Komplexität – der Feind in meinem Unternehmen?
Komplexität scheint der neue Feind der Wirtschaft geworden zu sein. In der großen IBM CEO-Studie wurde Komplexität nicht nur einmal als Problem Nr. 1 herausgearbeitet. Und ich lese quasi in jedem Interview mit einem Unternehmenslenker Fragmente wie »…werden wir unsere Komplexität in den nächsten Jahren deutlich senken können…« oder »…haben wir einen Plan zur Komplexitäts-Beherrschung aufgestellt…« Warum das Unsinn ist, versuche ich mal wieder mit meiner Lieblingsanalogie zu erklären: Fußball!
Fußball eignet sich aus vielen Gründen für Analogien: die Spielregeln sind leicht zu verstehen – bis auf Abseits. Die moderne Berichterstattung erlaubt eine unglaubliche Übersicht über fast alle Facetten des Spiels. Und alle 2 Jahre – wenn unsere Nationalmannschaft kickt – sind fast alle Bundesbürger im kollektiven Fußballrausch. Ein hoch emotionales Thema also – dankbar für den Autor.
Und das Fußballspiel – nicht nur das Business drum herum – ist hochkomplex. Unvorhersehbar, voll von Überraschungen, immer subjektiv, zwar beeinflussbar aber nie kontrollierbar oder beherrschbar. Wo sonst kann man den Unterschied zwischen Wissen und Können so eindrucksvoll und unmittelbar erleben? Und so eignet sich dieser Rasenballsport vortrefflich, um über Strategien zur Komplexitätsbewältigung zu sprechen.
Fußball ist damit so ganz anders als eine Maschine. Letztere ist alleine mit ausreichendem Wissen beherrschbar, ihr Verhalten ist vorhersehbar und für den Experten frei von Überraschungen. Objektiv, eindeutig beschreibbar und voller Kausalitäten, also Wenn-Dann Beziehungen.
Nun machen Analogien ja nur Spaß und ergeben Sinn, wenn sie uns zum Denken anspornen. Daher möchte ich Sie auf eine kleine Expedition einladen – zu einer Denkexpedition quasi.
Kommen Sie mit?
Schön. Freut mich! Rücksäcke auf und los geht’s.
Ich hab es eingangs ja erwähnt: Komplexität ist derzeit in aller Munde. In nahezu jedem Wirtschaftsartikel finden wir diesen Begriff. Und nahezu immer wird der Wunsch geäußert, die Komplexität zu reduzieren. Übertragen wir das mal – rein hypothetisch bitte – mit folgender Frage auf die Kickerei: Welche grundsätzlichen Möglichkeiten gäbe es, die Komplexität eines Fußballspiels drastisch zu reduzieren? Oder anders ausgedrückt: wie könnte man ein Fußballspiel zu einem lediglich komplizierten Spiel machen? …schon ein paar Antworten parat? … Die Anzahl der Spieler reduzieren! Fehlanzeige. Es würde komplex bleiben – so komplex wie beispielsweise Beachvolleyball beim zwei gegen zwei. Das Spielfeld verkleinern! Bedaure, auch das würde kaum etwas ändern, wie uns gute Tischtennismatches eindrucksvoll zeigen. Spielzeit verkürzen! Ball vergrößern! Nein, alles keine wirksamen Optionen.
Die einzige Möglichkeit, aus einem komplexen Spiel ein kompliziertes Spiel zu machen: Regeln hinzufügen. Möglichst viele Regeln am besten. Wollen wir mal gemeinsam spinnen? Welche Regeln könnte man einer Mannschaft auferlegen? Ich mach mal ein paar Vorschläge und Sie ergänzen:
- Wir teilen das Spielfeld in Planquadrate auf, sagen wir mal 714 Stück á 10m² (die FIFA-Norm eines Spielfeldes beträgt 105m x 68m – wieder was gelernt).
- Jeder Spieler darf nur ganz bestimmte Planquadrate betreten. Bastian Schweinsteiger als alternder Mittelfeldspieler beispielsweise nur 8 Planquadrate rund um den Mittelkreis. Er ist ja nicht mehr der Schnellste.
