„Prüfungen und Noten beenden Lernprozesse“ – Über die Prüfungs- und Bewertungskultur im Schulsystem mit Philippe Wampfler
Dass die Schweiz in vielen Hinsichten einen Sonderweg geht, zeigt sich auch im Umgang mit dem Coronavirus. Der Blick zu unseren Nachbarn macht deutlich, dass Schulschließungen nicht die logische Konsequenz der Pandemie sein müssen. Seit Ausbruch des Virus’ Anfang 2020 waren die Schulen in der Schweiz bis auf einige Ausnahmen nur etwa acht Wochen lang geschlossen. Seit Mai 2020 findet an den Schweizer Schulen wieder Präsenzunterricht statt und Studien zeigen: Das Virus ist zwar im Umlauf, zu auffällig vielen Ausbrüchen im Zusammenhang damit kommt es aber nicht. Ein Schweizer, der sich dafür einsetzt, dass die von der Politik versprochene Priorisierung von Bildung in die Tat umgesetzt wird, ist Philippe Wampfler.
Philippe arbeitet als Deutschlehrer und Dozent für Fachdidaktik in der Schweiz. Als Experte für das Lernen mit neuen Medien schreibt und diskutiert er über alles, was mit Bildung und Digitalisierung zu tun hat. Aktuell engagiert sich Philippe außerdem am Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, das sich für eine Veränderung der Rahmenbedingungen und Funktionsweisen von Schule einsetzt. Im Podcast „School must go on“ spreche ich mit Philippe unter anderem über die Problematik von Prüfungen und Noten und darüber, welche Alternativen die Kompetenzentwicklung bei den Schüler/-innen unterstützen könnten. Die drei wichtigsten Erkenntnisse aus meinem Gespräch mit Philippe zeigen, dass Veränderungen im Schulsystem dringend gebraucht werden – und wie diese Veränderungen aussehen können:
- Die gegenwärtige Prüfungskultur und das Bewertungssystem sind unzeitgemäß und problematisch.
- Digitalisierung sollte nicht allein im Fokus stehen.
- Höhere Autonomie der Schulen führt zu mehr Effizienz.
Die gegenwärtige Prüfungskultur und das Bewertungssystem sind unzeitgemäß und problematisch
Die Themen Notengebung und Prüfungskultur als neuralgische Punkte im Schulsystem treiben mich schon seit vielen Jahren um – unter anderem habe ich dazu vor einiger Zeit mit Dejan Mihajlović über die ausbremsende Wirkung von Prüfungen gesprochen. Aktuell beschäftigen sich Dejan und Philippe gemeinsam stark mit der Frage, wie wir wegkommen können von Noten und Prüfungen. Die aktuell vorherrschende Prüfungskultur an Schulen im deutschsprachigen Raum führe zu einem sehr engen Verständnis von Lernen, berichtet Philippe im Gespräch. Lernen bedeute für die Schüler/-innen nur noch, sich auf Prüfungen vorzubereiten und stelle eine unangenehme Last dar. Dabei muss das nicht zwangsläufig so sein. Bei Kindern im Vorschulalter, die noch nicht unter Prüfungsdruck stehen, könne man beobachten, dass Lernen noch als etwas sehr Lustvolles aufgenommen werde. Noten zu vergeben, fällt Philippe sowohl aus professionellen wie auch aus persönlichen Gründen schwer:
„Das, was so objektiv, so sachlich daherkommt, ist zutiefst unfair, verzerrt und problematisch!“
Philippe sagt, das Bewertungssystem führe aufseiten der Schüler/-innen zu Schaden und Frustration und sei vor allem mit Willkür verbunden. Und nicht nur auf der individuellen Ebene richten Prüfungskultur und Bewertungssysteme Schaden an. Philippe macht auch deren systemischen Charakter deutlich. Für ihn veranschaulicht die Prüfungskultur, die sich nicht nur durch die Schullaufbahn von Schüler/-innen zieht, sondern sich beispielsweise auch noch an den Zulassungsvoraussetzungen der Universitäten zeigt, den vorherrschenden Klassismus im Bildungssystem. Da Bildung als beschränkte Ressource behandelt werde, versuche die Bildungselite, diese Ressource an ihre Kinder weiterzugeben – so bleibe sie bei denen, die davon schon profitiert haben. Und es stimmt – noch immer bestimmen in vielen Ländern Klasse und Herkunft die Bildungschancen von Schüler/-innen. Kinder aus Akademikerfamilien beginnen in Deutschland dreimal so häufig ein Studium wie Kinder, deren Eltern nicht studiert haben. Noten und Bewertungen stellen also auch ein Machtinstrument dar. Philippe sieht ein weiteres markantes Problem im System: In der Bewertungs- und Vergleichskultur muss es Verlierer/-innen geben. Wenn es gute Noten gibt, muss es auch schlechte Noten geben. So werden im Schulprozess bewusst Kränkungen und Verletzungen geschaffen – das belegen auch Studien, die zeigen, dass sich das Bewertungssystem langfristig sogar auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirken kann.
