Sammelklagen - Die Reform des KapMuG bewertet
Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) soll Anlegern die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erleichtern, indem es Musterverfahren wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen ermöglicht. Von Anfang an umstritten und dysfunktional, soll das KapMuG nun reformiert werden. Das BMJ hat nun einen Regierungsentwurf dazu vorgelegt, den ich nachfolgend kommentiere. Mein Fazit: Wenig Verbesserung.
Das BMJ schreibt: "Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vom 19. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2182), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2186) geändert worden ist (KapMuG), stellt insbesondere für Ansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation ein besonderes zivilprozessuales Musterverfahren vor den Oberlandesgerichten bereit. Tatsachen- oder Rechtsfragen, die sich in mehreren Individualklageverfahren vor den Landgerichten gleichermaßen stellen, werden hiernach dem Oberlandesgericht vorgelegt und in einem einheitlichen Verfahren verhandelt und entschieden, wenn Parteien in mindestens zehn dieser Individualverfahren dies beantragen. Im Anschluss an den Musterentscheid werden die einzelnen Klageverfahren vor den Landgerichten auf dessen Grundlage zu Ende geführt."
Ein erster Durchblick zeigt, dass der nun vorliegende Regierungsentwurf ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber hinter den selbst gesteckten Zielen zurückbleibt. Die Erwartung der Verbraucher, in Deutschland über ein funktionierendes System kollektiven Rechtsschutzes zu verfügen wird durch weitere Gesetzgebung in Zukunft erfüllt werden müssen. Letztlich ist erkennbar, dass der Regierungsentwurf „im Kontext der gefährdeten rechtzeitigen Erreichung der Ziele der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 26. September 2015“ steht, siehe S. 28, 3. Absatz der Begründung.
Zum Regierungsentwurf ist mir folgendes aufgefallen:
A. Zusammengefasst
1.
Nach meinem Dafürhalten krankt das KapMuG in seiner jetzigen Form und auch der jetzt vorliegende Regierungsentwurf (RegE) vor allem daran, dass die Verfahren viel zu lange dauern, im Obsiegensfall nicht zu einem vollstreckbaren Titel für die klagenden Anleger führen, bei gleichgelagerten Schäden keine Typisierung anstelle von zeitaufwendiger Einzelfallbetrachtung ermöglichen und insgesamt eine Insellösung darstellen.
2.
Im Ergebnis begünstigt das KapMuG in seiner jetzigen Form und auch nach dem Regierungsentwurf systemwidrig die Beklagten. Ein Obsiegen im Musterverfahren beendet für die Beklagte den Streit in aller Regel. Klagende Verbraucher werden regelmäßig ihre Klage im Ausgangsverfahren zurücknehmen. Ein Obsiegen der Verbraucher im Musterverfahren macht hingegen einen zweiten Schritt für Verbraucher notwendig: Das Ausgangsverfahren muss vom Verbraucher wieder aufgenommen werden, um zu einem vollstreckbaren Titel zu gelangen.
3.
Hinzu kommt, dass der Anreiz für Beklagte, in ein KapMuG-Verfahren auszuweichen, aufgrund der nahezu schon regelmäßig verfassungswidrig langen Verfahrensdauer, hoch ist und durch massenhafte Frustration der Verbraucher belohnt wird. Die überlangen Verfahrensdauern führen dazu, dass eine klagweise Rechtsdurchsetzung für Verbraucher im Wege eines KapMuG-Verfahrens unattraktiv ist und Verbraucher daher oftmals dann von einer Rechtsdurchsetzung Abstand nehmen, wenn offensichtlich ist, dass die Beklagte sich in ein KapMuG-Verfahren flüchten kann. Das KapMuG eröffnete für Beklagte die Missbrauchsmöglichkeit, geschädigte Anleger auszuhungern und ihnen die rechtlich binnen angemessener Zeit zuzusprechende Entschädigung vorzuenthalten.
4.
Damit einher geht immer noch, auch nach dem Regierungsentwurf, eine nicht ausreichende Ausstattung derjenigen Gerichte, die zur Bearbeitung von KapMuG-Verfahren berufen sind: Zumeist fehlt denen Personal, Ressourcen und Möglichkeiten der Digitalisierung. Das Wirecard Verfahren das schlimmste Beispiel dafür.
5.