- Wenn man den Ball von rechts angespielt bekommt, darf man – solange man im Ballbesitz ist – das links neben einem liegende Planquadrat betreten. Eine Ausnahme besteht, wenn der Ball vom Torwart kommt.
- Jeder Spieler muss den Ball mindestens 5 Sekunden behalten und darf in der Zeit das Planquadrat, in dem er den Ball erhalten hat, nicht verlassen.
- Der rechte Mittelfeldspieler darf den Ball nur zum Mittelstürmer oder zurück zum rechten Innenverteidiger passen. Passt er zu einem anderen Spieler, bekommt die gegnerische Mannschaft einen 5-Meter (aus 11 Metern schießt man zu häufig daneben).
- Jeder Torschuss sowie die Torschussrichtung muss beim Schiedsrichter angemeldet werden. Mindestens 5 Minuten vorher. Der Torwart muss seinerseits vor dem Schuss festlegen, in welche Richtung er sich schmeißen wird.
- Der am Spielfeldrand stehende Sportdirektor ist nicht nur für die Regeleinhaltung der Mannschaft verantwortlich, sondern er muss zudem alle fünf Minuten, während einer obligatorischen Auszeit, 2 zusätzliche Regeln bei seiner Mannschaft etablieren .
So langsam macht es Spaß, oder? Wir brauchen noch ca. 100 weitere Regeln und schon dürfte die Komplexität weitestgehend aus dem Spiel heraus sein – kaum noch Überraschungen, stark objektivierbar, gut zu beherrschen. Mit zusätzlichen 250 Regeln ließe sich das Spiel dann vielleicht sogar schon automatisieren.
Eine schräge Vorstellung, oder? Und klar ist: dieses langweilige Spiel will sicher keiner mehr sehen.
Aber jetzt wird es doch noch spannend: stellen wir uns nun vor, dass nach der Halbzeitpause (falls es die überhaupt noch geben sollte) die gegnerische Mannschaft beginnt, nach und nach die neuen Regeln wieder aufzulösen, ohne Ahndung des vormals Unparteiischen. Zuerst melden die Stürmer ihre Torschüsse nicht mehr an. Dann behalten die Spieler den Ball nicht mehr 5 Sekunden am Fuß, sondern passen sofort weiter. Und schließlich löst der Gegner den Zwang auf, sich innerhalb der Planquadrate zu bewegen. Was würde passieren?
Hier ist sicherlich einiges an Reaktionen vorstellbar. Wut, Gezeter und Beschimpfungen wären die ersten emotionalen Reaktionen. Dann würde der Sportdirektor vielleicht den Oberschiedsrichter anrufen. Und was würde auf dem Platz passieren, wie würde Herr Schweinsteiger darauf reagieren, dass sich der gegnerische Spieler plötzlich mit dem Ball am Fuß völlig frei um ihn herum bewegen kann?
Hier bin ich mir bei der Antwort recht sicher: er würde seinerseits beginnen, die Regeln zu missachten. Er würde bemerken, wann es für das Spiel und für das Ergebnis seiner Mannschaft wichtig wäre, kurzzeitig Regeln zu verletzen.Vielleicht würde er nur mal kurz die Grenzlinie ›seines‹ Planquadrates mit einem Fuß verlassen – allein schon aus dem Ehrgeiz heraus, selbst nicht als Verlierer dazustehen. Und womöglich würden es ihm andere Spieler nach und nach gleichtun. Was jetzt?
Darf das so sein? Wie würden Sie darauf reagieren? Wie reagiert denn unser fiktiver Sportdirekter auf die Situation? Wenn der Sportdirektor dem Glaubenssatz verfallen wäre, dass nur eine niedrige Komplexität zum Spielerfolg führen kann und er gedanklich nur über das Instrumentarium des konventionellen Managements verfügt, müsste er zunächst mit wertschätzenden Gesprächen, später mit professionell begleiteten Coachings und schließlich mit Sanktionen reagieren.
