Richterliche Fragepflicht vs. einseitige Parteibevorzugung
Die Bestimmung von Art. 56 ZPO gibt dem Richter die Möglichkeit, einer unbeholfenen Partei anlässlich der Verhandlung mit konkreten Fragen etwas unter die Arme zu greifen, um damit im Sinne der Gerechtigkeit zu verhindern, dass diese lediglich aufgrund ihrer mangelnden Erfahrung in der Prozessführung dem Opponenten unterliegt. Es handelt sich hierbei um eine schwierige Gratwanderung zwischen sozialer Gerechtigkeit und einseitiger Bevorzugung einer Partei im Verfahren. In der Praxis muss leider immer wieder festgestellt werden, dass die richterliche Fragepflicht von den Gerichten arg überstrapaziert bzw. teilweise gar in krasser Weise verletzt wird, mithin das Gericht einseitig zum unterstützenden Anwalt einer unvertretenen Partei mutiert.
Ist das Vorbringen einer Partei unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig, so gibt ihr das Gericht durch entsprechende Fragen Gelegenheit zur Klarstellung und zur Ergänzung (Art. 56 ZPO). Der Zweckgedanke der allgemeinen gerichtlichen Fragepflicht nach Art. 56 ZPO besteht darin, dass eine Partei nicht wegen Unbeholfenheit ihres Rechts verlustig gehen soll, indem der Richter bei klaren Mängeln der Parteivorbringen helfend eingreifen soll. Die Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht darf aber keine Partei einseitig bevorzugen und nicht zu einer Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Parteien führen. Die gerichtliche Fragepflicht dient sodann nicht dazu, prozessuale Nachlässigkeiten der Parteien auszugleichen (BGer 5A_592/2018, E. 2.4 vom 13. Februar 2019).
Der Auftrag des Richters ist somit klar abgesteckt, er soll die Parteien durch Fragen darauf aufmerksam machen, dass ihre Tatsachenvorträge bzw. die Begründung ihrer Anliegen der Klarstellung und Ergänzung bedürfen. Dabei hat sich der Richter darauf zu beschränken, eine Partei beispielsweise danach zu fragen, ob es denn Beweise (Dokumente oder Zeugen) für die aufgestellten Behauptungen gäbe oder ob die Ausführungen noch etwas verdeutlicht bzw. ergänzt werden könnten, zumal diese aktuell nicht dazu ausreichen würden, damit das Gericht eine Beurteilung vornehmen kann. Mit anderen Worten hat das Gericht die mangelhaft prozessierenden Partei mit entsprechenden Substantiierungshinweisen darauf aufmerksam zu machen, wo von ihr in materieller Hinsicht noch mehr kommen muss. Dabei ist unter anderem auch der Hinweis auf den jeweiligen Aktenschluss, mithin die Schranke für die Einreichung weiterer Unterlagen gemeint.
Nun ist es aber so, dass in der Praxis verschiedene Beispiele festgestellt werden müssen, welche weit über diese Fragepflicht sowie die Substantiierungshinweise hinausgehen. Mithin sieht sich die Gegenpartei zu ihrer grossen Verwunderung damit konfrontiert, dass sich der Richter - insbesondere nachdem die erste Runde der Parteivorträge bereits durch ist - plötzlich als Quasianwalt der nicht vertretenen Partei konstituiert und auch dementsprechend proaktiv auf den Prozess einwirkt, mithin in Verletzung der von Art. 56 ZPO versucht wird, prozessuale Nachlässigkeiten der Gegenseite ausgeglichen werden. Die in solchen Fällen eigentlich geltende Verhandlungsmaxime, wonach es Sache der Parteien ist, darüber zu entscheiden, wann sie welche Behauptungen und Beweise in den Prozess einbringen wollen, wird in regelmässig - und dies in unzulässiger Weise - von der Untersuchungsmaxime abgelöst, bei welcher es das Gericht ist, welches den Sachverhalt selbst erforscht und Recherchen anstrengt.
Die nachfolgenden Fallbeispiele zeugen m.E. von einer einseitigen Bevorzugung einer Partei und diese können daher nicht unter die richterliche Fragepflicht :
- Es wird nach ganz konkreten Unterlagen gefragt, welche zwar ein Thema gewesen, allerdings noch nicht in den Prozess eingeflossen sind.
- Es wird regelrecht darauf gedrängt, dass solche Unterlagen auch tatsäclich in den Prozess miteinfliessen und diese eingereicht werden - "möchten Sie diese Unterlagen nicht jetzt noch vor dem Aktenschluss einreichen" oder "wenn Sie diese Unterlagen jetzt nicht einreichen, dann können wir diese anschliessend nicht mehr berücksichtigen".
