Sehe ich klar oder mein Blick verengt?
Was ich von Michelangelo lerne
Von dem berühmten Künstler Michelangelo Buonarroti wird folgende Begebenheit tradiert. Ich zitiere sie hier frei. Auf die Frage, wie er das Motiv einer Statue aus dem Stein herausarbeitet, soll er gesagt haben: Die Figur ist längst da. Meine Aufgabe ist es, sie behutsam aus dem Stein zu befreien.
Mich hat dieser Satz inspiriert. Ich habe mich gefragt, ob es mir gelingt, beispielsweise das Projekt, mit dem ich zu tun habe, aus diesem Blickwinkel zu sehen? Arbeite ich daran, die Vision meines inneren Auges aus den Widrigkeiten und der Komplexität der Umstände zu “befreien” und ihr Gestalt zu geben?
Man liest immer wieder in der Managementliteratur, dass man weniger im Projekt und vielmehr am Projekt arbeiten soll. Das kling schlüssig, setzt aber dreierlei voraus:
- Ich habe ein klares Bild dessen, was ich erreichen will.
- Ich nehme die Gegebenheiten und die damit in Verbindung stehenden Herausforderungen umfänglich wahr und passe mein Handeln an.
- Ich gestatte mir immer wieder eine innere Distanz, mit deren Hilfe ich neu kritisch Maß nehme und ggf. korrigierend eingreife.
Das klare Bild
Wie oft ertappe ich mich dabei, dass ich kein klares Bild dessen habe, was ich erreichen will. Die Dringlichkeit der Aufgabe, der Arbeitsdruck oder meine eigene Denkfaulheit halten mich davon ab, zu sehen, was ich eigentlich erreichen will.
Der verengte Blick
Im Projektverlauf gibt es viele Variablen und wenig Konstanten. Anstatt mich dahingehend zu disziplinieren, immer wieder das ganze Projekt mit seinen verschiedenen Einflussgrößen zu sehen, erlaube ich mir Abkürzungen. Es ist ja auch relativ leicht, sich auf seine Erfahrungen zu verlassen oder mit einer “das wird schon passen” Haltung ans Werk zu gehen. Später, am Ende einer Sackgasse angekommen, bereue ich diesen Fehler und gestehe mir zähneknirschend ein, dass ich wider besseres Wissen unnötige Umwege gegangen bin.
Die innere Distanz
Besonders dann, wenn ich emotional in ein Projekt investiert habe, fällt es mir schwer, zurückzutreten und mir einen objektiven Blick zu gönnen. Was, wenn ich feststellen sollte, dass ich mich total verrannt habe? Um mich dieser unangenehmen Erkenntnis nicht stellen zu müssen, bin ich versucht, in Vogel-Strauß-Manier den Kopf in den Sand zu stecken und weiter zu wursteln.
Die Schönheit entdecken
Mir gefällt das Bild der aus dem Stein zu befreienden Figur. Sie weist auf eine ungewöhnliche Sichtweise hin. Bezogen auf mein Umfeld legt sie nahe, dass in meinen Projekten eine innere Schönheit steckt, die herausgearbeitet, also freigelegt werden will. In einer von Kennzahlen, Termindruck und Renditedenken dominierten Welt gibt sie m.E. einen wertvollen Hinweis, der letztlich zu besserem Ertrag führt.
Was kann ich tun?
- Ich kann hartnäckig die Vision von mir selbst und andern einfordern. Ich mache sie mir zu eigen, indem ich sie “atme” und “lebe”.
- Dann widme ich mich dem verengten Blick. Ich diszipliniere mich, immer wieder auf das große Ganze zu schauen.
- Schließlich schaffe ich mir bewusst Raum und Zeit, also innere Distanz, in der ich mir den wohlwollenden kritischen Blick auf mein Projekt gönne.
Wolf-Dieter Kretschmer ist Redaktionsleiter bei ERF Medien. Außerdem schreibt er regelmäßig rund um die Themen Leiten/Führung und Leben.