Ich meine damit nicht gleich den Aufbau eines stromführenden Zaunes um die Planquadratbereiche herum. Aber der Sportdirektor würde dann besagten Schweinsteiger – als Kapitän der Mannschaft – auffordern, in jeder Auszeit einen Bericht vorzulegen, wie häufig sich ein Spieler außerhalb seines Bereiches aufgehalten hat. Am besten mit einer Ampelgrafik dazu. Falls sich die Überschreitungen häufen, könnte der Kapitän auch für jeden Mannschaftsteil (Abwehr, Mittelfeld, Angriff) einen Gruppenleiter bestimmen, der die Regeleinhaltung direkt auf dem Platz kontrolliert. Oder es könnten individuelle Anreize geschaffen werden. Dazu würde der Sportdirektor im Vorfeld natürlich mit jedem Spieler ein individuelles Zielgespräch führen und den jeweiligen Beitrag zum Gesamtergebnis definieren…und so weiter. Ist klar, oder?
Glückwunsch, nun haben wir uns mit unserer Expedition schon ziemlich weit vorgekämpft. Aber wie finden wir jetzt wieder zurück? Vielleicht nimmt uns William Ross Ashby ein kurzes Stück an die Hand und zeigt uns einen Weg. Der Amerikaner Ashby war wohl einer der bedeutendsten Kybernetiker. Seine Bücher »Introduction to Cybernetics« (1956) und »Design for a brain« (1966) gelten als Schlüsselwerke zu den Wissenschaften von komplexen Systemen.
Ashby hat mit seinen Wissenschaftskollegen Phytagoras, Heisenberg oder Newton gemein, dass ein Satz, eine Relation bzw. ein Gesetz seinen Namen trägt. Ashbys Law of Requisite Variety lautet in seiner populistischsten Formulierung: »Only variety can destroy variety« – Komplexität kann wirksam nur mit Komplexität begegnet werden. Oder noch stärker zugespitzt: »In einer komplexen Welt gibt es nur eine erfolgsversprechende Antwort: selber komplexer werden.«
Nun gibt es für den Sportdirektor unserer Fußballmannschaft zwei Strategien, mit Ashbys Gesetz umzugehen. Strategie 1: Ignorieren bzw. heftigst leugnen. Das kann man übrigens auch mit dem Newtonschen Gesetz tun – nur die Folgen dürften schmerzhaft sein. Strategie 2: Regeln tatsächlich wieder drastisch reduzieren und damit die Komplexität erhöhen (Blutgrätschen müssten meines Erachtens weiterhin geahndet werden).
Oder noch besser: die Regeln weitestgehend durch Prinzipien ersetzen. Ein Prinzip für einen Angriffsspieler könnte z.B. heißen: »Der Stürmer ist immer auch der vorderste Abwehrspieler«. Damit kann ein intelligenter Spieler etwas anfangen (das Wort Intelligenz ist hier bitte nur auf das Spiel zu beziehen – nicht auf die Fähigkeit, nach Abpfiff sprachlich korrekte und inhaltlich gewichtige Interviews geben zu können). Das Prinzip gibt ihm Orientierung und lässt ihm eine immense Zahl von Handlungsoptionen offen. Außerdem beschränkt es das Zusammenspiel des Teams nicht, es sind also eine schier unendlich viele unterschiedliche Interaktionen zwischen den Spielern möglich. Und genau das fördert die Komplexität.
So. Danke Herr Ashby, ich glaube den Rest der Wegstrecke kann jeder alleine gehen.
