Was macht Social Media mit dem Journalismus - ein Gespräch mit Jakob Winter, Investigativ-Journalist bei Profil
Social Media ändert unseren Alltag, beruflich wie privat. Und Social Media ändert Journalismus. Das findet sein Jahren statt, aber der Einfluss wird größer und bedeutender. Ich wollte nachfragen, was sich hier genau ändert - und im persönlichen Gespräch haben Investigativ-Journalist Jakob Winter ( profil Nachrichtenmagazin ) und ich schon öfter spannende Gedanken ausgetauscht. In diesem Newsletter wollen wir diese mit dir teilen.
Die Lernkurve im Journalismus ist derzeit steil. Beim gedruckten Wochenmagazin profil haben wir kaum eine Ahnung, welche Geschichten überhaupt gelesen werden. Digital ist das anders. Wir wissen sogar, an welcher Stelle wir unsere Leserinnen und Leser verlieren, also wann sie einen Artikel abbrechen. Das ist die positive Seite der Digitalisierung. Eine Herausforderung ist, dass wir es digital mit starker Konkurrenz zu tun bekommen haben: Smartphone-Nutzer in der U-Bahn können nicht nur zwischen verschiedensten Nachrichtenportalen wählen, sondern schauen auch TikTok-Videos, Netflix-Folgen, spielen Handyspiele oder schreiben E-Mails. Gegen dieses Angebot muss man sich als Nachrichtenmagazin erst einmal durchsetzen.
Die Personalisierung im Journalismus hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, einige meiner Ex-Kolleginnen und -Kollegen haben sich mit eigenen Projekten wie Podcasts selbstständig gemacht. Ich sehe darin vor allem die Chance, dass Innovation entsteht und habe die Hoffnung, dass gute Projekte durch das Publikum ausreichend finanziert werden. Ich wehre mich aber dagegen, Influencer als neue Journalisten zu bezeichnen. Viele von ihnen sind eher digitale Litfaßsäulen, die für Geld Produkte, Dienstleistungen oder Unternehmen abfeiern – das ist natürlich total okay, aber es ist das genaue Gegenteil von seriösem Journalismus, der unvoreingenommen und mit kritischer Distanz berichtet.
Ich habe den Kampf um die begrenzte Aufmerksamkeit des Publikums bereits erwähnt. Deshalb ist es heute so relevant wie nie, als Medium einen Mehrwert zu bieten. Immer beliebter werden Formate, die konstruktiv erklären, wie man ein gesellschaftliches Problem wie den Ärztemangel oder den Klimawandel lösen könnte. Das Schlagwort dazu heißt: Lösungsorientierter Journalismus. Auch die Spezialisierung in Nischenthemen nimmt zu. Die größte Herausforderung ist aber für alle die Finanzierung. Das Problem: Anbieter wie Netflix können ihr Geschäftsmodell global skalieren, österreichische Medien haben ein begrenztes Publikum. Ein Netflix-Abo kostet die Hälfte von dem, was man für einen Onlinezugang bei der „Presse“ zahlt. Das führt im schlechtesten Fall dazu, dass sich Menschen im Zweifel für Unterhaltung und gegen Information entscheiden. Aber ich habe auch keine Lösung dafür.
Wirklich spannend finde ich, was Rechercheplattformen wie Bellingcat machen. Man nennt diese Recherchetechnik „OSINT“, das steht für Open Source Intelligence. Das Ziel ist, mit öffentlich verfügbaren Infos investigative Storys zu recherchieren. Ein Beispiel: Beim Sturm auf das Kapitol in den USA haben die Protestierenden selbst zig Fotos und Videos auf sozialen Netzwerken gepostet. Mit einer Gesichtserkennungssoftware gelang es den Journalisten, einige von ihnen zu identifizieren. Auch bei Berichten zum Ukraine-Krieg setzen Journalisten OSINT-Techniken ein: Videos von angeblichen Kampfhandlungen lassen sich mit Wetter- und Geolocation-Daten verifizieren – oder eben als Fake enttarnen.
