Nicht-Wissen ist meine Kernkompetenz, auch wenn ich das immer mal wieder vergesse.
“Wir haben ja noch etwas Zeit übrig. Du könntest mir da noch etwas weiterhelfen”, sagt mein Gegenüber beiläufig. Und ich merke, wie mir das Herz kurz in die Hose rutscht. Es folgen einige bange Sekunden Kopfkino. Ich stelle mir verschiedene Szenarien vor, wie mir der Verkehrsplaner David Sorg auf die Schliche kommt und merkt, dass ich sein Fachgebiet gar nicht teile. Oder noch schlimmer: Dass ich eigentlich gar nichts weiss.
Spulen wir ein wenig zurück. Diese Woche hatte ich wieder ein Erlebnis, das mir so oder ähnlich in meinem Arbeitsalltag immer wieder einmal begegnet. Ich sass also in einer Besprechung mit meinem brandneuen Bürokollegen. Er hatte zum Treffen eingeladen. (Ausgerechnet) Projekt-Grossmeister Beat Isler hatte ihn anscheinend in meine Richtung geschubst mit etwa den Worten: “Frag doch mal die Léonie, die ist noch gut für sowas.” Meine Gedanken galoppieren also natürlich zuallererst in Richtung erwartete Erwartungen. Sprich, dass mein Kollege annehmen könnte, dass ich ihn mit meinem immensen Fachwissen unterstützen könnte – im vorliegenden Projekt ging es um E-Mobilität und nachhaltigen öffentlichen Verkehr. Etwas, wovon ich keinen blassen Schimmer habe.
Eine Viertelstunde später wird sich herausstellen, dass das “Fach”-Gespräch tatsächlich hilfreich war. Und, wie könnte es anders sein, das ist meistens der Fall. Was war also passiert? Logisch, ganz viel. Zum Beispiel, dass ich mich im Ingenieurbüro TBF + Partner AG immer noch regelmässig als Hochstaplerin fühle (bzw. neudeutsch dem Imposter-Syndrom verfalle). Klar, das hat vor allem mit mir und meinen eigenen Unsicherheiten zu tun. Trotzdem ist es kein Zufall, dass sich das gerade in meinem Métier häuft. Gerade in der Beratungswelt haben wir oft noch das Gefühl, dass wir sofort eindeutige Antworten bereithaben müssten. Was auch zum (in der Wirtschaftswelt immer noch über-präsenten) Bild von Erfolg als etwas Lautes und Belehrendes passt. Dabei fühlt sich das Erteilen von klaren Antworten und Ratschlägen für mich gerade angesichts der enormen Komplexität nicht als stimmig an. Ich sehe meine Aufgabe lieber darin, die richtigen Fragen zu stellen. Und genau da kann mein (fachliches!) Nicht-Wissen ein enormer Vorteil sein. Ich lasse mich nicht von spannenden, technischen Details ablenken, sondern fokussiere mich auf zwei andere Aspekte. Einerseits stelle ich die grossen, übergeordneten Fragen: Was braucht unser Kunde überhaupt? Und wie können wir unsere Ergebnisse so kommunizieren, dass sie anschlussfähig sind? Da hilft meine unvoreingenommene Perspektive, um Muster, Erzählstränge oder auch Widersprüche zu erkennen. Andererseits erlaubt mir mein Nicht-Wissen, mich ganz auf die Menschen einzulassen, ihnen den Rücken zu stärken und sie zu ermutigen, ihre fachlichen Überzeugungen zu leben.
