Prozesswärmeversorgung im ­Kontext der Dekarbonisierung – wie sehen die Industriekessel der Zukunft aus?

Prozesswärmeversorgung im ­Kontext der Dekarbonisierung – wie sehen die Industriekessel der Zukunft aus?

Fast jedes Produkt des täglichen Gebrauchs in Industrienationen wird unter Verwendung von ­therm­ischer Energie produziert – von Lebensmitteln bis hin zu Fahrzeugteilen, Kleidung und Medizin. Häufig stammt diese Wärme aus Energieerzeugern wie Dampfkesseln, Heißwasserkesseln oder BHKWs, seltener auch aus Wärmepumpen, Abwärme oder Solarthermie. Bislang verstand man im Bereich Prozesswärme unter Dekarbonisierung das feuerungsseitige Entfernen kohlenstoffhaltiger Beläge im Kessel. Im Zuge der Diskussionen um CO2 als Treiber des Klimawandels ist das Thema ein anderes: Dekarbonisierung meint hier die Umstellung von Produktionsprozessen auf CO2-neutrale ­Technologien. Insbesondere für die Prozesswärme ist dieses Thema differenziert zu betrachten und stellt größere technische Herausforderungen dar, als bei reinen Heizanwendungen. Viele der Prozesse in der ­Industrie benötigen hohe Temperaturen und Drücke, sowie große Anschlussleistungen bis hin zu mehreren hundert Megawatt.

Wirtschaftliche und globale Betrachtung

Energiepreise sind regional extrem unterschiedlich. Während man in Saudi-Arabien Aussagen wie „bei uns ist Diesel billiger als Wasser“ hört, kitzelt man ­anderenorts die letzten Zehntel Prozente Effizienz aus Prozesswärmesystemen heraus. Selbst innerhalb Europas gibt es große Unterschiede: Man vergleiche z. B. die Strompreise für Nichthaushalts-Kunden in Frankreich (Atomstrom, 9 ct/kWh) oder Schweden (Wasserkraft, < 7 ct/kWh) mit denen in Deutschland (16 ct/kWh). Eine Gemeinsamkeit eint jedoch eine Vielzahl von Ländern: Erdgas ist in den meisten ­Ländern mit 2,5–3,5 ct/kWh günstig. Die Versorgung mit Erdgas und dessen Verbrennung sind besonders zuverlässig und bieten vergleichsweise niedrige Emissionen bei gleichzeitig hohem primärenergetischen Wirkungsgrad. Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass bei einem Großteil der Bestandsanlagen noch heute ein großes Einsparpotential durch Modernisierungs­maßnahmen ungenutzt bleibt. Neben Komponenten zur Abwärmenutzung und effizienteren Prozesswärme-­Verbrauchern bieten neue digitale Effizienz­assistenten durch eine optimierte Betriebsweise die Chancen Verluste zu reduzieren.

Während der Einsatz von Heizöl immer weiter rück­läufig ist, erfreut sich Erdgas bei industriellen Prozesswärme­versorgungen weiter steigender Beliebtheit. Die in einigen Ländern eingeführte Besteuerung von CO2-Emissionen wird sich jedoch direkt auf den Gaspreis auswirken. Die Erfahrung aus ver­gangenen Jahrzehnten zeigt, dass von der ­Industrie im Falle steigender Energiepreise zunächst Effizienz­steigerungsmaßnahmen umgesetzt werden. Erst wenn diese ausgereizt sind, wird über Technologie­wechsel bzw. Brennstoffumstellung nachgedacht.

Die Vermutung liegt daher nahe, dass Industrie­betriebe einer der letzten Sektoren sind, die sich vollständig vom Erdgas als Energieträger abwenden werden. Der Umstieg bedeutet hier in der Regel ­größere Investitionen, ohne dass dadurch z. B. die Produktionsmenge erhöht wird. Für viele Entscheider ist es daher eine wirtschaftlich getriebene Entscheidung. Erfahrungsgemäß werden Entscheidungen über Investitionen daher oft erst dann gefällt, wenn eine Kapitalrückflussdauer von maximal 2–3 Jahren erreicht wird und langfristig hohe Kostenreduktionen zu erwarten sind. Anderenfalls sind Entscheidungen über große Investitionen für den Austausch ther­mischer Großanlagen eher selten durchzusetzen.

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Welche Anwendungen und Prozesse sind betroffen?