Eine sehr wichtige Regel lautet: Das Internet vergisst nicht. Immer wieder löschen bekannte Personen nachträglich Stationen aus ihrem Lebenslauf oder Parteien einen Punkt aus ihrem Programm von der Website. Die ursprünglichen Versionen sind über Tools wie die Wayback-Machine (archive.org) trotzdem auffindbar. Wenn Journalisten auf solche geheimen Änderungen stoßen, kann das unangenehm werden. Eine transparente Kommunikation kann dem vorbeugen. Ansonsten gilt trotz Digitalisierung: Der persönliche Kontakt ist immer noch wichtiger als eine lose Online-Connection.
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Klar: Heute kann jeder digital ein Thema setzen. Was früher eine Presseaussendung war, ist heute oft ein Tweet. Ich kann mir trotzdem vorstellen, dass es zu einer Rückbesinnung Richtung Journalismus kommt. In der Flut an Informationen im Internet sehnen sich viele Menschen nach jemandem, der für sie Sinn und Unsinn auseinanderdividiert. Das ist die ureigenste Aufgabe von Journalismus. Zur Transparenz: Meiner Beobachtung nach kommunizieren Medien heute viel transparenter mit ihrem Publikum – schließlich müssen sie sich online – wie jedes Unternehmen und jede Partei – der Kritik stellen. Was die Algorithmen angeht, müssen wir als Gesellschaft entscheiden, ob unsere Timelines von den Launen einiger weniger Digitalkonzerne abhängig sein sollen, oder ob es mehr Regulierung braucht. Ich würde mir in dem Bereich mehr Nachvollziehbarkeit wünschen. Das heißt: Ich will wissen, warum mir gewisse Postings angezeigt werden, außerdem will ich selbst entscheiden können, welche Inhalte ich ausgespielt bekomme. Das wäre technisch natürlich möglich.
Es gibt im Journalismus unzählige Berufsbilder. Angefangen von Podcastern, die persönliche und packende Interviews führen können, über Videojournalisten bis hin zu Investigativreportern, die digitale Rechercheskills beherrschen. Relevant ist, eine Nische zu finden, die auch bei den Mediennutzern auf ausreichend Interesse stößt – und in dieser Nische zu einem der Besten zu werden.
PR – auch politische – kann sich heute viel einfacher direkt an die jeweilige Zielgruppe wenden. Das können wir derzeit etwa bei der FPÖ beobachten, die schon seit vielen Jahren an einem eigenen Parallel-Medienuniversum arbeitet. Das Ziel ist auch, kritischen Journalismus zu umgehen und die Botschaften ungefiltert an die Leute zu bringen. Umgekehrt gibt es auch Gefahren: Die Unzufriedenheit der Kunden und Wähler ist öffentlich sichtbar. Und das greifen dann oft Journalisten auf.
Ich nutze die digitalen Kanäle als Recherchetool. Auf viele Storys bin ich nur gekommen, weil ich den richtigen Leuten folge, weil ich in einer langen Twitterdiskussion auch noch die fünfundzwanzigste Antwort gelesen habe, in der eine spannende Info stand. Mit einigen Informanten habe ich den Erstkontakt auf Social Media hergestellt. Ein Beispiel: Die Frau eines früheren FPÖ-Politikers postete einmal empört auf Facebook, dass sie und ihr Mann aus einem Lokal geschmissen wurden, bloß weil sie Freiheitliche sind. Es ist mir dann gelungen, den Lokalbesitzer ausfindig zu machen, der mir seine Motive erzählte. Unabhängig wie man dazu steht – die Geschichte sorgte damals für viel Wirbel.
Der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk hat mit seiner Jugend- und Innovationsschiene „Funk“ einige Projekte gestartet, die wirklich sehenswert sind. Wer sich für OSINT-Recherchen interessiert, sollte auf Twitter Henk van Ess folgen. Der organisiert auch immer wieder digitale Schnitzeljagden. Einmal postete er etwa ein Foto seines Sitzes im Flugzeug und fragte die Community, in welche Stadt er gerade unterwegs ist. Anhand der Antworten der User kann man recht schnell lernen, wie Recherchetechniken funktionieren.
Danke für das Gespräch, Jakob Winter !
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Journalist bei profil Nachrichtenmagazin
1 JahrDanke für die guten Fragen. Vielleicht doch auch Journalismus?