Sechs spürbare Folgen von Digitalisierung

Der Druck, sich mit dem Thema Digitalisierung auseinanderzusetzen, steigt in Deutschlands Chefetagen täglich. Handelt es sich nur um einen weiteren Hype, wie wir ihn schon vor 15 Jahren zu Zeiten der New Economy erlebt haben? Oder steckt mehr dahinter? 

Egal, auf welcher Grundlage in Konzernen Strategien geformt und Entscheidungen gefällt werden – die Folgen und Auswüchse der Digitalen Transformation erleben wir tagtäglich. Digitalisierung bedeutet, dass jede Information überall zu jeder Zeit und für jedes System in Echtzeit verfügbar ist.

Der viel zu früh verstorbene Prof. Peter Kruse († 01.06.2015) stellte bereits vor einigen Jahren in seinem Beitrag zur öffentlichen Anhörung am 5. Juli 2010 der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft (Ausschussdrucksache 17(24)004-H vom 5.7.2010) eine Reihe von Thesen auf, die sich heute verfestigen. Sie bilden einen Rahmen für die folgenden Überlegungen.

Hier sind sechs Punkte, auf die Sie achten können, um sich selbst ein Urteil zu bilden, wie stark allgemeine Digitalisierungsideen im täglichen Leben bereits um sich greifen. Alles kommt auf den Prüfstand. Kultur, Kommunikation, Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsleben beeinflussen:

1. Machtverlagerung von Anbietern auf Nachfrager

Organisationen sind primär auf Systemkontrolle und Wettbewerb ausgerichtet. Social Media Plattformen jedoch verleihen Stakeholdern Macht! Einer der bekanntesten Shitstorms wurde durch Greenpeace ausgelöst: Die Organisation kritisierte, dass riesige Mengen Palmöl in die Produktion von Nestlés Schokoriegel KitKat einfließen. Durch die Ausweitung von Plantagen werden jedoch die Lebensräume seltener Orang Utans zerstört. Das Unternehmen Nestlé wollte die Diskussion durch Website-Sperrungen und Video-Löschungen unterdrücken und goss so noch mehr Öl ins Feuer! Aber Social Media ist gekommen, um zu bleiben. Kein erfolgreiches Konzept kommt mehr ohne sog. Shareconomy-Ansätze aus. Nachfrager bestimmen Produktentwicklung und Geschäftsmodelle.

2. Auftretenswahrscheinlichkeit für Lawinen-Effekte

Die Wahrscheinlichkeit der o. g. Empörungswellen ist signifikant höher geworden. Dafür sorgt

a) eine steigende Dynamik von immer mehr Teilnehmern an immer mehr Plattformen und

b) eine wachsende Vernetzungsdichte von immer mehr Endgeräten und Dingen des täglichen Lebens („Internet of Things“). 

Jeder Mensch mit Telefon und Netzzugang kann ohne besondere Kenntnisse durch spontane Aktivitäten Inhalte erzeugen, bewerten oder verteilen. Sobald diese Inhalte „im Gleichschritt“ auf ein Thema mit großem Resonanzboden (z. B. „Flüchtlingsdebatte“) stoßen, entwickeln die Beiträge eine Eigendynamik, die nicht mehr zu beherrschen ist.

3. Internet-Dynamik als Spiegel von Gesellschaftsdynamik

Aufgrund der Strukturen und Möglichkeiten im Internet, entsteht ein generell wachsendes Bedürfnis der Menschen, sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Wo vor zehn Jahren in Zeitungen vereinzelte Leserbriefe abgedruckt wurden, finden sich unter ähnlichen großen Verlagsartikeln der früheren Leitmedien in Minuten hunderte Kommentare. Unterschiedliche Stakeholder-Perspektiven, deren Kampf offen im Netz ausgetragen wird, fordern von Unternehmen und Institutionen daher maximale Transparenz und Nachhaltigkeit ab.

4. Re-Politisierung der Öffentlichkeit 

Den erstaunlichsten Hebel der Digitalisierung finden wir in der sog. Re-Politisierung der Öffentlichkeit wieder. Nachrichten verschiedenster Medientypen und -richtungen rasen in Streams und Timelines förmlich an uns vorbei. Die dadurch gewonnene Möglichkeit, gesellschaftliche Zusammenhänge schneller zu erfassen, führt in Verbindung mit der unter 1. erläuterten Machtverschiebung zu teilweise extremen politischen Bewegungen und Meinungsäußerungen der Öffentlichkeit. Auch dies betrifft Unternehmen und Institutionen im gleichen Maße.

5. Entwicklung von Bewältigungsstrategien

Die persönlich spürbarste Folge von Digitalisierung ist die eigene Suche nach Bewältigungsstrategien, um dem dauernden Druck von E-Mails, Push-Notifications oder Whats-App-Nachrichten zu entkommen. Viele User, die morgens noch vor dem Zähneputzen ihre Facebook-Timeline checken, sind wahrscheinlich längst über diesen Punkt hinaus. Die teilweise pubertäre Angst, irgendetwas zu verpassen oder vom digital sozialen Umfeld sanktioniert zu werden, ist latent vorhanden. Umgekehrt wird hier eine Zielgruppe für Produkte ansprechbar, die Vernetzung („smart home“), schnelle Problemlösung („Apps“) und Stressreduktion („Einfachheit“) versprechen.

6. Missverhältnis zwischen erlebter Flüchtigkeit von Interaktionen und dauerhafter Speicherung hinterlassener Spuren

Dem lieben Gott sei Dank, dass ich in den 70ern geboren, den 80ern aufgewachsen und den 90ern erwachsen geworden bin: über den Unsinn, den wir angestellt haben, dürften keinerlei elektronische Beweise existieren! Auch dass die Volkszählung 1987 noch von einer Reihe von Bürgerprotesten und einem Boykott begleitet wurden, mutet irgendwie süß an. Heutige Schulkinder mit Smartphones bekommen die Datenproduktion dagegen quasi mit in die Wiege gelegt. Die Anzahl der Bilder, Videos und Links, die täglich über Messengerdienste laufen, ist absurd hoch. Doch kein Mensch macht sich Gedanken darüber, wo diese Daten verarbeitet und gespeichert werden. Das Missverhältnis zwischen der „Mal eben versenden“-Flüchtigkeit und der dauerhaften Speicherung hinterlassener Spuren ist eklatant. Die Mittel, die Institutionen heute zur Verfügung stehen, bewegen sich jenseits jeglicher Orwell‘scher Ideen.

Von einem Hype im Sinne einer Welle oberflächlicher Begeisterung kann bei Digitalisierung also keine Rede sein. Der Druck, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, wird nicht geringer werden.

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