als Konzept dringend das „Selbst“ hinzufügen, was das Spezifische der Wahrnehmungsdeutung eines Individuums verstehbar macht. Auf gruppenanalytischen Ebene wird es noch komplizierter, weil es nicht nur ein Ich und ein Du gibt, sondern ein „Dazwischen“ und ein transpersonales, intersubjektives Netzwerk, in dem wir Knotenpunkte sind und in dem sich ein auf Beziehungsebene „aktives Ich“ sich entwickelnd bewegt (Translation, S.H. Foulkes). Letztlich ist es also eine konzeptionelle „Glaubensfrage“ aus Beobachtung und Wahrnehmungserfahrung, kein klares Wissen. 😊🙏

Dr. Elke Fein

Co-Founder, Managing Director Institute for integral Studies (IFIS), integral research & practice, expert and speaker on integral politics, stakeholder involvement, Collaboratory design & facilitation, Deep Democracy

1 Jahr
Simon Lerch

Transformative Veränderungsprozesse für Mensch & Organisation aus integraler und traumaintegrativer Werteperspektive anstossen und gestalten. ::🎤 Podcast: Wandelbar ::

2 Jahre

Ein schöner Einblick und eine Aufklärung zum Begriff „integral“. Spannend liest sich, weshalb dieser Ansatz Roger Müller überzeugt und nutzt.

Susanne Hofer

Mag. iur. Dr. iur. - Hofer GmbH wertschätzende Führung / appreciative holistic leadership

2 Jahre

Meine Wertschätzung für deinen Einblick lieber Roger - Oh, ja, integrale Achtsamkeit ist es wert geliebt zu werden, da ich dankbar und in Verbundenheit erkenne: "Integrale Brücken schlagen Wellen in Entwicklungsphasen jeder Art. Altruistische Kollaboration baut Brücken für (inneren) + (äußeren) Frieden." #integral #entwicklung #frieden

Stefan Müller 🌎

Systemische Beratung für unternehmerische Ökosysteme; Ich helfe Dir, Dein Unternehmen lebendiger zu machen.

2 Jahre

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