Leseprobe aus  »Die Beschwörungsformel«

Leseprobe aus »Die Beschwörungsformel«

Ein anspruchsvoller Fantasy- und Abenteuerroman

von Hildegard Grünthaler

bei dem auch Spannung und Humor nicht zu kurz kommen.

Für junge und jung gebliebene Leser ab ca. 9 Jahren

Ein echtes All-Age-Buch

E-Book: € 3,99

ASIN: B00YAOHVTA

ISBN: 978-3-7427-8066-9

Taschenbuch, € 11,99 - Online und im Buchhandel

ISBN: 978-3745090260

328 Seiten

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Rezensionen...

Zum Erstaunen Aller waren sie in der letzten Zeit auffallend zahm gewesen. In der Schule wunderten sich die Lehrer über den plötzlichen Wandel zum Guten und die von ihnen getriezten Mitschüler atmeten auf. Ihre Eltern behaupteten gar, dass sie doch schon immer gewusst hätten, dass ihre Sprösslinge liebe, brave Jungens wären. Die Fünf mieden es, mit den Mofas zu fahren, sie mieden den Wald und ganz besonders mieden sie die Sandgrube. Aufmerksamen Beobachtern wäre vielleicht noch aufgefallen, dass die Fünf die eigenartige Angewohnheit entwickelt hatten, ständig ängstlich nach oben zu sehen. Es schien, als ob sie dort oben eine unsichtbare Gefahr wähnten. Aber die Gefahr, die sie dort oben vermuteten, verblasste mit der Zeit, und manchmal kam es Ihnen so vor, als hätten Sie alles nur geträumt. Sie hatten nie über das schreckliche Ereignis in der Sandgrube gesprochen – auch nicht untereinander. Aber langsam wurde es wirklich zu fad, immer so mustergültig brav zu sein. Vielleicht würden sie eines Tages sogar wieder mutig genug sein, mit ihren Mofas knatternd und röhrend durch die Gegend zu brechen. Doch vorerst hatten sie sich zu einer Busfahrt in die Innenstadt verabredet. Zwar hatte es keiner ausgesprochen, aber alle dachten dasselbe - es war an der Zeit, mal wieder ein wenig „Rabatz“ zu machen.

Anna Kuschinke saß schon im Bus, als die Fünf zustiegen. Augenblicklich tat es ihr leid, dass sie sich nicht gleich einen Platz in der Nähe des Fahrers gesucht hatte. Nun saß sie ganz allein im hinteren Teil des Busses. Neben ihr und ihr gegenüber waren alle Plätze unbesetzt. Als Orca mit breitem Grinsen auf sie zusteuerte, fühlte sie, wie Panik in ihr aufstieg. Er setzte sich ihr gegenüber und legte die Füße auf den Sitzplatz neben ihr. Spider, dessen lange, dürre Spinnenarme und Beine ihm seinen Spitznamen eingebracht hatten, tat es ihm gleich. Die anderen drei ließen sich in die Sitzbank hinter ihr fallen. Anna Kuschinke nahm all ihren Mut zusammen und belehrte Orca: „Man legt nicht seine Füße mit den schmutzigen Schuhen auf den Sitz!“

„Aber Orca, deine Schuhe sind wirklich schmutzig!“, äffte Spider. „Das geht natürlich nicht, da muss man was machen!“ Grinsend zog er der alten Frau den Seidenschal vom Hals, reichte ihn Orca, der demonstrativ auf seine Schuhe spuckte, und sie danach mit dem Seidenschal putzte. Dann gab er das Tuch an Spider weiter, der ebenfalls seine Schuhe damit polierte, bevor er es seinem Opfer wieder um den Hals hängte.

„He, sagt mal“, meldete sich jetzt Django zu Wort, „ist das nicht die dusselige Oma von Stefan?“

„Stefan? Von welchem Stefan?“, fragte Locke, dem die Entwicklung der Dinge nicht so recht behagte.

„Na, von Stefan Kuschinke, dem Milchbubi aus der Sechsten, der in der Pause stets mit diesem Philipp zusammenhängt!“, erklärte Django.

