Lob der Zettelkasten-Kombinatorik
Mit seiner Emeritierung 1985 wurde der Philosoph Hans Blumenberg, der schon länger einen ungewöhnlichen Lebensrhythmus pflegte, endgültig nur noch Wort. In seiner Zeit als Professor, letzte Station war die Uni Münster, zog er sich am späten Nachmittag in sein Arbeitszimmer zurück, las, schrieb und diktierte die Nacht hindurch bis in den frühen Morgen, schlief bis mittags und gab eine Vorlesung.
Zudem ist die Zettelkasten-Verwandtschaft zum Soziologen Niklas Luhmann bemerkenswert. Um 1941 hatte er damit begonnen. Im Lauf von 50 Jahren wuchsen sich die Zettel zu einem gigantischen Kombinationslabyrinth mit mehr als 30.000 Funden, Notizen, Überlegungen und Reflexionsinseln aus. Ausuferndes, stolz Exzentrisches miteinander verbindendes Zitieren wurde ihm oft vorgehalten. Den Vorwurf parierte Blumenberg indirekt. Was sei die Gegenwart? Eine Zeit der Verachtung von Gelehrsamkeit. Und Bildung? „Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.“ Ungeschichtlichkeit, so Blumenbergs wie so häufig stilistisch brillante Wortfindung, ist „eine opportunistische Marscherleichterung mit verhängnisvollen Folgen.“
Blumenberg las übrigens intensiv den schon legendären Aufsatz “Kommunikation mit Zettelkästen” von Luhmann. Die Unterstreichungen nahm er mit Stift und Lineal vor. Letzteres passt nicht zum Stil von Sohn@Sohn - da dominiert eher die Improvisationskunst des Augenblicks. Blumenberg markiert Gemeinsamkeiten und Differenzen. Luhmann benutzte normales Papier und keine Karteikarten, wie Blumenberg. Zudem verzichtete er auf eine Sachordnung zugunsten einer Stellordnung. Übereinstimmungen sieht Blumenberg bei der Vorgehensweise, Heterogenes zueinander in Beziehung zu setzen oder den Zufall bei der Arbeit mit dem Zettelkasten zu befördern. Der Innovationseffekt eines Zettelkastens beruhe auf dessen kombinatorischen Möglichkeiten.
Im Akt des Zitierens vollzieht sich sich bei Blumenberg eine stufenweise Aneignung der Lesefrüchte. Er selektiert im gelesenen Buch Textteile durch Unterstreichung. Der Übergang zur Karteikarte folgt dann den Prinzipien einer analytischen Lektüre. Nicht der Gesamtsinn des Werkes ist entscheidend, sondern verschiedene Gesichtspunkte, die für Blumenberg relevant waren. In einem zweiten Schritt folgt gar die Herauslösung aus dem Textzusammenhang. Es findet quasi eine Dekontextualisierung statt.
Das wird besonders auf jenen Karteikarten sichtbar, auf denen der Autor Zeitungsausschnitte klebte. Beispielsweise Fundstücke für kuriose Definitionen – etwa beim “Schnitzelstreit”.
Das deutet auf den Humor von Blumenberg hin. So schildert es Ferdinand Fellmann in einem Interview für den Band “Poetik und Hermeneutik im Rückblick”, erschienen im Wilhelm Fink-Verlag:
„Bei Jauß im Seminar ging es eher asketisch zu, protestantisch. Bei Blumenberg herrschte das Homerische Gelächter. Bei diesen Treffen konnte man nach einer gewissen Zeit wegen des Rauchs der dicken Zigarren die Hand vor Augen nicht mehr sehen; dazu wurde Likör herumgereicht. Es war unglaublich, wie weltmännisch Blumenberg auftrat. Das war ein neuer Stil, der Blumenbergs außenorientiertem Charakter entsprach, geradezu ein hedonistisches Lebensgefühl, das typisch für die Zeit des Wirtschaftswunders war. Über Philosophie haben wir dabei fast nie geredet. Unsere Hauptthemen waren Autos, die Aufbewahrung von Zigarren im Wäscheschrank, die Märklin-Eisenbahn und die Bequemlichkeiten der neuesten Hausgeräte. Blumenberg war ein Technikfan.”
Das ist ganz nach dem Geschmack von Sohn@Sohn.
Wir brauchen etwas Neues: Keine Powerpoint-Weisheiten, die den Studierenden an den Hochschulen zum Auswendiglernen in die Ohren gegeigt werden. Aber die verlangen teilweise danach. Bitte, bitte gib uns ein Skript zum Auswendiglernen, damit wir den Methodenstreit in der Ökonomik auch richtig runterleiern können oder genau beschreiben, wie eine neue Theorie der Öffentlichkeit lautet in Zeiten privatisierter Öffentlichkeiten im Social Web. Alles schön in den Spuren des Dozenten. Nur nicht mit eigenen Recherchen und Überlegungen die Dinge durchforsten. Der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend hat das in seiner Zeit an der Uni Berkeley wunderbar durch den Kakao gezogen.