Betrachtet man thermische Anwendungen bei ­Industrie- und Gewerbebetrieben differenziert, so lässt sich grob unterscheiden zwischen: Heiz­anwendungen, Prozessen niedrigerer Temperaturen bis 110 °C und Hochtemperaturprozessen, die ­meistens zwischen 110–300 °C liegen. In besonderen Fällen wie der Herstellung von Treibstoffen oder bei Direktbeheizung z. B. in der Metallherstellung sind auch deutlich höhere Temperaturen zu finden.

Ob Heißwasser oder Dampf als Wärmeträger-Medium im Bereich über 110 °C verwendet wird, spielt für das Thema Dekarbonisierung kaum eine Rolle. Viel ­wichtiger ist das benötigte Temperaturniveau. Für Heizanwendungen (< 110 °C) gibt es einige alternative Technologien, die einzeln oder in Kombination ­angewendet werden können. Beispiele sind Hochtemperatur-­Wärmepumpen oder solarthermische Unterstützung. Hier ist am ehesten mit einem technologischen Wechsel zu rechnen. Voraussetzung ist ein starker Anstieg des Gaspreises und sinkende Preise für diese alternativen Technologien. Neben Heiz­anwendungen können beispielsweise auch ­Reinigungs- bzw. CIP-Prozesse in diesen Temperaturbereich fallen.

Für Anwendungen über 110 °C ist die etablierte Technologie zum Erzeugen der hohen Temperaturen das Verbrennen von Brennstoffen in fester/flüssiger/gasförmiger Form. Vereinzelt kommen auch Systeme auf Basis elektrischen Stroms zum Einsatz. Im Falle stark steigender Gas/Öl-Preise ist damit zu rechnen, dass alternative Energieträger zunehmen kosten­attraktiver werden. Bei einer Änderung des hohen Preisunterschiedes je kWh bei Erdgas im Vergleich zu Strom, könnten Hybrid- oder Elektrosysteme interessanter werden. Gemeint sind hierbei Kessel, die zusätzlich zum klassischen Brenner über ein elek­trisches Heizelement verfügen. Der Dekarbonisierung zuträglich sind diese Lösungen jedoch nur dann, wenn der Strom nicht aus Kohlekraftwerken oder ähnlichem stammt. Aktuell noch verursacht jede Kilowattstunde Strom in Deutschland bis sie am Hausanschluss ankommt etwa doppelt so viel CO2 wie die gleiche Energiemenge Erdgas.

Die Anschlussleistung: Drohende Blackouts beim Anfahren von Anlagen?

Aktuell werden von Kraftwerken in Deutschland insgesamt jährlich etwa 545 Terrawattstunden Strom erzeugt. Gleichzeitig liegt die installierte Kapazität von gewerblichen/industriellen Kesselanlagen (nur gas-betriebene Anlagen) bei 340 Terrawattstunden. Selbst mittelfristig erscheint ein Ausbau der Stromerzeugung/-verteilung um diesen Betrag (etwa 60 %) unrealistisch. Kreieren wir dennoch ein rein elektrisches Szenario, in dem alle heutigen Dampf-/Heißwasser-/ und Großwasserraum-Heizkessel auf elektrische Kesselanlagen umgestellt werden. Man stelle sich z. B. vor, eine Papierfabrik oder ein Kraftwerk mit Dampfturbine startet seine Dampfkessel­anlage mit einer Kapazität von 100 Tonnen Dampf pro Stunde. Bei Volllast bezieht die Anlage eine Leistung, die der von etwa 75 000 Staubsaugern auf voller Leistung entspricht (seit 2017 limitiert auf 900 Watt). Mancherorts stehen jedoch eine Vielzahl solcher großen Kesselanlagen innerhalb desselben Strom­netzes und viele Betriebe starten morgens zu ­ähnlichen Zeiten die Produktion. Heutige Stromnetze und Kraftwerke sind mit diesen hohen Leistungen und dynamischen verbraucherseitigen Schwankungen schlichtweg überfordert. Berücksichtigt man zusätzlich die steigende Schwankung der Verfügbarkeit elektrischer Energie aus Wind- und Sonnenkraft, wären Blackouts kaum zu vermeiden.

Eine kurz- oder mittelfristige reine Elektrifizierung größerer Kesselanlagen ist daher unwahrscheinlich. Würde der Gaspreis stark ansteigen und gleichzeitig der Preis pro Kilowattstunde elektrischen Stroms auf dem heutigen Niveau bleiben, sind eher Hybrid­lösungen mit Brenner und zusätzlichem elektrischen Heizelement denkbar. Diese sind bislang nur sehr vereinzelt im Einsatz wegen der hohen Kosten für elektrische Heizstäbe im MW-Leistungsbereich. ­Heutige Einsatzbeispiele umfassen die Eigenstrom­erzeugung mit mangelnden Einspeisemöglichkeiten, die vor einigen Jahren moderne Teilnahme am Regelenergiemarkt oder die Anwendung in skandinavischen Ländern mit extrem niedrigen Strompreisen.