„Ach ja, der Stefan! Ja, ich hab auch schon gehört, dass seine Oma ziemlich verdreht sein soll“, bestätigte Spider.

Frau Kuschinke umklammerte krampfhaft Handtasche und Gehstock und bemühte sich, ihre Angst nicht zu zeigen.

„Nächste Station: Gabelsberger Straße!“, tönte die Stimme des Busfahrers rauschend und kratzend aus dem Lautsprecher. Am liebsten wäre sie jetzt einfach ausgestiegen, aber dazu hätte sie den Signalknopf drücken müssen, der ein Stück vor ihr in Stehhöhe an einer Haltestange angebracht war, was aber nicht ging, weil sie zwischen den ausgestreckten Beinen von Orca und Spider eingeklemmt saß. Weil niemand sonst aussteigen wollte und an der Haltestelle keine Wartenden standen, fuhr der Bus weiter. Spider grinste, lümmelte sich in den Sitz und spuckte in hohem Bogen seinen Kaugummi in den Mittelgang.

„Das ist ungehörig!“, entrüstete sich Frau Kuschinke trotz ihrer Angst.

„Aber Spider!“, spöttelte Spock. „Da hat sie wirklich recht! Man spuckt keine angekauten Kaugummis auf den Boden!“ Er bückte sich, hob den Kaufgummi auf und pappte ihn der Frau ins Haar. „Da ist er viel besser aufgehoben!“

Andreas, alias „Locke“ beschlich ein mulmiges Gefühl. Er konnte das, was seine Kumpane mit Stefans Großmutter trieben, nicht spaßig finden. Am liebsten hätte er jetzt gesagt: ’Hört auf und lasst die arme Frau in Ruhe!’, aber das getraute er sich dann doch nicht. Er hatte Angst, als Spielverderber dazustehen und wieder ohne Freunde zu sein. Als er nach dem Umzug an die neue Schule gekommen war, hatte er seine alten Klassenkameraden, die er zum Teil schon seit dem Kindergarten kannte, schmerzlich vermisst. In der neuen Klasse hatte er zu Anfang keinen Anschluss gefunden. Als Spider und seine Black Devils ihn als Fünften in ihre Mofagang aufnehmen wollten und ihm den Spitznamen „Locke“ verpassten, wegen seines dunklen Wuschelkopfs, war er mächtig stolz darauf gewesen. Er hatte die Vier unwahrscheinlich „cool“ gefunden, und sich selbst mächtig stark gefühlt, denn die Gang war bei allen Schülern gefürchtet. Dass seine neuen Freunde dann doch nicht ganz so cool, sondern ausgesprochen feige waren, hatte er erst in der Sandgrube gemerkt. Er hatte nicht vergessen, dass Spider einfach verduften wollte, als ihn der schreckliche Rauchriese am Kragen gepackt in die Höhe hielt. Anfangs hatte er versucht, sich einzureden, dass der Nachmittag in der Sandgrube nur ein böser Traum gewesen war. Doch im Grunde wusste er, dass er alles wirklich genau so erlebt hatte. Noch immer hatte er Angst, dass plötzlich wieder irgendwo hoch oben ein Riese aus einer Rauchwolke auftauchen könnte, ihn am Kragen packen und hochheben würde … Unwillkürlich sah er nach oben und suchte die Decke des Busses nach Anzeichen von Rauch ab.

„Nächste Station: Einkaufszentrum!“, kratzte es aus dem Lautsprecher.

Als der Bus hielt, verkündete Anna Kuschinke mutig: „Ich muss hier aussteigen!“, und stand auf. Auf ihren Gehstock gestützt, versuchte sie, Spiders Beine wegzuschieben.