Hinzu kommt, dass das aktuelle Bewertungssystem schlichtweg nicht mehr zeitgemäß sei, sagt Philippe. Die Prüfungskultur sorge für Unsicherheit bei den Schüler/-innen – zum Beispiel dann, wenn sie auf die Ergebnisse einer Prüfung warten. Sie seien somit abhängig von einer Instanz, die ihnen sagt, wie gut sie gelernt haben. Auf diese Art werden Kinder aber nicht nur verunsichert, sie werden gleichzeitig auch entmündigt und haben keine Chance, ihr Lernen zu reflektieren. Philippe findet, es sollte ein Weg gefunden werden, Lernende zu „empowern“, anstatt sie abhängig zu machen und zu verunsichern. Das aktuelle Bewertungssystem bereite Kinder auf eine Zukunft vor, in der sie allein bestimmte Aufgaben lösen müssen. Diese Arbeitsweise findet sich aber in kaum einem Berufsalltag wieder. Heute arbeiten wir meist im Team, können verschiedene Aufgaben annehmen oder abgeben und haben jederzeit die Möglichkeit, uns zu informieren und beraten zu lassen. Eine alternative Leistungsmessung, die Schüler/-innen sehr viel besser auf Prozesse vorbereitet, denen sie später in der Arbeitswelt begegnen werden, könnte laut Philippe aus Feedback und Gesprächen bestehen. Den Schüler/-innen müssten Hinweise gegeben werden, wie sie sich verbessern könnten – auch von ihren Mitschüler/-innen. Für Philippe ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Kompetenzen benötigt und welche Leistungen erbracht werden können. Schüler/-innen sollten ein Verständnis dafür bekommen, wie Lernen eigentlich funktioniert. Ein guter Ansatz wäre hier beispielsweise, dass die Schüler/-innen Lernprodukte, z. B. Modelle oder Skizzen, herstellen – dass das Lernen sozusagen veräußert wird. So könnten die Kinder zeigen, was sie gelernt haben und vor allem, wie sie das Gelernte anwenden und verwenden können. Für Philippe könnte das die Schule der Zukunft sein, die für Zufriedenheit und stärkere Aktivität sorgt und vor allem zu mehr „Agency“ aufseiten der Schüler/-innen führt.
Digitalisierung sollte nicht allein im Fokus stehen
Digitalisierung ist das Buzzword in bildungspolitischen Debatten. Auch Philippe sagt, er habe lange gedacht, Digitalisierung sei der Hebel, um Schulen zu verbessern. Jedoch sei ihm aufgefallen, dass Kolleg/-innen zwar animiert werden können, neue Medien im Unterricht einzusetzen, es aber parallel dazu immer wieder zu Rückschritten kommt. Dieser Backlash kommt zustande, weil die Veränderung an den Schulen nicht umfassend genug gedacht wird, erklärt Philippe. Solange die Schulen nicht von Prüfungen und Noten wegkommen, wird es immer wieder zu Rückschritten kommen, denn die aktuelle Prüfungskultur und das Bewertungssystem beeinflussen auch, was psychosozial an den Schulen passiert. Die Digitalisierung kann Philippe zufolge nicht wirklich funktionieren, wenn nicht gleichzeitig kontraproduktive Machtverhältnisse infrage gestellt und pädagogische Einsichten umgesetzt werden. Es sei z. B. wenig Erfolg versprechend, dass vielerorts zwar das Internet im Unterricht eingesetzt werde, während der Prüfungen dann aber der Zugang blockiert werde, damit die Schüler/-innen nicht nachschlagen können. Nach Ansicht von Philippe zeigt sich hier, wie stark das Denken nach wie vor innerhalb von Beschränkungen stattfindet, und dass auch die Einebnung von Hierarchien schwieriger umsetzbar ist, als er anfangs angenommen hatte. Hinzu kommt, dass in der öffentlichen Diskussion die Digitalisierung der Schule zu lange als Option behandelt wurde. Dadurch werde ausgeblendet, dass Digitalität schon längst eine umfassende Rolle im Alltag von Schüler/-innen eingenommen hat, meint Philippe. Viele Kritiker/-innen von Digitalisierung in der Schule würden nicht verstehen, dass Unterricht, der nicht digital ist, in einem starken Kontrast zur Lebensrealität und zum Medienverhalten von Jugendlichen stehe. Diese Skepsis gegenüber Digitalisierung ist unter Lehrer/-innen in Deutschland noch relativ weit verbreitet. Umfragen ergeben, dass 13 Prozent der Lehrer/-innen den Digitalpakt der Bundesregierung grundsätzlich ablehnen, während ganze 87 Prozent der Pädagog/-innen der Digitalisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen und etwa einen Verlust der Schreibfähigkeiten der Schüler/-innen befürchten. Philippe schlägt dagegen einen Ansatz vor, der reflektiert, in welchem Verhältnis Schule zur bereits vorhandenen Digitalität steht, anstatt darauf zu schauen, wie die Digitalisierung die Schule in Zukunft verändern wird.
