"So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein"​.

Warum ich Sterbebegleiterin bin - und was das mit Transformation zu tun hat.
Bilder: Sabine Kluge

"So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein". Warum ich Sterbebegleiterin bin - und was das mit Transformation zu tun hat.

Der bloße Gedanke an den Abschied, das letzte Stück Weg, fiel mir immer schwer. Ich hatte früh meine Mutter verloren, mich dann aber in der Geschäftigkeit der Rushhour des Lebens vor allen Dingen dem kurzfristigen Alltag zugewandt, war beschäftigt mit Nestbau, Brutpflege und dem was wir ein "gutes Leben" nennen; einen guten Job, Freunde, Reisen.

Geschwindigkeit

Und gleichzeitig war ich stets um ein paar Stundenkilometer zu schnell unterwegs für meinen Geschmack. Das zeigte sich in vielen Situationen, wenn ich mir einmal wieder, mit dem Gefühl mehrerer Teller gleichzeitig in der Luft, selbst die Durchhalteparole zurief: "Nur noch dies, das und jenes schaffen, und dann...dann ist endlich ist Ruhe...und ich kann mich all dem Schönen widmen, nach dem ich mich sehne, für das jetzt keine Zeit ist."

Kopfkino und andere Träumereien

In meinem Kopfkino sah ich mich auf sonnigen Terrassen Yoga machen, in Liegestühlen Bücher lesen, in einem Kajak in aller Stille auf einem See gleiten. In der Realität aber war ich gefühlt praktisch immer im Laufschritt unterwegs. Dabei erfüllte es mich sogar mit Stolz, wenn ich von meinem Umfeld vermittelt bekam: Du schaffst so viel! Und doch dachte ich gleichzeitig bei mir: Wenn du wüsstest, wie es in mir aussieht...

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Sterben lernen

Und dann gab es diesen schicksalhaften Morgen: Im ZEIT Magazin fand ich die Geschichte "Von einer die auszog, das Sterben zu lernen". Um ehrlich zu sein: Ich fand aus den Tränen kaum noch heraus: Eine berufstätige Frau, die während ihrer Sterbebegleiter:innen-Ausbildung eine von ihr betreute, todkranke Frau besucht. Sie hetzt durch die Stadt, der Verkehr tobt, das Herz rast, der Kopf ist voll von Alltagsproblemen, der Stau treibt sie fast in den Wahnsinn, als sie endlich hochgeladen, hocherhitzt, hochgestresst vor der Tür steht. Die Todkranke öffnet ihr und sagt ihr unumwunden auf den Kopf zu:

Wenn Sie keine Zeit haben, dann bleiben Sie doch einfach weg.

Ich kann gar nicht genau sagen, warum mich ausgerechnet dieser Satz so getroffen hat. Aber ich fand mich in dieser Frau wieder, die durch ihr Leben hetzt, kein Gefühl für das Schwinden der eigenen Lebenszeit, kein Bewusstsein, dass wir jeden Augenblick unseres Lebens nur einmal leben können...und wir daher gut daran tun, uns zu überlegen, wie wir diesen Augenblick verbringen.

Ich wusste schon lange, dass ich ein ungesundes Verhältnis zu Zeit und "Schaffen" hatte. Aber das haute mich um: Ja, die Zeit ist kostbar und unser Ziel ist sicher nicht, den größten Teil unserer Lebenszeit in der Hoffnung zu durchleiden, dass irgendwann der Moment kommt, wo alles besser wird. Nichts wird besser, wenn ich nicht dafür sorge, und zwar jetzt.

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Das war die erste Wende

Wenn mein Verstand nicht ausreicht, um diese bitter-dringliche Erkenntnis zu leben, dann, so war mir klar, wollte ich mich selbst konfrontieren mit dieser Endlichkeit, um immer wieder an sie erinnert zu werden. Der Entschluss, eine Ausbildung im Hospiz zu machen, war daher nicht ausschließlich sozial und altruistisch motiviert, sondern zu einem guten Teil davon, das Leben - mein Leben - ganz ohne Bitterkeit vom Ende her denken zu können, um ein tiefes Gefühl dafür zu entwickeln, wie ich meine Zeit hier auf dem Planeten nutzen wollte.

