Mittelalter. Neuzeit.
Kaum zu glauben, dass es das noch - oder wieder? - gibt, was ich letzte Woche erlebt habe.
Ein richtiger Vertriebsevent, im Stile der good old 80th. Mit Männern (nur Männern) in schnittig sitzenden Anzügen und blank polierten Schuhen, in einem drittklassigen Hotel, zentral an einer Autobahnabfahrt gelegen, mit "Schweinebraten" (ehrlich) zum Lunch und einer Menge überzeugender, wenn auch stark manipulativ aufbereiteter Argumente. Sales-orientiert, versteht sich. Es waren bestimmt 300 Gäste da. Ja, ich auch. Und das war jetzt das Neue in 2024: sie kamen zu einem Seminar. Um dann mit Sales-Seife eingeweicht zu werden.
Kaum ein Tag, an dem ich mich derzeit nicht um Jahrzehnte zurück versetzt fühle. Da sind sie wieder die (guten) alten Zeiten, die legendären alten Schläuche. Jene - die Betagteren unter uns mögen sich erinnern - wo mehr von vorne und oben statt aus der Mitte und in wechselseitiger Zuwendung agiert und kommuniziert wird.
Zeitenwende
Die Zeiten werden härter. Da holen wir doch mal schnell die alten Schläuche wieder raus. Nicht lang fackeln mit dem neuen Wein, klare Ansagen. Auch ein kleiner Frauen-feindlicher Kommentar ist aktuell mal wieder erlaubt. Ein kleiner. Oder ein Hinweis - noch unter der Hand - "die machen genau das, was ich sage und wie ich das will". Originalton, vor kurzem, von einem CEO.
In einer anderen Organisation gab es gerade einen Wechsel im Executive Management. Was jetzt am wichtigsten ist? Termine. Termine mit der neuen Führungskraft. Um zu hören, wohin es gehen soll und wie man sich bestmöglich positioniert und ausrichtet. Die Schläuche stehen bereit, manche müssen wieder aus dem Keller geholt werden. Der neue Wein kann abgefüllt werden.
Und noch einen habe ich, der da rein passt: Ein Event für Executives zum Thema Leadership. Ein gehypter Key Note Speaker ist am Start. Er haut sie raus, die Ansagen, wie man es am besten macht. Wie er seine (namhaften) Coachees ausrichtet und instruiert. Was die so müssen, damit ....
Und weißt Du was? Das kommt an. Das wird von Zuhörern und Mitarbeitenden positiv bewertet. Toll, was diese Person weiß und wie sich alle an ihr orientieren. Das gibt Richtung in diesen unruhigen Tagen. Da muss man nicht lange selbst nachdenken, sondern kann folgen.
Ach, übrigens, das sind die Stimmen all jener, die kürzlich noch laut machten, wie wichtig ihnen Einbindung und Mitsprache ist. Ja, das passiert tatsächlich gerade vor unseren Augen.
Entschuldigung, echt?
Diederich Heßling, ich höre Dir trapsen. Irritiert reibe ich meine Augen. Was ist denn jetzt los? Waren da nicht ein paar Jahrzehnte, in welchen wir intensiv daran gearbeitet und unzählige Impulse gesetzt haben, dass ein Stück Autonomie aufgebaut wird. Haben nicht ganze Kohorten von Fach-und Führungskräften sich in X Qualifizierungen mit der Ausprägung einer reflektierten, individuellen Sicht beschäftigt. Sind wir nicht einen Weg gegangen, der Vielfalt und Diskurs, der Aufrichtigkeit und Transparenz, der Augenhöhe und das - sozial intelligente - Erheben der eigenen Stimme vor die Hierarchie und Manipulation stellt.
Hatten wir nicht schon längst verstanden, dass "The Wisdom of the crowd" mehr kann als die Stimme einer einzelnen Autorität. Gut facilitiert allerdings, das ist schon richtig.
Haben wir nicht schon neue Schläuche bzw. Fässer gebaut? Und bunt angestrichen. Gemeinsam und unter Nutzung vielfältiger Expertise. Und ist es eigentlich noch Wein, der fließt?
Mittelalter oder Neuzeit?
Es sieht so aus, dass wir am Scheidepunkt stehen. Fallen wir jetzt zurück ins Mittelalter oder wagen wir den beherzten Schritt in die neue Zeit.
Zugegeben, die Versuche der letzten Jahre waren nicht alle erfolgreich. Es gibt machen Fall zu berichten, wo New Work und Kommunikation auf Augenhöhe über das Ziel hinaus geschossen ist. Und ja, wir haben es heute zum Teil mit einem extrem hohen Erwartungsdruck seitens der Follower zu tun. Dem kann man nicht vollumfänglich gerecht werden.