„Nee Oma, wir wollten doch alle zusammen zu Luigis Eisdiele in der Fußgängerzone!“ Orca drückte sie kräftig auf den Sitz zurück. „Du hast doch jedem von uns einen großen Eisbecher versprochen. Hast du das etwa schon wieder vergessen?“

Oma Kuschinke getraute sich nicht, zu widersprechen, und setzte sich wieder hin. Die Leute vorne im Bus stiegen aus. Drei ältere Frauen stiegen am hinteren Eingang zu, sahen Spider und seine Bande, und gingen wortlos nach vorne durch. Spider beobachtete argwöhnisch Locke, der schon wieder anfing, ängstlich nach oben und aus dem Fenster zu sehen. Auch Django hatte er schon damit angesteckt. Das nervte ihn, wo diese Busfahrt doch gerade anfing, richtig Spaß zu machen. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut amüsiert. Und überhaupt - es war ziemlich blöd, dass er sich wochenlang so eingeschüchtert gefühlt hatte. Wahrscheinlich war die ganze Sache damals doch nur eine Folge des Alkohols gewesen. Er hatte im Internet gelesen, dass manche Menschen im Alkoholdelirium weiße Mäuse sähen - oder rosa Elefanten und blaue Hunde. Warum sollte er nach der geklauten Flasche Cognac nicht einen Riesen aus Rauch gesehen haben? Die anderen hatten ja nie erwähnt, dass sie dieses Rauchmonster auch gesehen hätten. Logisch, die hatten ja auch nicht so viel von dem Cognac getrunken.

„Nächste Haltestelle: Fußgängerzone!“, krächzte der Lautsprecher.

Sie nahmen ihr Opfer in die Mitte. Für einen oberflächlichen Beobachter mochte es aussehen, als hülfen freundliche Jugendliche einer alten Dame aus dem Bus und über die Straße. Anna Kuschinke sah sich Hilfe suchend um - sollte sie ganz einfach laut schreien? Die Menschen hasteten so achtlos vorüber, dass sie sich nicht viel davon versprach. Vielleicht half man ihr in der Eisdiele. Oder auch nicht – vielleicht holte der Besitzer wütend die Polizei, wenn er feststellte, dass er um sein Geld geprellt wurde. Die paar Euro in ihrem Geldbeutel reichten nämlich keinesfalls für fünf Eisbecher.

Orca und Django hatten ihr Opfer rechts und links untergehakt. Locke hielt ein wenig Abstand. Verstohlen blickte er immer wieder nach oben.

„Es wird ganz bestimmt nicht regnen; das dort oben sind nur harmlose Schönwetterwolken!“ Spider gab sich witzig, erreichte damit aber nur, dass nun auch die anderen ständig in den Himmel sahen.

„Und was ist mit der großen Rauchwolke dort oben?“ Django war plötzlich blass geworden.

„Was wird das schon sein?“, spöttelte Spider, ohne hinzusehen. „Vermutlich Rauch aus einem Schornstein!“

„Schornstein? Das ist der Turm der alten Pfarrkirche!“, flüsterte Spock mit tonloser Stimme.

Nun sah auch Spider nach oben – genau in dem Moment, als sich der Rauch etwas lichtete und eine riesige Gestalt erkennen ließ. Der großtuerische Spider wurde mit einem Mal schreckensbleich. „Das - das ist er!“, stotterte er.

„Der Rauchgeist!“, stieß Orca entsetzt hervor und ließ vor Schreck Oma Kuschinke los.

Nun sah auch die alte Frau Kuschinke nach oben und erkannte den dunkelhäutigen Riesen, der nur noch halb von der Rauchwolke bedeckt war. „Der sieht ja aus wie der seltsame Fremde aus dem Bus?“, wunderte sie sich. „Ja, natürlich. Ich erkenne sein Gesicht und seinen Pferdeschwanz. Nur dass er jetzt nicht so seltsam zusammengewürfelte Kleider trägt, sondern einen roten Lendenschurz. Der kam mir doch gleich so merkwürdig vor!“

Zusammen mit ihren Peinigern, die in eine seltsame Schreckensstarre verfallen waren, beobachtete sie das seltsame Phänomen hoch über ihren Köpfen.

„Oh nein, das ist ja furchtbar!“, hörte sie plötzlich Locke neben sich stöhnen. Das löste die Schreckensstarre der Fünf und im nächsten Augenblick waren sie davongerannt und in einem der angrenzenden Läden verschwunden. Anna Kuschinke stand, gestützt auf ihren Gehstock, und beobachtete in einer eigentümlichen Mischung aus Furcht und Faszination, wie die Riesengestalt sich wieder in dunklen Rauch auflöste und davonschwebte.

