Lasst uns streiten
Lasst uns streiten
Frei nach Voltaire:
Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.
Ich kann mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, dass diese Worte nicht mehr für so viele Menschen eine Bedeutung haben.
Was passiert, wenn wir unpopuläre Meinungen äußern? Was ist mit unserer Streitkultur geschehen?
Streiten hat ganz viel mit Sicherheit zu tun. Man muss sich in Sicherheit fühlen, um seine eigene Meinung zu äußern. Aber wie sehr wir uns in Sicherheit fühlen müssen, um uns aus dem Fenster zu lehnen, das ist bei jedem anders. Je mutiger ich bin und je wichtiger mir persönlich das Thema ist, je mehr ich meine Ansicht also wirklich vertreten will, desto eher werde ich offensiv meine Meinung äußern und mich der Gefahr aussetzen, kritisiert und verletzt zu werden.
Wenn man Debatten aller Art verfolgt, muss man leider sagen, dass hier wichtige Regeln, auf die ich unten eingehe, eher selten befolgt werden.
Aber jetzt: ›Butter bei die Fische‹. Bevor es ans Eingemachte geht, hier noch etwas Grundsätzliches, um mit Anstand zu streiten.
Ab wann ist eine Kommunikation mit unterschiedlichen Meinungen Streit?
Zur Einstimmung einige Definitionen, damit wir vom Gleichen reden:
Kommunikation: ist der Austausch von Informationen mit Hilfe von Sprache oder Zeichen zwischen einem Sender und einem oder mehreren Empfängern.
Dialog: ist ein Gespräch, das zwischen zwei oder mehr Menschen oder Interessengruppen geführt wird mit dem Zweck des Kennenlernens der gegenseitigen Standpunkte.
Streit: ist ein heftiges Sich-Auseinandersetzen mit einem persönlichen Gegner in oft erregten Erörterungen oder hitzigen Wortwechseln.
Von einem Konflikt spricht man dann, wenn ein Problem immer wiederkehrt.
Meist kommen erst im Streitfall die Emotionen oder das ›Temperament‹ zum Vorschein.
Bedingungen für einen gelungenen Streit
1. Anerkennung des anderen als gleichberechtigten Gesprächspartner Anerkennung von sich selbst als gleichberechtigtem Gesprächspartner (Selbstbewusstsein)
2. Zuhören ist wichtiger als Sprechen
3. Die Fähigkeit, die eigene Meinung infrage zu stellen
4. Tatsachen als dynamisch wahrnehmen
Wer streiten will, muss seine Meinung in Zweifel stellen und zulassen, dass seine Meinung in Zweifel gestellt wird.
Die Ich-hab-doch-Recht-Falle
Angelegt in der menschlichen Natur ist allerdings, dass wir nach Bestätigung unserer eigenen Meinung suchen. Wenn wir uns eine Meinung gebildet haben, finden wir sehr oft die Bestätigungen im Außen, dass wir recht haben. Woran liegt das? Wir legen den Fokus auf diese Information und unser Gehirn macht das, für was es gedacht ist: Es besorgt uns mehr von dem, was wir schon haben.
Anstatt uns jetzt bequem zurückzulehnen und zu sagen: Ich hab’s ja gewusst, sollten alle Alarmanlagen angehen und wir müssen aktiv dagegen arbeiten.
Nehmen Sie beispielsweise für 3 Tage aktiv die Gegenmeinung an und suchen nach Beweisen dafür! Es sind nur 3 Tage und man kann sein Gegenüber wesentlich besser verstehen und letztendlich auch ›besser‹ argumentieren, wenn man sich mit dessen Meinung auseinandergesetzt hat!
Es hilft außerdem, wenn man sich bewusst macht, dass man nie genug weiß, denn dann kann man die eigene Meinung leichter in Zweifel ziehen.
Warum halten wir Streit so schlecht aus
Es ist in uns allen angelegt, dass wir uns zugehörig fühlen wollen. Und tatsächlich war das eine sehr vernünftige Idee. Denn zu Zeiten, in denen wir als aus der Gemeinschaft Ausgestoßene dem sicheren Tod geweiht waren, war die Zugehörigkeit zu einer Sippe überlebensnotwendig. Und wer sich gegen die Meinung der Sippe stellte, lief Gefahr verstoßen zu werden. Diese Angst schlummert immer noch in uns, in dem einen mehr, in dem anderen weniger und jeder ›Streit‹ entfernt uns von der Sicherheit der Zugehörigkeit. Zumindest denkt das unser Unterbewusstsein.
Zusätzlich bekommen wir als Kinder gesagt: »Streitet Euch nicht« oder auch »Der Ton macht die Musik«. Was lernen wir daraus? Der (vehement) Streitende fällt unangenehm auf, also versuchen wir möglichst streitfrei durch unser Leben zu kommen. Um jeden Preis Streit zu vermeiden macht jedoch auf lange Sicht krank! Denn der Preis, den wir zahlen, ist das permanente Zurückstecken.
Ganz wichtig: Bitte brechen Sie keinen Streit vom Zaun, nur weil Sie sich gerade nicht gut fühlen. Hier ist es angebracht, erst selbst dem eigenen Unwohlsein auf den Grund zu gehen, bevor Sie Ihren Streitgegner bzw. dessen Ansichten dafür verantwortlich machen. Aber das wissen Sie ja. Ich dachte, ich erwähne es nur vollständigkeitshalber.
Die Herausforderung: Emotional streiten, ohne persönlich zu werden
Echter demokratischer Streit ist Arbeit! Ich begegne Zweifel und muss für meine Position werben. Ich muss überzeugen, den anderen in meine Gedankengänge mitnehmen. Ich muss Widerspruch aushalten, ohne mich als Mensch gekränkt zu fühlen und ohne andere zu kränken.
Eine gute Idee ist es, sich und auch den Gesprächspartner von seiner Meinung getrennt zu denken. Ich bin ich und das ist meine Meinung. Mein Gesprächspartner ist mein Gesprächspartner und dies ist seine Meinung! Klingt leicht und logisch und doch ist es ein Gedankengang, den Sie sich während des ganzen Streits immer wieder bewusst machen müssen.
Und um den Bogen zu schlagen: Das ist es, was ich am Anfang meinte. Wir sind nicht unsere Meinung, wir haben sie. Das gilt auch für alle anderen Menschen. Lasst uns das bei der Be- und Verurteilung anderer immer wieder in Betracht ziehen.
Fazit
Bitte lasst uns streiten. Geben Sie Ihren Mitmenschen die Ehre, sich wirklich mit deren Ansichten und Meinungen auseinanderzusetzen. Nehmen Sie für 3 Tage jeweils deren Position ein. Hören Sie intensiv zu. Folgen Sie den ›fremden Gedankengängen anstatt im Kopf Gegenpositionen zu entwickeln. Erweitern Sie Ihre eigene Gedankenwelt um die Gedanken eines jeden Streitpartners und freuen Sie sich mit mir auf eine spannende Zeit mit vielen neuen Erkenntnissen.