Julian Marx: "Kommt auf die EZB jetzt eine teure Quittung zu?"
Die geldpolitischen Stützungsmaßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben in vergangenen Krisen geholfen. Doch der Zahltag rückt näher.
Die Kaufprogramme der Notenbanken kannten lange nur eine Richtung – nach oben. Erst mit der außergewöhnlichen Inflationsentwicklung im vergangenen Jahr kam es zu einem abrupten Ende dieser ultraexpansiven Geldpolitik. Seit Juni 2022 lässt nun die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) ihre Wertpapierbestände wieder abschmelzen, auch die Europäische Zentralbank (EZB) will ab März diesen Jahres nur noch einen Teil der auslaufenden Wertpapiere reinvestieren. Dennoch schleppen die Notenbanken gigantische Wertpapierberge mit sich mit. Im Falle der Fed schlummerten Ende 2022 Wertpapiere mit einem Nominalwert von gut 8,1 Billionen US-Dollar in der Bilanz der Notenbank. Das Eurosystem hielt zuletzt zu geldpolitischen Zwecken gehaltene Wertpapiere mit einem Buchwert von knapp fünf Billionen Euro.
Das sind gigantische Summen. Inwiefern könnten sie zur Belastung werden? So ist der Marktwert von Anleihen mit den deutlich gestiegenen Renditen des vergangenen Jahres spürbar gesunken. Beispielsweise erlitten deutsche Bundesanleihen im vergangenen Jahr zweistellige Kursverluste. Kursverluste, die das Eurosystem noch nicht verbucht hat. Kommt auf die EZB jetzt eine teure Quittung zu?
Monopol der Notenbank
Würde das Eurosystem seine Wertpapiere zu Marktwerten bilanzieren und die im vergangenen Jahr erlittenen Kursverluste realisieren, müsste es wohl hunderte Milliarden Euro abschreiben. In jedem Fall wären es deutlich mehr als die 115 Milliarden Euro, die das Eurosystem zum Jahresende an Kapital und Rücklagen auswies. Somit hätte es also auf einen Schlag das gesamte Eigenkapital aufgebraucht. Mehr noch, die EZB und die nationalen Notenbanken hätten voraussichtlich ein deutlich negatives Eigenkapital.
Bei jedem Unternehmen in der freien Wirtschaft kann negatives Eigenkapital eine Insolvenz zur Folge haben. Doch Notenbanker müssen sich nicht beunruhigen. Zum einen verfügt das Eurosystem über „stille Reserven“. So schlagen allein Goldreserven im Wert von knapp 600 Milliarden Euro zu Buche. Und der massive Goldpreisanstieg der vergangenen Dekaden wurde ebenfalls nie im 115 Milliarden Euro schweren Eigenkapital des Eurosystems berücksichtigt, sondern findet sich einzig im „Ausgleichsposten für Neubewertung“ wieder. Insofern bestünde an dieser Stelle bereits ein ordentlicher Puffer für die jüngeren Kursverluste.
Noch relevanter ist die Tatsache, dass die EZB eigentlich gar keine Liquiditätsengpässe erleiden kann; da sie ihren Verpflichtungen selbst im Falle negativen Eigenkapitals nachkommen kann. Denn gemäß Artikel 128 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hat „die Europäische Zentralbank das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Euro-Banknoten innerhalb der Union zu genehmigen“. Die EZB verfügt also über ein Notenausgabemonopol. Sie kann damit jeder beliebigen Zahlungsverpflichtung nachkommen und muss keine Illiquidität fürchten. Erstrebenswert ist negatives Eigenkapital aus Sicht der Geldpolitik dennoch nicht. Besteht doch die Gefahr, dass eine „überschuldete“ Notenbank an Vertrauen einbüßen könnte.
Entfällt wichtige Geldspritze für Staaten?
Für die Eurostaaten hätte die Nachricht, dass die nationalen Notenbanken des Eurosystems mit negativem Eigenkapital arbeiten würden, auch unmittelbar negative Implikationen. Denn die (finanzielle) Unabhängigkeit der Geldpolitik verlangt nach Ansicht der EZB, dass das Eurosystem nur dann Gewinne abführen sollte, wenn keine zuvor aufgelaufenen Verluste bestehen und zudem „ausreichend“ Rücklagen gebildet wurden. Sollte das Eurosystem also mit negativem Eigenkapital arbeiten müssen, gingen einigen Eurostaaten wohl milliardenschwere Einnahmen verloren. So schüttete die Banca d’Italia zwischen 2018 und 2021 insgesamt 25 Milliarden Euro an den italienischen Staat aus. Der deutsche Bundeshaushalt ging 2020 und 2021 zwar leer aus. Aber auch er profitierte in diesem Jahrtausend von üppigen Gewinnabführungen der Bundesbank. Zwischen 2000 und 2019 flossen dem Bund knapp 73 Milliarden Euro an Bundesbankgewinnen zu.
Aber auch ohne diese jährliche Geldspritze blieben die Eurostaaten auf Jahre hinaus wesentliche Profiteure der früheren lockeren Geldpolitik. Denn die historisch abgeführten Notenbankgewinne sind nur ein kleiner Tropfen im Vergleich zu den geldpolitisch bedingten Zinsersparnissen der vergangenen und kommenden Jahre, wie ein Rechenbeispiel zeigt: Lag die Durchschnittsverzinsung der Euro-Staatsschulden im Jahr 2011 noch bei 3,4 Prozent, ist sie bis 2021 auf 1,5 Prozent gesunken. Im selben Zeitraum stieg die Schuldenquote der Euroländer von 87,6 auf 95,4 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts.
Somit trug die Geldpolitik erheblich zu Zinsersparnissen bei, die etwa in 2021 – verglichen mit 2011 – bei 1,9 Prozentpunkten lag. Bezogen auf die Gesamtsumme von 11.742 Milliarden Euro, die Ende 2021 an Euro-Staatsschulden ausstanden, hätten 1,9 Prozent höhere Durchschnittszinsen Mehrkosten von rund 223 Milliarden verursacht – und das in nur einem einzigen Jahr. Seit 2012 summieren sich die so gebildeten „Zinsersparnisse“ auf 1.136 Milliarden Euro (vgl. Grafik).
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Die Rechnung, bitte!
Die Eurostaaten dürften also sogar in einem Umfeld steigender Renditen noch viele Jahre Profiteure der vergangenen Geldpolitik bleiben. Eine Bundesanleihe, die beispielsweise 2052 ausläuft und jährliche Zinskosten von exakt 0,0 Prozent verursacht, wird auch den Nachfolgern des amtierenden Finanzministers Christian Lindner noch Freude bereiten.
Die Geldpolitik kann unterdessen ihren eingeschlagenen Weg der Inflationsbekämpfung ohne Rücksicht auf die erlittenen Kursverluste des vergangenen Jahres fortsetzen. Denn das Mandat der Notenbank liegt weder in der Gewinnmaximierung noch wäre die Handlungsfähigkeit der EZB von negativem Eigenkapital unmittelbar beeinträchtigt. Vielmehr sind die Kurseinbußen des vergangenen Jahres aus Sicht der Geldpolitik alternativlos. Bedeuten sie doch, dass die Notenbanker ihr Mandat der Preisstabilität endlich ernst nehmen – sogar auf Kosten der eigenen Bilanz. Deutlich teurer würde die Rechnung, wenn die EZB das Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit verspielt und die Inflation laufen ließe.
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