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Letztlich gewährt das Instrument der KapMuG-Verfahren auch mit dem Regierungsentwurf kein funktionierendes System der kollektiven Rechtsdurchsetzung. Damit ist das bundesdeutsche Rechtssystem im Vergleich zu anderen modernen Rechtssystemen massiv ins Hintertreffen geraten. Für eine Abhilfe wäre notwendig und auch im Sinne einer Gerichtsentlastung unbedingt angezeigt, dass typisierende Gesamtlösungen für die Beurteilung des Vorliegens anspruchsbegründender Tatsachen ermöglicht werden. Die Beweisregeln der ZPO sehen allerdings immer noch den strengen Vollbeweis und die Beurteilung eines jeden Einzelfalles vor (z.B. bei der Berechnung der Schadenshöhe). Dieses Problem sollte angegangen werden und insgesamt ein System des kollektiven Rechtsschutzes entwickelt werden, welches nicht – wie jetzt – auf voneinander schwer abgrenzbaren Insellösungen aufbaut, sondern nur ein, aber dafür umfassendes Instrument des kollektiven Rechtsschutzes prozessual zur Verfügung stellt. Dahinter bleibt der Regierungsentwurf aber zurück.
B. Im Detail
1.
Richtig ist, dass § 11 des Referentenentwurfes gestrichen wurde und nun nach § 12 Abs. 1 des Regierungsentwurfs eine Erweiterung um weitere Feststellungsziele ohne Frist möglich ist. Es ist erfreulich, dass unsere Anregungen vom Ministerium hier aufgenommen worden ist.
2.
Erfreulich ist, dass die Möglichkeit der Klagrücknahme aus § 8 Abs. 2 alter Fassung jetzt in § 17 Abs. 1 Regierungsentwurf enthalten ist. Auch hier ist es sehr begrüßenswert, dass das Ministerium unsere Anregungen aufgenommen hat.
3.
Hinsichtlich der Aussetzung nach § 8 alter Fassung scheint man von dem im Referentenentwurf verfolgten Lösungsansatz einer vollständigen Streichung abgekommen zu sein und mit § 10 Regierungsentwurf zu einer Lösung gefunden zu haben, die den bisherigen Rechtsstaat in praxi weitgehend ähnlich ist. Zwar kann der Ausgangsrechtsstreit weitergeführt werden, wenn beide Parteien dies wollen. Dies wird in praxi aber kaum vorkommen. Der Änderungsvorschlag des Referentenentwurfes für § 148 Abs. 5 ZPO scheint im Regierungsentwurf jedenfalls nicht beibehalten worden zu sein.
4.
Hinsichtlich der Rolle des Oberlandesgerichts ist der Wunsch nach Stärkung beibehalten worden, aber mE nicht hinreichend umgesetzt. Der Referentenentwurf sieht eine Stärkung der Rolle des Oberlandesgerichts vor. Nach § 7 Abs. 1 Regierungsentwurf soll das OLG nicht mehr an den Vorlagebeschluss des Ausgangsgerichts gebunden sein. Das OLG soll nunmehr selbst die Feststellungziele bestimmen können, § 9 Abs. 2 Nr. 1, § 12 Abs. 3 Regierungsentwurf.
Dies wirft die Frage nach der Fähigkeit des OLG auf, zielführende Feststellungsziele zu bestimmen. Das Ausgangsgericht verfügt über die Akten des Ausgangsverfahrens und die detaillierte Kenntnis des Sach- und Streitstandes. Nach unserer Lesart des Regierungsentwurfes fehlt dies beim OLG, und ein Rückgriff allein auf die dem OLG vorgelegten Musterverfahrensanträge wird für das OLG nur ausnahmsweise eine ausreichende Grundlage zur Bestimmung der Feststellungsziele sein – so aber § 9 Abs. 2 RegE-KapMuG. Hilfreich wäre es, wenn der Regierungsentwurf zur Stärkung der Rolle des OLG auch vorsehen würde, dass das OLG inhaltlich in den Stand versetzt wird, zielführende Feststellungsziele bestimmen zu können. Hier greift der Regierungsentwurf zu kurz.
5.
Hinsichtlich der Rechtskrafterstreckung, also der Bindungswirkung des Musterentscheids für die Beteiligten, ist mein erster Eindruck, dass der Regierungsentwurf die alte Rechtslage weiterführt. Der Referentenentwurf hatte noch zum Ziel, die Breitenwirkung eines KapMuG-Beschlusses zu stärken, hätte aber mit den vorgesehenen Änderungen dieses Ziel ohnehin nicht erreicht. Insofern ist der Regierungsentwurf „realitätsnah in seiner Ambition“ oder schlicht "ambitionslos".
Chief Economist/Head of Research at LBBW || Senior Fellow SOAS University of London 🟨🟦. Personal Views only/Hier Privatmeinung
9 MonateHaben wir uns wieder um einen Tag verpasst. Schade! VG.