***

Er konnte nicht sehen, wo er war, denn um ihn war nur dichter, dunkler, grauer Rauch; aber er spürte, dass er durch die Luft flog. Nein, er flog nicht wirklich – er wurde durch die Luft getragen, - von der Riesenfaust des Dschinns am Kragen gepackt und geschüttelt wie die Beute eines Hundes. Er hörte, wie die Nähte seiner Jacke zu reißen begannen – gleich würde er irgendwo in die Tiefe stürzen. War das ein Albtraum? Oder war er über einem Horrorfilm eingeschlafen? Nein, das Grauen war reale Wirklichkeit! Tief unter sich konnte er Verkehrsgeräusche hören, das Hupen des Stadtbusses, das Knattern eines Mopeds. Plötzlich begann sich der Rauch zu lichten und vor ihm tauchte – so unwirklich wie in einem Fantasy-Film - ein riesiger, goldener Hahn auf. Es dauerte etwas, bis er begriff, dass dieser goldene Hahn ein Wetterhahn war, denn plötzlich sah er unter sich das mit Grünspan bedeckte Kupferdach der dazugehörigen Kirchturmspitze. Im nächsten Moment hatte er auch begriffen, was der Dschinn mit ihm vorhatte.

***

Hauptwachtmeister Sanewski tippte verdrossen an einem Bericht. Den ganzen Tag schon hatte er nichts als Stress gehabt. Und dabei hieß es immer, dies hier wäre eine ruhige, beschauliche Kleinstadt. Von wegen! Zuerst hatte ein Jugendlicher versucht, in einer Boutique ein paar teure Designer-Jeans zu klauen, dann hatte ein Mopedfahrer auf dem Marktplatz einen Obst- und Gemüsestand umgenietet, und in einem Lokal in der Fußgängerzone hatte am helllichten Tag ein Betrunkener randaliert. Und nun sah er durchs Fenster, dass die senile Alte, die in seiner Nachbarschaft wohnte, geradewegs auf die Wache zusteuerte. „Die hat mir noch gefehlt“, murmelte er grantig vor sich hin. „Aber vielleicht geht sie ja vorbei und will nur nebenan in den Drogeriemarkt!“ Dummerweise stand sie gleich darauf in der Tür der Polizeiwache.

„Na, Frau Kuschinke, haben wir uns wieder mal verlaufen und wollen im Streifenwagen nachhause gefahren werden?“, begrüßte er die Besucherin sarkastisch.

„Nein, ich weiß genau, wo ich bin“, entgegnete die alte Dame ungewohnt energisch. Wissen Sie, damals hatte ich nur vergessen, meine Pillen zu schlucken, und hatte Probleme mit dem Kreislauf. Aber jetzt bin ich wieder topfit!“ Zur Bekräftigung ihrer Worte klopfte sie ein paar Mal fest mit ihrem Gehstock auf den Boden.

„Aha, und was führt sie dann auf die Wache? Haben Sie etwas verloren? Oder wollen Sie eine Anzeige machen?“

„Anzeige? Nein, nicht direkt. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass auf der Kirchturmspitze ein Mann sitzt!“

Natürlich, er hatte doch gewusst, dass die Alte nicht ganz richtig im Kopf war! „Auf der Kirchturmspitze, sagen Sie. Aha. Und auf welcher Kirchturmspitze?“

„Auf der Kirchturmspitze der alten Pfarrkirche!“

Hauptwachtmeister Sanewski verdrehte entnervt die Augen. „Und was macht er da oben?“

„Er hält sich am Wetterhahn fest!“, erklärte Oma Kuschinke.

Leider konnte man vom Fenster der Wache die Pfarrkirche nicht sehen, sonst hätte er der Alten gleich hier vor Ort beweisen können, dass sie mal wieder Hirngespinste hatte. Er hatte jetzt aber keine Zeit, mit ihr bis zur Fußgängerzone zu marschieren, und Wachtmeister Schrenk war auf Streife unterwegs.