Höhere Autonomie der Schulen führt zu mehr Effizienz
Dass Deutschland sich bei der Umsetzung solcher Ansätze eher schwertut, stellen Bildungsforscher/-innen immer wieder fest. Digitale Medien werden in deutschen Schulen auffallend wenig genutzt. Verglichen mit anderen Industrienationen stellt das deutsche Bildungssystem hier das Schlusslicht dar. In der Schweiz waren die Schulen dagegen schon vor der Pandemie deutlich besser digital ausgestattet. Das liegt nicht nur daran, dass z. B. der Glasfaserausbau stärker gefördert wird, sondern auch an der größeren Autonomie der einzelnen Schulen. Philippe erzählt, die Schweizer Schulen könnten effizienter agieren, weil es im Vergleich zu Deutschland einerseits weniger Bürokratie gebe und andererseits die Schulen mehr Freiräume und Entscheidungsspielraum hätten. Generell, findet der Schweizer Pädagoge, sollte die Entscheidungsmacht möglichst weit nach unten verlagert werden und die Schulen möglichst autonom handeln können. Denn die vielen Vorgaben, die es in Deutschland auf Bundes- und Länderebene gebe, würden Prozesse oft verlangsamen und ausbremsen. Philippe beobachtet, dass die deutschen Bundesländer zwar viele Vorgaben machen, aber nicht die nötigen Voraussetzungen schaffen, um eine zeitgemäße Arbeit zu ermöglichen. Dies wird beispielsweise an den rechtlichen Hürden sichtbar, die es mancherorts bei der Verwendung von digitalen Konferenz-Tools wie Microsoft Teams gibt. Die Länder müssten hier für eine rechtssichere Verwendung von Produkten, die es auf dem Markt gibt, sorgen. Bislang würden Schulen viel zu oft mit den Verboten alleingelassen. Eine niedriger angesetzte Entscheidungsmacht wie in der Schweiz würde dagegen die Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Schulen fördern. Durch den Vergleich der einzelnen Schulen und einen gewissen Wettbewerb untereinander würde sich der allgemeine digitale Standard immer weiter entwickeln, meint Philippe. Ein weiterer Faktor, der die Digitalisierung an Schweizer Schulen begünstigt hat, ist der Lehrplan 21. Für dieses Projekt haben sich die 21 Kantone der deutschen Schweiz auf einen Lehrplan geeinigt, der gemeinsame Ziele für die Volksschulen festlegt und so eine Harmonie zwischen den Kantonen herstellt. Als ein Pflichtfach enthält dieser Lehrplan z. B. „Medienbildung und Informatik“. Diese Entscheidung hat dazu geführt, dass eine 1:1-Ausstattung für die Schüler/-innen gewährleistet wurde und auch fachlich ausgebildetes Lehrpersonal und die technische Infrastruktur an jeder Schule bereitgestellt wurden. Für Deutschland kann sich Philippe ein solches Projekt – einen harmonisierten Lehrplan – derzeit noch nicht vorstellen. Trotzdem wäre es aber wünschenswert, auch hierzulande zumindest eine Basis von Grundlagen zu schaffen. Ein solches Instrument könnte vieles in Bewegung setzen – nicht nur im Bereich Digitalität.
Danke für diesen Beitrag ... da spricht mir jemand aus dem Herzen.
From compulsive overthinking to finding peace within
3 JahreDankeschön für den Artikel. Es wird Zeit, dass sich das Bildungssystem wirklich nachhaltig verändert. Leider brauche ich das ganze Wissen, was ich in der Schule gelernt habe, im echten Leben gar nicht...
Bildungswissenschaftlerin I Lehrerin I Psychologie & Pädagogik
3 JahreSuper spannendes und wichtiges Thema!💪🏼
MC Strehl | Begeistert lernen, erfolgreich verstehen 🧮🧪
3 JahreDie Folge höre ich mir nachher mal an. Klingt total spannend.