Jetzt, da eine gänzlich neue Generation ins Arbeitsleben kommt, mit einem grundlegend anderen Motivportfolio, als es die oben benannten Männer mit den gutsitzenden Anzügen hatten und haben, ist da schon ein Spagat gefragt.
Aber, es kann doch nicht wirklich zurück ins Mittelalter gehen. Auch, wenn das, wie es scheint - erstaunlicherweise sogar von der oben benannten neuen Generation - als positiv bewertet wird.
Was ist da passiert? Was hat dazu beigetragen? Was geht ggf. auch zu Lasten der Pandemie? Wie kann es sein, dass das Stück Freiheit, Autonomie und Eigenständigkeit so freizügig wieder zur Disposition gestellt wird.
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Something is coming to an end and something new will be born
Zumal uns dies nicht wirklich voran bringt. Es steht ein Shift an. Das Neue will jetzt die Bühne betreten.
Dazu ist es entscheidend jetzt nicht das Mittelalter wieder hervorzuholen, die alten Sprüche zu klopfen und zurück auf Los zu gehen. Sondern das Erreichte zu würdigen und dann das Alte, das was früher den Ton angab loszulassen.
Damit die Neuzeit geboren werden kann.
Natürlich ist das nicht einfach, das sagt ja keiner. Es braucht Mut, Entschlossenheit und Experimentierfreude. Vor allem aber braucht es den Willen, den auf das Loslassen folgenden Stuck auszuhalten. Das Nichts. Die Leere. Das verunsichert, es wirft auf sich selbst zurück und es macht auch Angst.
Und doch ist es die Brücke zum Neuen. Das kann erst aufgeben, wenn das Alte zurückgelassen wurde. Es entsteht dabei langsam, im seinem Rhythmus, anfangs noch wackelig. Wer schnelle Lösungen sucht, wird Enttäuschung spüren. Es ist wie eine Geburt, es dauert.
Was für eine Neuzeit soll das denn sein?
Eine Zeit, die ihre Intelligenz darin zum Ausdruck bringt, dass wir uns, sich jede/jeder Einzelne unsere eigene Meinung bilden. Uns dabei nicht von den Trampelpfaden und Thesen vor 20 Jahren und auch nicht von platten Allgemeinplätzen bzw. provokanten Sprüchen von Speakern von heute oder der KI von morgen leiten lassen.
Eine Zeit, die es mit sich bringt, dass wir das was wir selbst (nicht ChatGPT & Kolleg: innen) denken, dann auch sagen und austauschen, im Diskurs betrachten und ggf. verifizieren. Und dann auch tun. Damit lösen wir uns von Einflussnahme und Manipulation. Und bringen uns selbst zum Ausdruck.
Eine Zeit, in der wir erleben, wie bereichernd es ist, gemeinsam mit anderen, unter wechselseitiger Anerkennung der Perspektiven, Lösungen zu schaffen. In gegenseitiger Achtung und dem Respekt vor der Autonomie der/des Einzelnen, zum Kompetenzaufbau aller und im Sinne unseres Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit.
In einer derartigen Zeit haben Starrheit, normierende Bewertung, Nachrede, verdeckte Botschaften, Narzist: innen und Spalter: innen keinen Platz. Vielmehr jedoch Achtsamkeit, Präsenz, Empathie und Anschlussfähigkeit.
Wie das was wird ....
Die Wegbereiter heißen Zuversicht und Geduld. Zuversicht wird darin begründet, sich innerlich ganz sicher zu sein, dass da eine Zukunft liegt, die alle Lösung bereits in sich trägt. Diese gilt es zu visualisieren und so ein Zielbild zu schaffen. Das macht es leichter den Stuck und die Leere zu überwinden.
Und das hilft auch dabei die Geduld aufzubringen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und dies liebevoll zu betrachten. Nicht tatenlos, aber ohne Druck.
Wenn der neue Wein wirklich Exzellenz ausprägen und munden soll, braucht er Reife.
Und neue Winzer. Jene, die die Story verstehen, dass ein guter Wein nicht durch große Worte und Auftritt, sondern durch Zuversicht, Vertrauen und Hingabe entsteht.
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4 MonateLiebe Eva, Danke für Deine Zeilen. Es ist schön festzustellen, dass man keine Wahrnehmungsstörung hat und das Back zum Mittelalter auch an anderer Stelle wahrgenommen wird. See you auf ein Glas des gereiften neuen Weines.