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Aus dieser Perspektive erinnert mich mein Nicht-Wissen an das ressourcenorientierte Coaching, das ich aus der Bildung kenne: Arbeiten mit dem, was da ist und davon überzeugt sein, dass die Antworten in der Person selbst schon vorhanden sind. Kürzlich habe ich gelernt, dass auch die soziale Arbeit das Nicht-Wissen bewusst als Werkzeug in der Gesprächsführung einsetzt. Das Bewahren von Offenheit und Neugier fördert so echtes Verstehen und ist damit effektiver als vorgefertigte Antworten. Sozialwissenschaftler Heiko Kleve etwa spricht vom “Paradigma der professionellen Lösung Abstinenz", welches die Soziale Arbeit voraussetzt. Apropos Bildung und Pädagogik… Dank Andreas Sägesser und Roland Züger kenne ich Philosophen wie Jacques Rancière oder Heinz von Förster, die das Nicht-Wissen auf den Gipfel getrieben haben. Letzterer beschreibt die sogenannte Lethologie als Teil des systemischen Coaching und betont, dass das Nicht-Wissen als Grundhaltung vermutlich auch Teil erfolgreicher Führung ist. Dabei geht es darum, sich frei von Erwartungen auf das Gegenüber einzulassen und anzunehmen, dass das eigene Denken und die eigenen Erfahrungen dabei hinderlich sein können. Übrigens, im Deutschen lässt sich das Nicht-Wissen semantisch gut abgrenzen vom Unwissen. Unwissen verstehe ich als Unvermögen, vorhandenes bzw. zugängliches Wissen für mich nutzen zu können oder wollen - ob nun aufgrund fehlenden Bewusstseins oder Ignoranz.
Gelingt uns dieser Brückenschlag von den Sozialwissenschaften zur Wirtschaftswelt im grossen Massstab, so können wir eine neue Beratungspraxis entwickeln, die unserer komplexen, dynamischen Welt gerecht wird – gerade weil sie Abstand nimmt von einer präskriptiven Haltung. Kurzum, werde ich das nächste Mal wieder ins kalte Wasser geworfen, so fällt es mir hoffentlich wieder schneller ein, dass ja genau das meine Berufung ist: Das Nicht-Wissen ist meine Kernkompetenz, die ich bewusst pflegen darf und die uns als Kollektiv weiter bringt.
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1 JahrScio nescio!
Professor für Führung, Organisation und Personal bei Hochschule Luzern
1 JahrDanke Léonie für diesen lesenswerten Denkanstoss! Die von Dir beschriebene Haltung unvoreingenommener Neugierde und Aufmerksamkeit und des Verzichts auf schnelle Urteile, Interpretationen oder gar Lösungswege ist etwas, das auch meinem Verständnis praxisnaher Forschung entspricht bzw. auch dort Nutzen stiften kann.
Break new ground through appreciation and respect, courage and consistency
1 JahrIst doch eine schöne Sache sich durch erfolgreichen Einsatz von Nicht-Wissen viel Wissen anzueignen und/oder die bessere Hilfestellung/Befähigung zu erreichen 🙂
Projektleiter Grossprojekte bei Amt für Industrielle Betriebe, Basel-Landschaft
1 JahrSuper schöne sehr inspirierende Worte!=) Spannenderweise sind wir ja quasi so sozialisiert, eigentlich immer etwas zu sagen zu haben / eine Lösung präsentieren zu können - statt mal weiter nachzufragen / Nicht-Wissen zu benennen. Letzteres wäre vermutlich oft die kompetentere Variante.^^ Mir hilft die Methode #CBA immer wieder sehr, mir schonungslos aufzuzeigen, wo ich persönlich Wissenslücken habe. Siehe auch www.cba.ist, sofern die Methode spannend sein sollte.
EB Digital - Lernen im digitalen Kontext
1 JahrDanke für das Teilen deiner Nöte, das spricht mir direkt aus dem Herzen. Unzählige Male erlebt, unzählige Male überstanden. Die Steigerung der beschriebenen Situation ist, den Beratungstermin mit irgendeiner Begründung zu verschieben, um Zeit zu gewinnen für eine Vorbereitung. Während der Vorbereitung wird dann klar, dass die Zeit nie reichen wird, um ein genügendes Verständnis des Fachgebiets zu entwickeln. Anschliessend Panik hoch zwei. Und doch hat‘s jeweils funktioniert. Die ganze Vorbereitung war für die Füx; das Rückfragen, verstehen wollen und Hinweise geben, was sich in anderen Fällen als Lösungsweg angeboten hat, wurde vom Gegenüber als wertvoll erachtet. Daher gefällt mir dein nächster logischer Schritt, die eigene Kompetenz im Nicht-Wissen zu verorten. Ich habe allerdings nie die Chuzpe entwickeln können, um mich darauf verlassen zu können. Aber vielleicht funktioniert das Ganze auch nur, wenn wir mit diesem riesigen „Respekt“ an die Sache herangehen.