„Frau Kuschinke, der Turm der alten Pfarrkirche ist abgeschlossen. Da kommt niemand rein. Außerdem könnte man durch die engen Luken im Glockenraum nicht nach außen gelangen und über den Dachvorsprung käme auch niemand nach oben. Von außen kommt man ohne Gerüst auch nicht bis auf die Kirchturmspitze, und zurzeit steht dort kein Gerüst!“ Hauptwachtmeister Sanewski hoffte, dass Frau Kuschinke das kapiert hatte, und wandte sich wieder dem Computer mit dem lästigen Bericht zu. Dummerweise erwies sich seine Besucherin als noch lästiger.

„Trotzdem sitzt da oben einer!“, erwiderte sie trotzig.

„Und wie soll er da raufgekommen sein?“

„Es war dieser seltsame Fremde, den ich neulich im Stadtbus getroffen habe!“

„Ein Fremder vom Stadtbus? Der sitzt jetzt auf dem Kirchturm?“

„Nein, den auf dem Kirchturm kenne ich nicht“, berichtigte Oma Kuschinke und fand, dass dieser Polizist reichlich schwer von Begriff war. „Der Fremde aus dem Stadtbus hat ihn da rauf gebracht!“

„Tatsächlich!“ Otmar Sanewski überlegte, ob er Frau Kuschinkes Sohn oder Schwiegertochter anrufen oder besser gleich den Notarzt und die Sanitäter benachrichtigen sollte, denn die alte Frau war ganz offensichtlich total verdreht.

„Ja, er kam dort oben aus einer Rauchwolke heraus. Riesig war der, das kann ich Ihnen sagen. Aber ich habe ihn trotzdem gleich wiedererkannt, obwohl er nur so ein rotes Ding anhatte. Ich glaube, das nennt man einen Lendenschurz.“

„Ein Riese in einem roten Lendenschurz, der aus einer Rauchwolke kam, und den Sie vorher schon mal im Bus getroffen haben – wie interessant!“, spöttelte der Hauptwachtmeister und dachte bei sich: „Ich glaube, ich lasse die Alte am besten gleich in die Klapsmühle einweisen!“

„Im Bus hatte er natürlich keinen Lendenschurz an. Da trug er zuerst lauter Sachen, die nicht zusammengehörten. Aber nachdem ich ihm das erklärt hatte, hatte er plötzlich den gleichen grauen Anzug an wie der Mann mit der Zeitung. Und hinterher war mein Geldbeutel voller 5-Euro-Scheine!“ Als Frau Kuschinke die belustigte Miene des Beamten sah, fügte sie hinzu: „Die Jungs aus dem Bus haben ihn auch gesehen!“

„Welche Jungs?“

„Die fünf Flegel, die in Stefans Schule gehen. Sie haben mich im Bus drangsaliert, haben sich mit meinem Seidenschal die Schuhe geputzt und mir Kaugummi ins Haar gepappt. Und dann wollten sie, dass ich mit ihnen bis zur Fußgängerzone fahre und jedem einen großen Eisbecher kaufe. Aber so viel Geld hätte ich ja gar nicht bei mir!“

Der Hauptwachtmeister stand auf und beugte sich zu Frau Kuschinke vor. Ihr Seidenschal war verschmutzt und in ihrem Haar pappte tatsächlich ein Kaugummi.

„Auf jeden Fall“, erzählte Frau Kuschinke weiter, „sind die Fünf ganz furchtbar erschrocken. ‚Das ist er, der Rauchgeist!’, haben sie gerufen, und dann sind sie davongerannt.“

„Wenn ich die Alte in die psychiatrische Abteilung einweisen lasse, halse ich mir eine Menge Scherereien und Papierkram auf. Dann kann ich wieder nicht rechtzeitig Feierabend machen“, überlegte der Hauptwachtmeister. „Ich muss mir eine andere Strategie ausdenken. Am besten wird sein, ich versuche, die verrückte alte Schachtel ganz einfach loszuwerden.“ Betont freundlich sagte er zu ihr: „Frau Kuschinke, haben Sie vielleicht wieder mal vergessen, Ihre Pillen zu schlucken?“

