Meinung: Wider das Consulting
Inspiriert von TED-Talks, internen Diskussionen und einigen Einlassungen in den Business Social Media habe ich mich diese Woche gefragt, wieviele Agile Coaches, Trainer, Workshops und vor allem Consultants man braucht. Oder sollte ich besser sagen: haben sollte? Auch höre ich immer öfter die Fragen: wann bin ich agil, bin ich richtig agil?
Nach mehreren Jahren Kontakt zum und Ausführung des agilen Arbeitens und dem Entwickeln eines adäquaten Mindsets (hoffentlich!) bin ich sensibilisiert auf externe Scrum-Master oder Agile Coaches mit diversen Zertifikaten. Jung an Jahren, dennoch reich an Zertifikaten oder Lebenslauf-Erfahrung sollen sie uns „alten“ Hasen Methodik und vor allem das Denken beibringen.
Dabei beschränken sich die Techniken dieser Coaches oft auf Vorträge über das Mindset oder auf pseudo-psychotherapeutische Ansätze oder reine Lehrbuch-Methodik. Pseudo-Psychotherapie?
Der Fragende erklärt das Problem und wird durch Fragetechniken zu einer selbst entwickelten Lösung geführt. Meinen ersten Kontakt mit diesem Vorgehen hatte ich 2014. Ich hatte ehrlich gesagt nie das Gefühl, dass der konsultierte Berater viel wusste. Heute denke ich, dass es wichtig ist, Problemlösungskompetenz zu fördern und dieser Ansatz ein möglicher ist. Dennoch erinnert mich der pseudo-psychotherapeutissche Ansatz ein wenig an folgendes Beispiel:
„Der Vater kauft dem Kind ein Fahrrad. Als das Kind fragt, was das ist bekommt es die Antwort: damit kannst Du fahren. Wie es geht und wozu es gut ist findest Du am Besten selbst heraus.“
Mir wurde das sogar mal als Motivation präsentiert! Vielleicht bin ich ja schon zu alt dafür. Aber als meine Kinder ein Fahrrad wollten und noch nicht fahren konnten, habe ich ihnen erklärt, wofür Pedale, Lenker und der Rest gut sind. Dann habe ich sie gestützt bis sie ein Gleichgewichtsgefühl entwickelt haben. Sind sie gestürzt habe ich sie getröstet und habe ihnen geklärt was bei zu engen Kurven oder zu geringer Geschwindigkeit passiert. Ich bin stolz dass sie den Rest selbst lernen wollten, mich herausfordern und dass meine Tochter meinen zweiten Sohn oft versucht zu überholen. Dennoch muss ich manchmal bei steilen Anstiegen noch schieben und wenn es wenigstens durch gutes Zureden ist. Auch die Gangschaltung ist noch ein Problem.
Viele Consultants oder Berater erinnern mich an Fussballtrainer ohne Spielpraxis. Sie reden über das Reden. Ihnen fehlt die Praxis, weil sie nie langfristig Teil eines Teams waren oder keine tiefen Erfahrungen bei der Ausübung agiler Praktiken oder bei der Selbstorganisation sammeln konnten. Demnach können sie auch nichts weitergeben, das Wissen bleibt theoretisch. Sie sind Musikfans, beherrschen aber kein Instrument und haben in keinem erfolgreichen Orchester gespielt. Sie sind Beamte, die abstrakte Vorschriften runterbeten, aber den Kontakt mit dem Menschen und dem wahren Problem nicht bewältigen.
Ich habe vor etlichen Jahren eine Abhandlung über Shu-Ha-Ri geschrieben. Nicht im agilen Kontext, sondern tatsächlich in dem Kontext, woher es kommt: aus der japanischen Kampfkunst. Auch zu Kata habe ich mal was geschrieben, das gehörte aber nicht zu Lean, sondern zur japanischen Schwertkampfkunst.
Mittlerweile gibt es zu Shu-Ha-Ri viele Interpretationen. Essentiell ist aus meiner Sicht folgendes:
1) Praktische Tätigkeiten muss man ausüben, das Darüber-Reden macht nicht zum Experten. Zuerst mit überliefertem und bewährtem starten und es sich gut aneignen statt früh zu ändern ist wichtig für das Beherrschen der Basis.
2) Die Automatisierung „härtet“ ab, Routinen lassen uns schneller und besser werden. Die praktische Übung und permanente Wiederholung konfrontieren mit den eigenen Grenzen. Bis die Grenze erreicht ist und das System ggf. zu eng anmutet. Für mache ist hier aber schon Schluss und das ist auch in Ordnung so.
3) Eigene Erkenntnisse führen zum Aufbrechen bekannter Routinen und echter Lösungskompetenz auch unbekannter Probleme. Die gestiegene Erfahrung gibt Zuversicht bei neuen Herausforderungen.
Im alten Japan entwickelte sich die heute sogenannte Kampfkunst erst nach vielen Kriegen. In der frühen Zeit der Kampfkunstschulen waren es oft die Überlebenden des Schlachtfeldes, die ihre erfolgreichen Techniken weitergaben. Erfolgreich waren sie deshalb, weil es die Überlebenden waren. Ihre Techniken mussten einfach besser sein!
Später wurde die Kampfkunst als ein Weg zur Weiterentwicklung des Ich praktiziert, der praktische Aspekt stand nicht mehr unmittelbar im Vordergrund der Bemühungen.
Damit einher ging eine Zerplitterung, viele unterschiedliche Schulen entstanden. Die Vergeistigung sorgte dafür, dass auch eigentlich uneffektive (im Sinne des Schlachtfelds) Schulen weiterbestanden. Die ständige Neuinterpretation überlieferter Techniken marginalisierte oft die Bedeutung einer Schule und deren Erfolg, der im Prinzip auch von der Anzahl der Schüler und deren Zahlung für den Unterricht abhing.
Übertragen auf die heute vermittelten agilen Praktiken darf sich jeder geneigte Leser selbst fragen, was sein Anspruch an seinen Lehrer (den agilen Coach) ist. Ich für meinen Teil lasse mir gerne etwas zeigen, ahme es nach bis ich den gewünschten Erfolg erziele. Und wenn ich mich in dem vorgeschriebenen Weg nicht wiederfinde suche ich nach einem eigenen. Solange er „stilkonform“ ist, was heisst dass nicht jedes Mittel erlaubt ist.
Allerdings wende ich nicht alles an, was mir von aussen angetragen wird. Und vor allem nicht, wenn der Vortragende keinen Nachweis der praktischen Nutzung und des Erfolg der Praxis erbringen kann. So wehre ich mich gegen Überfrachtung mit theoretischem Wissen und die Gefährdung des Teamerfolgs.
Ob ich mich als Agilen Coach bezeichnen darf? Ich habe kein Zertifikat und plane auch nicht eines zu erwerben. Was meinen Sie?
Ich freue mich auf Kommentare und Meinungen zu diesem Artikel.