Biomasse – nachwachsend, aber mit bedenklichen Abgasen

Für Anlagen mit Biomasse wie z. B. Holz, aber auch industrielle Abfälle natürlichen Ursprungs, gelten seit jeher deutlich höhere zulässige Grenzwerte für klimaschädliche Treibhausgase und Feinstaub im Abgas. Technisch wären auch bessere Werte möglich, machen jedoch teurere Filter-/Katalysatortechnik nötig. Scheinbar also grüne Energie durch Verbrennung von Biomasse geht mit deutlich erhöhten Abgasemissionen einher. Neben Feinstaub sind auch die Stickoxid- und Kohlenmonoxidwerte deutlich höher als bei der Verbrennung von Erdgas. Aus den zumeist höheren Abgastemperaturen resultieren zudem ­niedrigere Wirkungsgrade. Nichtsdestotrotz hat Biomasse­verbrennung ihre Berechtigung: In vielen Fällen ­mangelt es insbesondere bei der Verbrennung von brennbaren Biomasse-Abfällen (z. B. Holzreste, Nussschalen, Reisspelze) oft an alternativen Nutzungs­möglichkeiten. Erwähnt werden sollte, dass in der Gesamt-CO2-Bilanz auch Holz nicht ganz ­klimaneutral ist. Betrachtet man z. B. den Gesamt­prozess der Holzpellet-Herstellung bezüglich CO2 ergeben sich gegenläufige Effekte. Allein für die ­Trocknung und Herstellung werden etwa 10 % der enthaltenen ­Energie aufgewendet, hinzu kommen Transportwege von Rohmaterial und Pellets.

Biomasse-Emissionsbilanzen werden oft um jenes CO2 geschönt, das Bäume während ihres Wachstums der Atmosphäre entzogen haben. Es wird leider jedoch nicht berücksichtigt, welche Menge an CO2 der Baum in seinem künftigen Lebenszyklus noch hätte binden können. Am Ende des Tages ist ­entscheidend: Welche Abgase entlässt der Kamin einer Anlage. Zudem stellt sich beim Thema Biomasse die Frage der Skalierbarkeit. Die benötigten Anbau­flächen zur weltweiten ­Substitution heutiger gas-/­ölgefeuerter Prozesswärme-­Systeme wären enorm (unrealistisch) und die ­resultierende Logistik würde ebenfalls einige Herausforderungen mit sich bringen.

Bio-Kraftstoffe/-Gase: Eine echte Alternative?

Schon heute werden viele Anbauflächen auf Grund von Subventionen für die Erzeugung von Biomasse zur Biogasgewinnung oder von Pflanzenöl als Energie­träger genutzt. Das hat entscheidende Einflüsse auf die Ökologie und die Verfügbarkeit der Anbauflächen für die Nahrungsmittelproduktion. Ähnlich wie bei der Biomasse stellen sich auch hier die Herausforderungen bei der Skalierung auf den weltweiten Energie­­bedarf der Industrie. Zudem sind sie schwieriger zu verbrennen bzw. weisen höhere Abgasemissionen auf. Ein langfristiger, global dominanter Anteil an Bio-Brennstoffen ist somit kaum zu erwarten.

Wasserstoff: Saubere Alternative mit Tücken

Das Prinzip ist ebenso genial wie simpel. Man trenne Wasser durch Elektrolyse in seine Bestandteile auf und verbinde sie wieder durch Verbrennung. Anstelle von CO2 entsteht als Abgas Wasserdampf. Wasserstoff als Energieträger scheint auf den ersten Blick langfristig eine charmante Lösung als Primärenergieträger für Prozesswärmeerzeuger zu sein. In der Praxis ergeben sich jedoch einige langfristige ­(lösbare) Herausforderungen.

