Neuer Gesellschaftsvertrag
Wie die Nürnberger Nachrichten "Das gespaltene Land" und andere
Bücher zur politischen Lage in Deutschland vergleichen
Spanier sind reicher
Alexander Hagelüken gelingt da
der umfassendere Blick, mit „Das
gespaltene Land“ legt er eine Reportage
aus einem Deutschland vor, in dem
das Versprechen, der nachkommenden
Generation werde es einmal besser
gehen, unerfüllt bleiben wird.
Der Wirtschaftsjournalist der Süddeutschen
Zeitung erliegt dabei nicht
der Versuchung, eine(n) einzelne(n)
Schuldige(n) auszumachen. Als Triebfedern
für zunehmende Ungerechtigkeit
sieht er vielmehr die Ideologie des
Neoliberalismus, die sich in unseren
Alltag fraß, ebenso wie den damit verbundenen
Abbau sozialer Sicherung
und die sinkende Tarifbindung.
Dass Niedrigverdiener sich kaum
noch eine Wohnung leisten könnten,
dass die Mittelschicht unter stagnierenden
Einkommen leide, sei aber keineswegs
ein Automatismus. Selbst die
Menschen imKrisenland Spanien hätten
im Schnitt mehr Ersparnisse und
viel öfter ein Eigenheim als der Durchschnittsdeutsche,
schreibt Hagelüken.
Dabei schwingt mit: Das können wir
doch auch.
Hagelüken verliert sich nicht in der
Zustandsbeschreibung des Niedergangs,
sondern skizziert Wege zu
einem „neuen Gesellschaftsvertrag“.
Mit vielen Ideen, die ebenso schlicht
wie effizient sind (mehr Netto für Normalverdiener,
Vermögen stärker
besteuern). Wenn Gerechtigkeitsliteratur
so konstruktiv daherkommt, dann
hat sie in der Tat ihren Platz.
ZAlexander Hagelüken: Das
gespaltene Land. Knaur, 240 Seiten,
12,99 Euro.
Und die anderen Bücher:
Merkel muss weg. Zumindest in der
Schlussfolgerung ist sich Stephan
Hebel mit denen einig, die er in seinem
Buch „die Brandstifter“ nennt:
die Rechtsextremen und Rechtspopulisten
in Deutschland. Damit aber
enden die Gemeinsamkeiten.
Angela Merkel müsse nicht wegen
ihrer anfänglich liberalen Flüchtlingspolitik
weg, schreibt der langjährige
Redakteur der Frankfurter Rundschau
in „Mutter Blamage und die
Brandstifter“ (sein zweites Buch über
die Kanzlerin). Sie müsse weg, weil
sie eine kalte, neoliberale Politik
betreibe, die in Deutschland zu sozialen
Verwerfungen führe – es aber
gleichzeitig schaffe, sich als „Mutter
der Nation“ zu geben.
Schuld ist immer: Merkel
Eine besorgniserregende Armutsquote,
niedrige Hartz-IV-Sätze, ein
sinkendes Rentenniveau, teure Strompreise
infolge der Energiewende, ein
geschwächter weil eisern sparender
Staat, die Entkopplung von Arm und
Reich: Das ist das Deutschland Angela
Merkels, schreibt der Autor. Ein
Deutschland, in dem sich niemand
über den Aufstieg der AfD wundern
müsse. Hebel kann dann aber doch
nicht recht erklären, warum eine
Regierung, in der sich auch die Sozialdemokraten
neoliberalen Zielen verschrieben
hätten, etwa einen Mindestlohn
durchsetzte.
Hebels Beschreibungen einer auseinanderdriftendenGesellschaft
sind deshalb
nicht falsch. Er macht es sich
aber einfach, wenn er Angela Merkel
für all das verantwortlich macht.
Dass die Politik spätestens unter Helmut
Kohl die Ungleichheit im Land
befeuerte, dass auch Rot-Grün sich
treiben ließ vom neoliberalen Geist
um die Jahrtausendwende, das
kommt bei Hebel nur am Rande vor.
Unter einem ähnlich zeitlich eingeschränkten
Blick leidet auch die
ansonsten kluge Analyse „Regierung
ohne Volk“, die Ursula Weidenfeld
vorlegt. Die Journalistin, die für
Tagesspiegel und Wirtschaftswoche
arbeitete, attestiert der Bundesrepublik
weniger einen ökonomisch-sozialen
als einen politischen Verfall. Ihr
Befund: Die Bundesregierung – in diesem
Fall also wieder: Angela Merkel –
habe ihre Stellung derart ausgebaut,
dass die parlamentarische Demokratie
ausgehöhlt werde. Der Bundestag,
eigentlich Ort der Debatte und Entscheidung,
werde zur bloßen Abnick-
Maschine degradiert. Oftmit demHinweis
der Regierung, man habe das
alles schon im Koalitionsausschuss
vereinbart, das könne man jetzt nicht
mehr aufschnüren. Statt Konflikte
öffentlich auszutragen, ein Wesensmerkmal
der Demokratie, würde
Angela Merkel diese „geräuscharm“
in Hinterzimmern beilegen.
Nur: Die Entwicklungen, die Weidenfeld
hier treffend beschreibt,
haben nicht erst mit Merkels Regierungszeit
eingesetzt. Im Gegenteil:
Schon vor 20 Jahren befassten sich
Politikwissenschaftler mit dem Phänomen
des Machtgewinns der Exekutive
und der Auswanderung von Politik
aus den Institutionen. Zumal an der
schlechten Ausstattung mancher
Behörden, die Weidenfeld symptomatisch
für die Defizite des politischen
Systems anführt, eine Bundeskanzlerin
schon gar nicht schuld sein kann.