Über den Autor:
Lars Vollmer ist Unternehmer und Mitbegründer von intrinsify.me, dem größten offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Der promovierte Ingenieur und Honorarprofessor ist Autor von Wirtschaftsbüchern, Redner auf internationalen Kongressen und Unternehmensveranstaltungen und lehrt an mehreren Universitäten und Instituten. Er spielt Jazzpiano, trinkt gerne guten Kaffee und lebt in Barcelona. Sein neuestes Buch »Zurück an die Arbeit – Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden« steht auf den Bestsellerlisten von Spiegel, Manager Magazin und Handelsblatt. Lars Vollmer twittert unter @larsvollmer
Retired Professor Industrial Automation and Founder smartfactory-KL
8 Jahrena ja, ist ja nett und lustig geschrieben. Nur leider hat das Beispiel wenig mit Komplexität zu tun. Ein Fussballspiel ist nicht komplex sondern einfach nur stark stochastisch. Komplexität bedeutet, dass wir es mit vielen Einflussvariablen zu tun haben die stark miteinander vernetzt sind und deren zeitverhalten stark nichtlinear ist. Außerdem gehört für den negativen Effekt immer auch die Intransparenz des betrachteten Systems für den handelnden Menschen mit dazu. Komplexität an sich ist kein Problem. Ein Airbus A380 ist sicher ein hochkomplexes technisches System und trotzdem fliegt er problemlos von A nach B und das mit weitgehend ausgeruhten Piloten. Die Komplexität wird erst dann zum Problem, wenn das technische System ein von den Regeln abweichendes Verhalten aufzeigt. Dann muss der Mensch plötzlich handeln, dazu die Systemfunktionalität durchdringen und dessen Fähigkeiten sind naturgegeben sehr begrenzt in der Verarbeitung von Menge, Vernetzung und Zeitverhalten von Informationen, und das erst recht unter Stressbedingungen. Momentan geben wir uns mal wieder große Mühe, das Modethema Industrie 4.0 nicht zur Vereinfachung von Produktionssytemen -also Komplexitätsreduzierung- zu nehmen sondern das Thema "aufzukomplexen". Die Visionen werden immer umfassender und weitreichender. Viele Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Diskussionen um die Zukunft der Produktion. Da klebt man einen Chip auf das erste "Blechle" eines A380 (z.B.) mit allen Produktionsinformationen darauf von den Nieten bis hin den Steuercomputern und dann sucht sich das Blechle selbständig die kostengünstigsten Lieferanten weltweit und kommt am Ende als fertiger A380 zur Kundenübergabe herangerollt. Den Menschen braucht es dann offenbar nur noch zum Händeschütteln und Sekt trinken. Wann werden wir Komplexität je richtig verstehen?
Sales Director DACH, Creactives | Associate Partner Concimus & scm-HUB.ai
8 JahreDie Analogie ist vorzüglich. Die Message natürlich ebenfalls. Regeln weitestgehend durch Prinzipien ersetzen ist der Königsweg - wenn es denn die Company Culture (u.a. "Trusted Employee") und die Skills der Mannschaft hergibt.
Kreativer, flexibler Gestalter | Assoziativer Denker & Netzwerker | Business Development | Vertrieb | Geschäftsfeldentwicklung | Projektleitung | Projektentwicklung | Produktentwicklung | Organisation und Management |
8 JahreIch frage mich nur, ob Mr Ashby mit variety wirklich Komplexität gemeint hat (entgegen dem Wörterbuch), oder schlicht und ergreifen nur Vielfalt ... Was meines Erachtens nicht ganz dasselbe ist :-)
Entwicklung und Konstruktion
8 JahreLars Vollmer, ich finde den Artikel sehr unterhaltsam und bedenkenswert. Wenn ich mich richtig an meine PM-Ausbildung erinnere, hatten wir da immer die netten 10er Kurven = 1000 Ideen -> 100 Konzepte -> 10 Projekte -> 1 Produkt (+/-). Ideen entstehen durch unterschiedlichste und sehr häufig unerwartete Einflüsse und Bedürfnisse. Das ist nicht kompliziert aber komplex und manchmal ziemlich anstrengend. Mit diesem Bild vor Augen kriege ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich lese, dass viele CEOs Angst vor Komplexität haben. Für mich gilt: Komplexität + Courage = Riesenchance Sonst fahren wir in 10 Jahren immer noch mit Benzin (oder gar nicht mehr).