Schriftliches Berufungsverfahren als Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGer 6B_973/2019 Urteil vom 28. Oktober 2020, Publ.)

Im vorliegenden zur Publikation vorgesehen Urteil kassierte das Bundesgericht erneut ein obergerichtliches Urteil (Kanton Aargau) wegen Verletzung des in Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerten rechtlichen Gehörs.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zu Grunde: A. habe mit einem spitzen Gegenstand bei zwei in einer Garage parkierten Autos die Lackierung beschädigt. Die Staatsanwaltschaft erliess einen Strafbefehl wegen mehrfacher Sachbeschädigung, den A. mittels Einsprache anfocht. Das schliesslich angerufene Einzelgericht des Bezirksgerichts sprach A. in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo frei, da A. auf den privaten Videoaufnahmen nicht hinreichend erkennbar gewesen sei. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft verurteilte das Obergericht A. im schriftlichen Berufungsverfahren wiederum wegen mehrfacher Sachbeschädigung. Dagegen gelangte A. an das Bundesgericht.

Das Bundesgericht rekapituliert, dass die Berufung als primäres Rechtsmittel grundsätzlich als mündliches, kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet sei (s. Art. 405 StPO). Das schriftliche Verfahren, das in Art. 406 StPO geregelt sei, bilde die Ausnahme. Vorliegend argumentierte das Obergericht, dass es sich bei den Parteien erkundigt habe, ob sie mit der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens einverstanden seien, wobei bei fehlender Mitteilung innert Frist eine Zustimmung angenommen werde. Mangels Stellungnahme von A. sei daher das schriftliche Verfahren nach Art. 406 Abs. 2 lit. b StPO zulässig gewesen.

In der Folge entschied das Bundesgericht die in der Lehre umstrittene Frage, ob die Voraussetzungen nach Art. 406 Abs. 2 lit. a und lit. b alternativ oder kumulativ vorliegen müssten. Völlig zu Recht erachtete es letztere Auffassung als sachgerecht, da «nicht einleuchtend sei» inwieweit auf das mündliche Verfahren verzichtet werden könne, wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nach lit. a erforderlich sei. Nach der Rechtsprechung sei es zwar zulässig – wie dies das Obergericht tat – einen Verzicht zu fingieren, wenn sich die beschuldigte Person nicht innert Frist äussere, indes entbinde dies das Berufungsgericht nicht von der Prüfung, ob die Anwesenheit der beschuldigten Person erforderlich sei.

Nach eingehender Darlegung der EGMR-Rechtsprechung schloss das Bundesgericht, dass das Berufungsgericht, welches – wie vorliegend – die erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen verwerfen und die beschuldigte Person in Abänderung des angefochtenen Urteils schuldig sprechen möchte, den Sachverhalt nicht nur auf Grundlage der Akten feststellen könne, sondern die Betroffene zu einer mündlichen Berufungsverhandlung vorzuladen habe, so dass sich diese zu den Vorwürfen persönlich äussern und diejenigen Umstände vorbringen könne, die der Klärung des Sachverhalts und ihrer Verteidigung dienen könnten. Da das Berufungsgericht dies unterlassen habe, brachte es zum Ausdruck, dass es den Aussagen von A. als angeklagte Person für seine Beweiswürdigung keine Bedeutung beimesse. Damit habe es A. in unzulässiger Weise auf ein blosses Objekt staatlichen Handelns reduziert, mithin auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

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