„Oh nein, ich brauche keine Pillen!“, protestierte Oma Kuschinke. Hauptwachtmeister Sanewski nahm ihr jedoch die Handtasche ab und leerte den Inhalt auf seinen Schreibtisch. Zwischen Plastiktüten, einem Kamm, dem Hausschlüssel und der Geldbörse fand er eine angebrochene Tablettenschachtel. Er wusste zwar nicht, wofür, beziehungsweise wogegen die Tabletten waren, aber handschriftlich stand auf der Packung: „3 x 1 täglich“. „Die haben Sie heute Mittag bestimmt vergessen!“, sagte er in vorwurfsvollem Ton, goss Mineralwasser in ein Glas, drückte eine Pille aus der Blisterpackung und steckte sie der alten Frau in den Mund. „So, und nun gehen Sie schön zur Bushaltestelle und fahren nachhause!“, mahnte er.

„Nein, ich gehe jetzt in Luigis Eisdiele und gönne mir selbst einen großen Eisbecher!“, erklärte Oma Kuschinke trotzig. „Und Sie sollten zusehen, dass Sie den armen Mann da draußen vom Kirchturm herunterholen!“

„Aber natürlich Frau Kuschinke, das werde ich machen!“, versprach der Polizist und wandte sich aufatmend dem Computer und der Fertigstellung seines Berichtes zu.

***

Viermal schlug der Schwengel mit lautem Dröhnen gegen die Glocken und kündete damit die volle Stunde an. Viermal erzitterte das Gebälk unter ihm so stark, dass sein ganzer Körper vibrierte und bebte. Dann setzte das tiefe Geläut der größeren Glocke ein, um die dritte Nachmittagsstunde anzuzeigen, und das Dröhnen und Zittern wurde noch schlimmer. „Neiiin! Aufhööören!“, schrie er aus Leibeskräften, was natürlich sinnlos war, denn hier oben hörte ihn ohnehin niemand. „Hilfe, ich werde taub!“, schluchzte Dr. Alexander Gnoche. Er hätte sich die Ohren zuhalten müssen, aber er benötigte beide Arme und seine ganze Kraft, um sich am Wetterhahn festzuklammern, während er die Beine um die Kirchturmspitze geschlungen hatte. Fast eine halbe Stunde saß er nun schon hier oben in dieser misslichen Lage. Das grüne Kupferdach war von der Sonne aufgeheizt und höllisch heiß, die Beine schmerzten und waren längst eingeschlafen. Seine Arme und Hände waren so verkrampft, dass er sich nicht mehr lang würde festhalten können. Er wusste nicht, wie hoch der Kirchturm war, auf dem er saß, denn er getraute sich nicht, nach unten zu sehen. Aber im Grunde war das auch egal. Hoch genug, um ihm bei einem Sturz sämtliche Knochen zu zerschmettern, war er allemal.

„Hilfe, Hiiilfe!“, rief er wieder, aber seine Rufe gingen im allgemeinen Trubel unter. Irgendjemand musste doch endlich einmal nach oben sehen und ihn bemerken!