- Es werden ganze Stapel von quer durcheinander gemischten sowie unnummerierten Akten entgegengenommen, auf welche in den vorangehenden Vorträgen nicht einmal ansatzweise verwiesen wurde.
- Es werden pauschale Anträge auf Zeugen- oder Parteibefragungen - hier kann zum Nahelegen der entsprechenden Beweisanträge auf die voranstehenden Ausführungen zu den Unterlagen verwiesen werden - entgegengenommen, ohne dass auch nur mit einem Wort ausgeführt wird, zu welchem Thema oder zu welcher konkreten Frage diese zu befragen sind.
- Es werden unter dem Deckmantel von "iura novit curia" Plausiblitätsberechnungen von Forderungsbeträgen vorgenommen, welche zuvor lediglich mit einem Verweis auf eine im Recht liegende Rechnung begründet wurden und auch trotz entsrechender Aufforderungen durch das Gericht nicht substantiiert dargelegt werden konnten.
- Es wird der anwaltlich vertretenen Partei in völlig überspitztem Formaljurismus vorgeworfen, dass nicht sämtliche Behauptungen der Gegenseite - wohlbemerkt ohne die Abgabe von Plädoyernotizen - im Detail bestritten worden sind, während die unvertretene Partei grundsätzlich keine Bestreitungen im Detail vorgenommen hat, was nach Ansicht des Richters allerdings schlichtweg kein Thema ist.
- Es werden quasi beratend Empfehlungen abgegeben, wie eine an und für sich undgenügende und daher aussichtslose Klage noch einmal - allenfalls mit der Unterstützung eines Anwaltes - eingereicht werden könnte.
- Schliesslich werden diese Punkte im Rahmen der provsorischen Einschätzung der Rechtslage auch noch sauber verpackt und bei der Berechnung eines Vergleichsvorschlages auch noch als Prozessrisiko der anwaltlich vertretenen Partei dargestellt, deren sauber dargelegte Argumente in ihren Vorträgen mit Hilfe des Gerichts zuvor "entkräftet" worden sind; aus einer aussichtslosen und unsubstantiierten Klage wird also durch Zauberhand eine Erfolgsgeschichte.
Man kann sich vor diesem Hintergrund also durchaus die Frage stellen, ob die Gerichte hier tatsächlich noch ihrer gesetzlich auferlegten Fragepflicht zur Unterstützung von wenig prozesserfahrenen Parteien nachkommen oder ob sich diese nicht vielmehr unter dem Banner der "Wahrheitsfindung" als Kreuzritter der Gerechtigkeit aufführen, was wohl unbestrittenermassen nicht deren Aufgabe ist. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit wird hierbei auf krasse Art und Weise verletzt. Einen Grund hierfür gibt es übrigens keinen, mithin auch keinen sozialpolitischen, zumal es auch finanziell weniger bemittelten Parteien jederzeit freisteht, sich im Rahmen der unentgetlichen Rechtsverbeiständung anwaltliche Unterstützung für den Prozess zu holen und hiermit für Waffengleichheit zu sorgen.
Mit anderen Worten muss sich eine Partei gut überlegen, ob sie sich im Prozess gegen eine nicht vertretene Partei tatsächlich (gegen aussen erkennbar) tatsächlich anwaltlich unterstützen lassen will oder nicht, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, sich mit dem Richter als Gegenanwalt konfrontiert zu sehen und hierdurch in krasser Weise benachteiligt zu werden. Lediglich der guten Ordnung halber sei anzumerken, dass die richterliche Fragepflicht bei anwaltlich vertretenen Parteien aufgrund des potentiellen Fachwissens im Grundsatz nicht bzw. lediglich mit grosser Zurückhaltung ausgeübt wird.
Gerne nehme ich Erfahrungsberichte anderer Prozessanwälte oder auch von Seiten der Gerichte entgegen. Ich bin gespannt, ob hier ähnliche Feststellungen getätigt werden können.
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3 JahreGuter Post, der deutlich weiter führt - die richterliche Beweiswürdigung ist natürlich anderes Gebiet, wo die Gerichte enormes Ermessen haben - offenkundig in den Rechtsmittelverfahren, wo die vorinstanzliche Beweiswürdigung nur selten in Frage gestellt werden kann und muss - letztlich halt Teil der kunstvollen Prozessführung, wo die AI nie eine Rolle spielen wird - gut so !
Kommunikationsverantwortliche Bistum Chur, Mitglied des Bischofsrates. Beratung, Coaching, Strategiemanagement
3 JahreGute Frage!