Er stand in den 70er Jahren auf dem Höhepunkt seiner akademischen Popularität. Feyerabend gab jedem Studierenden schon in der ersten Vorlesungsstunde eine Eins. Allein die Einschreibung in den Kursus genügte. Als man ihn zwang, eine Abschlussprüfung für seinen Kursus abzuhalten, händigte er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu Beginn der Prüfung ein Blatt aus, auf dem in großen Buchstaben feierlich das Wort „ABSCHLUSSPRÜFUNG“ stand. Und darunter stand die Aufgabe: „Erzähle mir Deinen Lieblingswitz“. Jeder Witz, auch selbst der dümmste, wurde mit der Note Eins belohnt (nachzulesen im Opus von Simon Rettenmaier, Philosophischer Anarchismus oder anarchistische Philosophie, Büchner Verlag, 2019).
Dieser wissenschaftliche Dadaismus hatte bei Feyerabend einen ernsten Hintergrund. Er glaubte zutiefst an das Humboldtsche Erziehungsideal der akademischen Freiheit jenseits der Fliegenbein-Zählerei über Noten. Der anarchistische Hochschullehrer wollte es den Studierenden überlassen, ob und wann und wie sie studieren.
Sein Spott galt dem abgehobenen Expertentum. Seine Anything-goes-Metapher war dabei kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern für Öffnung, Mitsprache und Demokratie. Experten sichern ihre Deutungshoheit durch abgehobenes Kauderwelsch ab.
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Einschub von Gunnar Sohn: In meinem Kopf schwirrt noch ein Zitat einer Justitiarin eines Privatsenders bei einer nicht-öffentlichen Tagung herum – ein sehr Gema-lastiges Stelldichein übrigens: Urheberrecht sei kein Laienrecht, da könne nicht jeder mitreden, sagte die Juristin unmissverständlich. Das ist fast unwidersprochen von der Runde aufgenommen worden – aber nur fast unwidersprochen….Ich halte diese Geisteshaltung für eine Katastrophe. Sie beflügelt die Ressentiments gegen das politische System. Einschub beendet.
Die Laien sollten nach Auffassung von Feyerabend ein Interesse am Aufbruch dieser Strukturen haben. Die Deutungshoheit der Expertokratie sei nicht hinnehmbar. Müssten sich diese geschlossenen Kreisen öffnen und Einblicke in ihre Methoden gewähren, würde man schnell erkennen, mit welch dünner Sauce die Experten operieren.
Der Fernsehmacher Alexander Kluge erinnert an die Obertöne der Musik. Er nennt es Obertöne der Rebellion in Anlehnung an die 68er Bewegung. Man könnte in der Zukunft etwas weiter machen, was in der Vergangenheit nur den Grundton hatte. Beispielsweise die Forderungen „Die Stadt gehört uns“ im öffentlichen Raum. Das sei nackte Wiederholung aus den Tagen der Studentenrevolte.
Dafür brauchen wir neue Theoriebewegungen, die sich nicht auf der Leimspur der vorherrschenden Lehre bewegen.
Einschub von Gunnar Sohn: Vor mir liegt ein Notizzettel über die Diktatur des Antiquariats – denkt mal drüber nach. Spruch ist von Jürgen Kaube.
Weiterer Notizzettel: Überlegungen zu einer Universalgeschichte der Niedertracht. Ist nichts daraus geworden.
Gründen wir neue Akademien! Hat das was mit Blumenberg zu tun? Na klar. Es geht doch hier um heterogene Kombinationslabyrinthe. Und hat das was mit den Projekten von Sohn@Sohn zu tun? Sehr viel sogar. Denn in jedem Projekt geht es um neue Kombinationen, um neue Kontexte, um Überraschungen, schnelle Reaktionen von Constantin Sohn und Gunnar Sohn, technische Fingerübungen und unkonventionelle Kommunikation. Etwa auf dem Research Day von Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie IMW in Leipzig unter Federführung von Dirk Böttner-Langolf , bei der IBM für die Präsenz auf dem Tag der Industrie in Berlin mit Christine Rupp und ihrem Team, in Walldorf beim SAP Training Forum unter Leitung von Thomas Jenewein und Seyde Sosnovski und auf dem SZ-Nachhaltigkeitsgipfel für die Telekom unter Führung von Monika Thomasberger .
Siehe auch:
Cyber-Attacken, Datenmanagement in der Energiebranche, KI-Kompetenz, Allianzen, Digitalisierung und Nachhaltigkeit #Recap #TagDerIndustrie #TDI23
Von der Messbarkeit der Nachhaltigkeit bis zur Energiewende in der Schwerindustrie: So läuft der #SZGipfel #SZNachhaltigkeitsgipfel #Schubkraft #Wirtschaftswunder #Heizungsgesetz
Faszinierend, wie Hans Blumenbergs akribische und strukturierte Arbeitsweise einen tiefen Einblick in die Bedeutung von geistiger Disziplin und akademischer Hingabe bietet. Sein Stil, kombiniert mit der Anekdote über sein unkonventionelles Lehrumfeld, fügt sich nahtlos in die Diskussion um die Bedeutung von akademischer Freiheit und die Kritik an der Expertokratie ein, wie sie auch von Paul Feyerabend vertreten wurde. Diese Anekdoten werfen ein Licht auf die Bedeutung von Persönlichkeit in der akademischen Welt und fordern uns heraus, die Strukturen der Wissensvermittlung und den Zugang zu Bildung neu zu denken.