„Torsten“, dachte er, „Torsten muss mir helfen. Vielleicht ist es ihm gelungen, unbemerkt aus dem Haus der Baumanns zu entkommen.“ Wo hatte er sein Handy? In der Jackentasche? In der Hosentasche? Konnte er es wagen, eine Hand vom Wetterhahn zu lösen, um danach zu suchen? Ihm blieb gar keine andere Wahl. Er schlang den linken Arm noch fester um den Wetterhahn und begann mit der rechten Hand nach dem Handy zu tasten. Vorsichtig griff er nach unten, um an die Hosentasche zu gelangen. Da fühlte er - ein Seil! Ein Seil? Ja, um seine Taille war mehrfach ein Seil geschlungen, und erst jetzt sah er, dass es am Fuß des Wetterhahns gesichert war. Erleichtert atmete er auf. Er konnte zumindest nicht abstürzen, wenn ihn seine Kräfte verließen, auch wenn er dann in einer ziemlich misslichen Lage am heißen Dach des Kirchturms festhängen würde. Gnoche tastete weiter, bis er etwas Hartes in der rechten Brusttasche seiner Jacke spürte. Das Handy! Jetzt musste er sich nur noch mit dem rechten Arm festklammern, damit er mit der linken Hand in die rechte Brusttasche fassen konnte. Aber er durfte sich nicht zu fest klammern, sonst käme er nicht ans Handy in der Tasche. Seine Finger zitterten, als er das kleine Mobiltelefon zu fassen bekam und langsam aus der Jacke zog. Geschafft! Nun musste er erst einmal ausschnaufen und sich mit beiden Armen festhalten, weil ihn langsam die Kräfte verließen. Schwer atmend schlang er wieder beide Arme um die Sockelstange des Wetterhahnes, das Handy krampfhaft in der Linken haltend. Er musste die Tastensperre lösen! Warum nur war er mit den Fingern der linken Hand so ungeschickt! Und dann musste er Torstens Nummer finden. Verzweifelt versuchte Alexander, seinen Atem zu beruhigen. Obwohl sich seine Arme und Hände anfühlten, als marschierte ein mit spitzen Nadeln bewaffnetes Heer Ameisen darauf herum, gelang es ihm schließlich doch, die Verbindung zu Torstens Nummer herzustellen. „Nicht die Mailbox! Bitte nicht die Mailbox!“, betete er, als quälend lang das Rufzeichen tönte. „Lamberth“, hörte er schließlich ganz schwach, als sich Torsten meldete. „Torsten hilf mir!“, schrie er verzweifelt. Aber er wusste, dass er das Handy näher an Mund und Ohr führen musste, wenn der Anruf Sinn machen und Torsten ihn verstehen sollte. Allerdings musste er dazu den verkrampften, gefühllos gewordenen linken Arm wieder vom Wetterhahn lösen … Erst als er das Klappern hörte, mit dem das Handy über das Kupferdach kollerte, wurde ihm bewusst, dass es ihm aus der tauben, gefühllosen Hand gerutscht war. Scheppernd fiel es vom Turm auf das Dach der Kirche, rutschte weiter und weiter und blieb schließlich in der Dachrinne liegen.

***

Studienrat Robert Bohne war in Eile. Zu Hause auf dem Schreibtisch wartete ein Pack Schulaufgaben auf die Korrektur. Vorher musste er noch einen Anzug aus der Reinigung holen und in den Supermarkt wollte er auch noch. Er sah auf die Armbanduhr: Zwei Uhr? Das konnte nicht sein. Verflixt, das blöde Ding war stehen geblieben! Er hatte vergessen, rechtzeitig die Batterie zu erneuern. Wie spät mochte es sein? Mechanisch tastete er in seiner Jackentasche nach dem Handy - aber das lag wieder mal im Auto. „Blödes Ding“, murmelte er, „immer wenn man es braucht, liegt es irgendwo anders!“ Ein Glück, dass man die Kirchturmuhr nicht einfach verlegen oder vergessen konnte. Er sah hinauf zum Turm – nein - das, was er dort sah, war gar nicht möglich! Ungläubig rieb er sich die Augen. „Ja spinne ich denn?“, fragte er sich verwundert, fand dann aber, dass er durchaus normal und bei Sinnen wäre und unbedingt etwas unternehmen müsse.

Hauptwachtmeister Sanewski hatte seinen Bericht endlich fertiggetippt und ausgedruckt. Gleich würde ihn sein Kollege ablösen und dann war endlich Feierabend! Er saß am Schreibtisch und notierte sich schnell noch ein paar Dinge, die er anschließend im Supermarkt besorgen musste, als ein aufgeregter Studienrat Bohne in die Wache stürmte. „Auf der Kirchturmspitze der alten Pfarrkirche sitzt ein Mann!“, stieß er atemlos hervor.

„Auf - auf der Kirchturmspitze?“, stotterte der Wachtmeister. „Was macht der da?“

„Ja was weiß ich? Er hält sich am Wetterhahn fest!“ Hauptwachtmeister Sanewski fiel der Kugelschreiber aus der Hand.

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