Man muss farbenblind sein
Frankreich hat ein ganz klares Selbstbild. Das Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist die Staat-gewordene Antithese zu Rassismus – und das qua definitionem. Die Republik garantiert, dass weder Religion noch Aussehen, Geschlecht, Herkunft oder Größe irgendeine Rolle spielen dürfen – und damit basta. Es gibt auch keine Daten darüber. So wie der französische Staat nicht weiß und nicht nachfragt, ob und an welchen Gott seine Bürger glauben, so gibt es auch keinerlei offizielle Zahlen zum Beispiel über die Hautfarbe der Bürger. Das geht den Staat nichts an, denkt man hierzulande, das hat ihn nicht zu interessieren. Das ist gut so.
Nur das Selbstbild der (weißen) Franzosen, dies sei Ausdruck von absoluter Gleichheit und kompletter Abwesenheit von Rassismus, das ist schlicht Unsinn und hat mit der Realität wenig zu tun. Auf dieser Ebene war die DDR qua definitionem ein antifaschistisches Land. Denn das Politbüro hatte das so beschlossen, und deshalb gab es ja auch östlich der Elbe weder Altnazis noch Jungfaschisten. Zumindest nicht offiziell.
Frankkreichs versteckter Rassismus
Das wirkliche Leben sieht anders aus. Ganz offensichtlich ist der Anteil der nichtweißen Bevölkerung in Frankreich erheblich größer als zum Beispiel in Deutschland, Folge der Kolonialgeschichte in Nord- und Westafrika sowie in Indochina. Aber aus eben dieser Kolonialgeschichte stammt auch ein tief verwurzelter Rassismus quer durch alle Bevölkerungsschichten. Dass eine schwarze Frau grandios singen und tanzen kann und ein schwarzer junger Mann ein filigraner Fußballer ist, das glaubt sofort jeder, selbst wenn dieser Mann erkennbar Grobmotoriker ist.
Aber das der nämliche junge schwarze Mann den Porsche oder wahlweise Ferrari, den er fährt , auch selbst bezahlt und nicht gestohlen hat, das glaubt dagegen kaum einer. Es wird mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit in einer Polizeikontrolle enden. Und diese Polizeikontrolle wird womöglich nicht so nett ausgehen, wie in der berühmten Szene aus dem Kinofilm „Ziemlich beste Freunde“ mit Omar Sy. Apropos Omar Sy. Der 1,92 große Superstar des französischen Kinos gilt bei weißen Franzosen als Beleg für Toleranz, Gleichheit und Abwesenheit von Rassismus. Seht her, unsere Stars, ob im Kino, Sport oder Musik sind dunkelhäutig; Wie sollten wir da Rassisten sein? Omar Sy selbst kommt zu einem anderen Bild.
Polizeigewalt auch in Frankreich weiterverbreitet
Kein Wunder, bei einem schwarzen Mann, der in Trappes in der Pariser Banlieue geboren wurde. Er fordert mehr Ehrlichkeit in der Debatte über strukturellen Rassismus in der französischen Polizei, sagt, „seien wir nicht mehr länger Zuschauer eines gewalttätigen Systems“. Seit Jahren setzt er sich für die Familie von Adama Traoré ein, der am 19. Juli 2016 in der Pariser Vorstadt Beaumont-sur-Oise unter sehr ähnlichen Umständen wie jüngst George Floyd in den USA von der Polizei zu Tode gebracht wurde.