Es beginnt bereits mit der Wasserstofferzeugung: In Reinform ergeben sich Probleme beim Speichern und Sicherheitsrisiken, da bei Leckagen Knallgas­reaktionen drohen. Die anteilige Beimischung in die bestehende Gas-Infrastruktur wird schon heute im sehr kleinen Prozentbereich (< 2 %) praktiziert. Eine Erhöhung ist bei steigender Verfügbarkeit wahrscheinlich, bedarf jedoch Anpassungen bei Infrastruktur und Verbrauchern. So genannte reversible Brennstoff­zellen versprechen höhere Wirkungsgrade als die ­Elektrolyse, dienen in erster Linie aber der Nutzung von Wasserstoff zur Stromerzeugung. Auch bei der Verbrennung von Wasserstoff entstehen neue technische Herausforderungen, die bei den heutigen ­Verbrennungsmethoden für Öl und Gas noch nicht praktisch auftreten. Es resultieren neue ­Anforderungen sowohl an den Brenner und Kessel sowie an die ­Distribution und Sicherheitseinrichtungen. Bosch hat bereits mehrere Anlagen mit Wasserstoff umgesetzt, einige davon im Betrieb mit reinem Wasserstoff.

Für Industriekunden ist die Nutzung von reinem ­Wasserstoff als Brennstoff noch eher praktikabel als z. B. für heimische Heizzwecke. Bei industriellen Prozesswärmesystemen spielen die Anschaffungs­kosten vergleichsweise eine deutlich geringere Rolle (durchschnittlich etwa 2 % der Gesamtbetriebskosten über 15 Jahre).

Zur Steigerung der Handelbarkeit von Wasserstoff gibt es mehrere technische Verfahren, die jedoch alle eines gemeinsam haben: Sie reduzieren den Gesamtwirkungsgrad der Erzeugung des eigentlichen ­Mediums. Bei der Herstellung von Wasserstoff mit Strom und anschließender Methanisierung zur Netz­einspeisung mit 80 bar gehen 36–50 % der ursprünglich zugeführten Energie verloren. In Anbetracht der zusätzlich notwendigen Technik verteuert sich der Preis pro Megawattstunde enorm. Ungelöst ist hier auch noch die kostengünstige Extraktion von CO2 aus der Luft, da nicht ausreichend reine Wasserstoff-­Quellen im großen Maßstab verfügbar sind. (Aktuell kostet die CO2-Extraktion aus der Luft noch mehrere hundert Euro pro Tonne.) Ebenso noch nicht aus­reichend wirtschaftlich darstellbar zur Ablösung von Erdgas als Brennstoff ist das Extrahieren von Wasserstoff aus Erdgas, um CO2 im Verbrennungsprozess zu ­vermeiden. In den kommenden Jahrzehnten ist mit Fortschritten in der Wasserstoff-Technik zu rechnen.

Fazit

Auch im industriellen Sektor beginnt eine Abkehr von fossilen Brennstoffen für wärmetechnische Anlagen. Sobald es wirtschaftlich dargestellt werden kann, ist es wahrscheinlich, dass viele Prozesse <110 °C und Heizanwendungen auf alternative Technologien oder Brennstoffe umgestellt werden. Deutlich länger wird die Umstellung für Prozesswärmeanwendungen andauern. In Anbetracht der hohen Einsparungs­möglichkeiten bei Bestandsanlagen ist dort zunächst mit umfangreichen energetischen Modernisierungen zu rechnen. Langfristig bleibt es offen, ob sich Wasser­stoff- oder strombasierte Systeme durchsetzen und wie sich diese Durchsetzung regional verteilt. 

Für die meisten Anwendungen werden zur sicheren Erzeugung von Dampf oder als hydraulische Systemkomponente in geschlossenen Systemen weiterhin Großwasserraumkessel zum Einsatz kommen. Wasserrohr­kessel werden hingegen langfristig fast nur noch in Bestands-/Großanlagen oder Sonder­anwendungen (Temperauren > 300 °C) zu finden sein. Hersteller von Kesselanlagen und Brennerhersteller müssen sich mittelfristig voraussichtlich auf ­vermehrte Sonderbrennstoff-Projekte einstellen. Hierbei bietet sich für eine Vielzahl von Bestands­anlagen die Umrüstung an. Die Energieerzeuger selbst können oft noch viele Jahrzehnte mit geändertem Brennstoff betrieben werden, sofern die immer ­strikter werdenden Abgaslimits eingehalten werden.

Da Kesselanlagen bei guter Wartung mitunter sehr langlebig sind und mehrere Jahrzehnte in Betrieb sein können, sollte man sich frühzeitig Gedanken über spätere Nutzung machen. Ist langfristig ein Betrieb mit Wasserstoff oder alternativen Brennstoffen ­denkbar, kann dies bereits heute konstruktiv berücksichtigt werden, da diese Kessel prinzipbedingt eine etwas andere Konstruktion benötigen. 


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