Selbstoptimierungswahn – Born to Perform?

Selbstoptimierungswahn – Born to Perform?

„Selbstoptimierung beginnt damit, dass man sich selbst nicht so wichtig nimmt.“ Diese Aussage von Dieter Schumacher scheint in der heutigen Zeit völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Denn der aktuelle Boom zum Thema Selbstoptimierung nimmt exorbitante Ausmaße an. Frei nach dem Motto „Born to Perform“ wird am Abend schon überlegt, wie der nächste Tag noch produktiver gestaltet werden kann. Ich frage mich aber: Wo führt dieser ständige Selbstoptimierungswahn uns noch hin?

Die Jagd nach Perfektion

Erfolgreicher, schneller, gesünder, reicher, schöner, stärker. Alles geht noch besser – so lautet die Devise, die den Menschen immer wieder vermittelt wird. In der heutigen Gesellschaft wird mittlerweile vorausgesetzt, dass wir immerzu nach Verbesserung streben: an uns selbst, im Job, bei der Familie. Selbstoptimierung ist zum Schlagwort geworden, das unseren Alltag und unsere gesamte Lebensführung prägt. Noch vor Arbeitsbeginn muss morgens möglichst Sport gemacht werden, auf den eine kalte Dusche und ein möglichst gesundes Frühstück mit dem Lieblings-Coach-Podcast im Hintergrund folgen. Wir unterstehen dem Drang zur ständigen Höchstleistung und Effizienz.

Die Werbeindustrie hat diesen Drang nach Selbstoptimierung längst erkannt und ein milliardenschweres Business daraus gemacht. Uns wird vermittelt, dass jedes Lebensfeld unbedingt der Optimierung bedarf. Das reicht von personalisierten DNA-Diäten, zu denen mir vor einiger Zeit ein Artikel über den Weg gelaufen ist, bis hin zum Biohacking, das dem Versuch gilt, das Optimum aus Körper und Geist herauszuholen. Unzählige Selbsthilfebücher und Coaches wollen eine bessere Version unseres Selbst aus uns herausholen. Und die Smartwatch bevormundet uns, wie viele Schritte wir noch bis zu unserem Tagesziel gehen müssen. Die Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit dieser Lebenseinstellung wird uns dann nebenbei noch auf Social Media von perfekt inszenierten Business-Typen und eleganten Führungsdamen vorgelebt, die neben dem 15h-Job auch Zeit für Familie, Sport und die eigene Persönlichkeitsentwicklung finden. Bei all diesem Gerede über unser bestmögliches Selbst frage ich mich aber: Ist dieser ständige Druck zur Verbesserung wirklich das Beste für uns? Wird die Qualität unseres Lebens wirklich durch äußere Erfolge und ästhetische Perfektion bestimmt?

Die Verlierer der Selbstoptimierung – Sind das wir selbst?

Das Streben nach immer mehr und immer besser hat eine klare Schattenseite: Die eigene Authentizität und das eigene Wohlbefinden bleiben sehr schnell auf der Strecke. Wir empfinden durch den Druck dieses Verbesserungsgedankens ein erhöhtes Maß an Stress, das sich schnell auch auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Während wir uns bemühen, in jeder Hinsicht zu wachsen, verlieren wir das Wesentliche aus den Augen – uns selbst. Je mehr wir versuchen, uns zu optimieren, desto mehr kann es passieren, dass wir uns von unserer wahren Identität entfernen. Inmitten des Selbstoptimierungsfiebers sollten wir uns also fragen, ob das Streben nach Perfektion uns wirklich erfüllt. Ich frage mich, wie viel davon tatsächlich von uns selbst kommt und wie viel daher, dass eine passende Werbung uns – bewusst oder unbewusst – beeinflusst hat?

„Pfeif drauf!“

Der dänische Psychologie-Professor Svend Brinkmann stellt sich mit seinem Buch „Preif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungwahn!“ ganz klar gegen diesen Trend. Für ihn ist dieser ständige Gedanke der Selbstverbesserung nicht nur übertrieben, sondern auch gesundheitsschädlich. Er sieht die Folgen davon in Stress, zunehmender Depression und einer Abwendung von unseren sozialen Beziehungen. Das Loslösen von der omnipräsenten Selbstoptimierung ist in seinen Augen der einzige Weg, dem zu entgehen. Anstatt uns von Life-Coachings, Diäten und Optimierungs-Produkten leiten zu lassen, sollten wir vielmehr standhaft sein, maßhalten und unseren Blick wieder auf das Miteinander lenken. Ich schließe mich dem an, habe aber eine wichtige Ergänzung: Dankbarkeit.

Dankbarkeit als Gegenpol zur Selbstoptimierung

Kann man überhaupt jemals zufrieden mit sich selbst und seinem Leben sein, wenn man den Selbstoptimierungs-Gedanken so maßlos übertreibt? Ich denke nicht. Meine Oma hat damals schon immer zu mir gesagt: „Junge, sei doch einfach mal dankbar.“ Denn Dankbarkeit tut uns einfach gut und festigt unsere Beziehung zu anderen. In einer Welt, in der man permanent zu Höchstleistungen getrieben wird, kann Dankbarkeit gar eine Befreiung sein. Der Fokus auf das, was wir haben, anstatt auf das, was uns fehlt, führt zu einem erfüllteren Leben. Dankbare Menschen sind nachweislich zufriedener, haben stabilere Beziehungen und leiden weniger unter negativen Emotionen. Für mich ist dafür das beste Beispiel meine Mutter. Selbst als sie mit ihrer Krebs-Diagnose zu Hause im Sterbebett lag, sprach sie noch davon, wie dankbar sie für alles ist. Erfüllt von Dankbarkeit hat sie jeden Moment im Hier und Jetzt genossen. Ich finde, anstatt ständig darauf aus zu sein, uns zu optimieren, sollten wir genau das tun: dankbar sein für die Dinge, die unser Leben bereits bereichern.


Christine Reinshagen

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Ben Schulz Was für ein berührender Beitrag, Ben. Als ich das gerade gelesen habe, war ich mit meinen Gedanken direkt in meiner Vergangenheit. Es ist viele Jahre her, da habe ich im Krankenhaus geröntgt. Von 10 schweren Unfällen waren 8 bei mir auf dem Tisch. Menschen natürlich. Neben dem Tagesdienst hatten wir Kolleginnen und Kollegen sehr viele Bereitschaftsdienste. Am Wochenende und in den Nächten. Die Arbeit hat viel von uns gefordert. Physisch und psychisch. Trotzdem war da ein großer Zusammenhalt und eine große Unterstützung. Wenn wir einen schwer verletzten Patienten endlich versorgt im Bett wussten, haben sich alle an der Versorgung Beteiligten in der Stationsküche zusammengesetzt, Kaffee getrunken (ja, auch mitten in der Nacht), erzählt und gelacht. Gelacht. Das war wichtig zum Runterkommen. Jeder ging dann, wenn es sich für ihn richtig anfühlte. Die Zeit war anstrengend, hat aber viel Spaß gemacht. Es war schön zu sehen, wie wir anderen Menschen helfen konnten. Und wir waren dankbar. Dafür, dass es uns gut ging. Auch wenn wir müde waren. Und kurz darauf der nächste Einsatz unsere Aufmerksamkeit und Kraft erforderte. Niemand hat damals an die von Dir beschriebene Selbstoptimierung gedacht.

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