Auch Adama Traoré erstickte, obwohl er mehrfach erklärte, keine Luft zu bekommen, und auch sein Tod in Polizeigewahrsam ist beileibe kein Einzelfall. Immer wieder sterben junge, nichtweiße Männer unvermittelt an plötzlichem Herzinfarkt, aber die Untersuchungen stehen von Anfang an unter der Prämisse, bedauerliche Einzelfälle zu sein. Omar Sy fragte deshalb vor vier Tagen öffentlich:„Wären diese Männer auch gestorben, wenn sie nicht den Ordnungshütern begegnet wären?“
Die Frage ist berechtigt, auch wenn das weiße Frankreich sie sich ungern stellt. Es gibt zweifelsohne strukturellen Rassismus in Frankreichs Polizei. Ein Beispiel: Im Dezember 2019 hat ein farbiger Polizist namens Alex Anzeige erstattet, gegen eine unfassbar rassistische WhatsApp-Gruppe seiner Polizei-Kollegen im nordfranzösischen Rouen. Er hat noch die übelsten Ausfälle dieser Ordnungshüter gegen Schwarze und Juden, Frauen, Linke und Araber in Bild und Ton belegt – nur geschehen ist seitdem so gut wie nichts! Und obwohl diese Polizisten sich selbst der so genannten „Fachosphère“, dem internationalen Nazinetzwerk zurechnen, wurden sie bis heute nicht aus dem Dienst entfernt.
Die Aufstiegsmythen der schwarzen Oberschicht
Das ist ein Grund, warum es immer wieder zu Randale in den Banlieues kommt. Ein zweiter war während des Corona-Lockdowns zu bestaunen. Während die reichen Pariser Bürger in den ersten Tagen des allgemeinen Ausgangsverbotes trotzdem ganz selbstverständlich die Koffer gepackt und samt schulpflichtigen Kindern in die Zweitwohnung auf dem Land oder am Meer gezogen und dort 13 Wochen geblieben sind, mussten die Menschen in den Banlieues ebenso selbstverständlich täglich zu ihrer Arbeit als Verkäufer, Bote oder Putzhilfe erscheinen. Und nicht immer hatten sie dabei das Glück, Platz in einer überfüllten Metro zu finden. Auch diese Ungleichheit ist strukturell und – anders als das bürgerliche Frankreich es wahrhaben möchte – partiell rassistisch geprägt.
Ja, man kann dem entfliehen, wenn man wie Omar Sy zum Kinostar wird oder wie Kylian Mbappé zum Fußballidol. Diese Aufstiegsmythen sind möglich, und sie sind wahr. Aber für wie viele der geschätzt gut 20 Prozent nichtweißen Franzosen sind sie erreichbar? Zudem handelt es sich um Aufstiegsgeschichten in Sport und Kultur. Die schwarze Topmanagerin oder den schwarzen Minister suchte man völlig vergeblich. Und selbst die ohnehin schmale französische Mittelschicht ist überproportional hellhäutig – oder um genauer zu sein, europäisch gebräunt. Eine vornehme englische Blässe entspricht in Frankreich weder dem Schönheitsideal noch der Realität.
Frankreichs Selbstbild funktioniert, wenn man farbenbild ist
Aber die Straßen von Paris und Marseille, Nizza und Bordeaux sind voll von verliebten Paaren mit unterschiedlichen Hautfarben, heißt es dann. Wo ist das Problem? Und es stimmt auch, dass weder alle reichen Stadtflüchtlinge weiß-, noch alle arbeitenden Menschen aus den Banlieues dunkelhäutig sind. Anders als in Berlin oder Dortmund bekommen sie in Paris einen Wohnungsbesichtigungstermin, obwohl sie Aissa, Yussuf oder Zinedine heißen. Geld regiert die Welt, und man kann ja nie wissen.
Frankreichs Selbstbild funktioniert so; Oder, um Sibeth Ndiaye, die im Senegal geborene Regierungssprecherin zu zitieren: „Ich bin glücklich, als schwarze Frau in Frankreich zu leben“, denn „unser Land ist kein rassistisches Land.“ Man kann das glauben. Man muss dafür nur ausblenden, wie die soziale Schichtung der Gesellschaft sich mehrheitlich zusammensetzt oder wie hoch der Anteil nichtweißer Eleven an den Eliteschulen des Landes ist. Man muss ausblenden, wie sich auf der anderen Seite die Schlangen in den Arbeitsämtern und vor den Sozialstationen zusammensetzen und nicht sehen wollen, dass ein Bruder von Adama Traoré wegen Beamtenbeleidigung rechtskräftig zu eine halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Man muss den Einzelfall für die Regel halten. Man muss farbenblind sein.