„Meine Realität ist die einzige, die zählt“
- Denken Sie an Schokolade! Altbekannte Methode der Kommunikation wird noch wichtiger
- Multiplikation des Individuellen als Ursache für überausgeprägtes Relevanzgefühl
- Akzeptanz: Kommunikateure müssen mit „individuellen Realitäten“ umgehen
Egoismus hat die Leitplanken der Realität zertrümmert. Dank höchstpersönlicher Individualisierung ist den Massenmedien die Masse abhandengekommen und Zielgruppen sind zu Zielgrüppchen geschrumpft. Das ist eine Herausforderung für Kommunikateure, besonders aber eine Herkulesaufgabe in der Krisenkommunikation, wo Zeit – etwa um Denkprozesse einzuleiten – schlicht nicht vorhanden ist.
Die Wahrnehmung von Fakten war nie uniform, setzen wir diese doch automatisch immer in Relation – zum subjektiven Empfinden und zur individuellen Perspektive, die stark von den unseren oft unbewussten Bedürfnissen und Wünschen geprägt wird. Die jeweilige Lebenswirklichkeit der Menschen entscheidet über die Wahrnehmung von Fakten. Vom unumstößlichen Faktum bis zu dessen subjektiver Wahrnehmung ist es ein langer Weg. Wer Risiko- oder Krisenkommunikation konzipiert, sollte diesen Weg nachvollziehen, um größtmögliche Effektivität zu erzielen.
In wachsenden Teilen der Bevölkerung werden Fakten zudem nicht mehr als solche akzeptiert, sondern im besten Fall als eine von mehreren Optionen gesehen. Risiko- und vor allem Krisen-Kommunikations-Strategien können auf dieses gesellschaftliche Phänomen keine Lösungen anbieten (es sei denn es ist zentraler Bestandteil des definierten Risikos oder der Krise). Zudem lässt der beschränkte Umsetzungszeitraum einen solchen gesellschaftspolitisch sicherlich wünschenswerten Exkurs nicht zu.
Wer eine Kommunikationskrise verhindern oder diese bekämpfen will, kommt nicht umhin, mit der sinkenden Akzeptanz von Fakten umgehen. Fakten in der Risiko- und Krisenkommunikation schlicht zu präsentieren, sie als Schlüssel für eine Verhaltensänderung zu sehen, gar auf ihnen zu beharren, hat in großen Teilen der Bevölkerung an Effektivität verloren.
Wie sind wir an diesen Punkt gelangt?
Die Multiplikation des höchstpersönlich Individuellen in den Medien seit den 90er Jahren, mehrfach potenziert durch die Sozialen Medien seit der Jahrtausendwende, hat zu einem überausgeprägten Relevanzgefühl in großen Teilen der Bevölkerung geführt, das durch mathematische, statistische Realität nicht gedeckt ist.
Mehr Menschen fühlen sich wichtiger als jemals zuvor.
Dem entsprechend konnte Kommunikation zunehmend nur dann erfolgreich sein, wenn sie das „Gefühl der persönlichen Betroffenheit“ in der Zielgruppe nicht nur als gegeben akzeptiert, sondern ausgenutzt hat. Für die Risiko- und Krisenkommunikation bedeutet dies analog, dass auch das „gefühlte Verschlechtern“ einer Situation, also nicht nur das tatsächliche Verschlechtern, gleichermaßen relevant ist.
Realität ist, was die Zielgruppe daraus macht
In den 2010er und 2020er Jahren hat jede:r ihre, seine und deren eigene Realität: Unzählige TV-Kanäle und Streaming-Dienste erlauben jedem, den Medienkonsum auf die eigenen Wünsche abzustimmen; Algorithmen bestimmen für jeden Einzelnen höchst individuell, was dieser auf „seiner“ Social-Media-Plattform zu sehen bekommt; den liebsten Softdrink mischt man sich inzwischen am „Coca-Cola freestyle“-Automaten zusammen. Doch wie geht ein Kommunikator mit diesen „unendlichen“ Realitäten um?
Mein Vorschlag: Vergessen Sie gelernte Methoden, geübte Vorgänge, Ihr Fachwissen – zumindest temporär. Versuchen Sie stattdessen, mit „typischen“ Personen Ihrer Zielgruppe auf eine Gefühlsebene zu kommen und ergründen Sie, auf welchem Weg diese Person (vermutlich) zu ihrer aktuellen Realitätswahrnehmung gelangt ist. Vergegenwärtigen Sie sich diesen Weg und nehmen sie ihn als Ausgangspunkt für die Entwicklung Ihres eigenen Kommunikationsansatzes. Wiederholen Sie das mehrmals, um den Einfluss eigener Prägungen – eigener Vorurteile – weitestgehend zu eliminieren.
Dieses Einlassen auf die gefühlte Situation im Gegensatz zum üblichen „Vortragen einer Situation“ ist essenziell. Denn: Fühlt man sich besser, nur weil jemand einem sagt, dass man sich besser fühlen müsste? In der Regel nicht.
Gefühle statt Fakten. Denken Sie an Schokolade!
Was hilft, ist alles, was Glückshormone ausschüttet. Schokolade soll ein probates Mittel sein. Nehmen Sie Schokolade als gedankliches Beispiel: Wie könnten Sie Ihre Kommunikationsinhalte und -methoden (wahrhaftig) ändern, so dass dies beim Empfänger Glücksgefühle auslöst wie dies sonst nur Süßigkeiten können?
Wie geht man aber mit „Fake News“, mit falschen Fakten, um? Korrigiert man sie? – Nein. Zumindest nicht sofort. Wer sich von der Akzeptanz von Fakten verabschiedet hat, ist zunächst für wahrhaftige Kommunikation verloren. Eine Möglichkeit, den Rezipienten dennoch zu erreichen, ist auch hier die Gefühlsebene, um Vertrauen zu Ihnen bzw. zu Ihrer Marke aufzubauen.
Je weniger Fakten Teil der Kommunikation sein können, desto mehr müssen Gefühle diese Aufgabe übernehmen. Die Maßnahmen müssen Assoziationen erlauben und fördern, mit Hilfe der gesamten Klaviatur positiver Emotionen: Vertrauen, Stolz, Freude, um nur einige zu nennen. Mittel- bis langfristig lassen sich dann auch „Fake News“ korrigieren.
Grundprinzipien schaffen solide Basis
Mit Rezipienten über die Gefühlsebene zu kommunizieren ist eine Herausforderung. Dies fällt leichter, wenn andere Grundprinzipien der Marketing-Kommunikation wie „transparentes Arbeiten“ und „Vertrauen schaffen“ von Anfang an beherzigt wurden. Die Beeinflussung der individuellen Wahrnehmung beginnt idealerweise lange bevor die „Fronten verhärtet“ sind, bzw. sie sorgt dafür, dass es dazu erst gar nicht kommt. Transparenz und die Pflege einer Vertrauensbasis sind zudem mit der beste Schutz, Rezipienten nicht „Fake News“ anheimfallen zu lassen.
Kann der Rezipient allerdings nicht überzeugt werden, dann hilft nur noch „Schadensbegrenzung“, etwa das Verhindern der Multiplikation, um Resonanzkörper so klein wie möglich zu halten.
(Autor & Copyright 2021: Christian Leistritz | Fotos: Eti Ammos, Barbaoga, Yanadjan)