Dass das eine der besten Entscheidungen meines Lebens war, wusste ich erst, als ich mittendrin steckte. Es gibt so viel zu wissen über unser Ende und die Wandlung, den Weg dahin, dass ich mich heute oft frage, wie es ohne dieses Wissen überhaupt gelingen soll, Angehörige, die Eltern, auf diesem Wegstück zu begleiten - und diesen Weg irgendwann gut vorbereitet und in aller Mündigkeit selbst zu gehen. Zwischenmenschlich, kommunikativ, medizinisch. In rund einem Jahr lernte ich alle Aspekte des letzten Wegstücks intensiv kennen - und startete meine ersten eigenen Begleitungen. Dabei entschied ich mich für den ambulanten Begleitdienst, was bedeutet, Menschen zuhause zu begleiten, denn dort ist die Einsamkeit, die Not oft größer als beispielsweise in den Palliativstationen oder Hospizen. Oft geht es auch darum, Freunde, Angehörige der Begleitperson mit zu begleiten, wobei es für die Trauerbegleitung dann noch zusätzlich eigene Ausbildungen gibt.

Coaching und Sterbebegleitung: Der Schlüssel heißt "Aushalten"

In meiner lange zurück liegenden Coaching Ausbildung war ich bereits intensiv auf die Fähigkeit des "Aushaltens" vorbereitet worden. Dieses Aushalten wird zur zentralen Fähigkeit in der Sterbebegleitung. Und es hat viele Gesichter.

Nein, wir füllen unangenehme Gesprächspausen nicht mit Floskeln - sondern wir tragen die Last der Ohnmacht, die keine Worte findet, die damit verbundene Verzweiflung, schweigend mit.

Nein, wir korrigieren den/die Todgeweihte(n) nicht, wenn er von einer hoffnungsfrohen Zukunft spricht, als ob die bittere Endgültigkeit schlicht nicht existieren würde.

Nein, wir lassen uns weder zu einem: Alles wird gut. noch zu einem: Sollen wir noch was Schönes unternehmen - (bevor es zu Ende geht)? hinreissen, nur um die Lücke zu füllen.

Diese Aufgabe ist wie ein Tanz: Takt, Rhythmus und Musik - oder ob überhaupt getanzt wird, gibt der Mensch vor, um den es hier geht.

Uns obliegt es die Ohnmacht zu verstehen, sie mitzufühlen, sie auszuhalten; und gleichzeitig stark zu bleiben, um den anderen zu stützen, mit bloßer Präsenz. Wir halten es aus, nicht in Aktivismus zu verfallen, in dem Irrglauben, so der Endgültigkeit zu entrinnen. Wir halten genau diese Endgültigkeit und das damit verbundene, seelische Leiden aus. Wir dürfen fluchen, schimpfen, weinen, zynisch sein. Aber, wir werden uns der Endgültigkeit unserer eigenen Endlichkeit irgendwann auch selbst stellen müssen. Jeder von uns, früher oder später.

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Eine Frage der Haltung

Für den einen ist diese große Transformation des Lebens mit Angst und Schrecken verbunden, für den anderen mit großer Neugier. Dinge können ihre Schrecken verlieren, wenn man sich mit ihnen beschäftigt. Ich persönlich habe dieses Ehrenamt mit einer gehörigen Portion Respekt, vielleicht sogar Angst angetreten, denn der Tod selbst, diese große, letzte irdische Transformationsreise, die jedem von uns bevorsteht, hat mich mit großer Traurigkeit erfüllt: So schön wie hier kanns im Himmel doch gar nicht sein - das Abschiedsbuch des großen Christoph Schlingensief spricht mir einerseits tief aus der Seele.

Andererseits erschien mir der Schritt in dieses Ehrenamt wie ein erster wichtiger kleiner Schritt auf meine eigene Transformationsreise: Nämlich den Schrecken vor dem Abschied zu verlieren. Und so reifte in mir über die Zeit der Begegnungen das tief beruhigende Wissen: "Drüben" ist entweder nichts, es ist genauso gut wie hier, oder besser - denn warum sollte "es" schlechter sein?

Transformationsreisen

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Elisabeth Kübler-Ross stets in einem Atemzug mit den wichtigsten Vordenker:innen von Veränderung, Transformation genannt wird. Die von ihr beschriebenen fünf Phasen sind nach wie vor gültig für Transformationsvorhaben in Organisationen. Denn auch hier geht es letzten Endes immer um Menschen, über deren Transformation "von oben" entschieden wird, die in aller Ohnmacht gezwungen sind, ihre lieb gewonnene, oft selbst gestaltete Gegenwart gegen den eigenen Willen loszulassen, dies ohnmächtig über sich ergehen zu lassen. Und sie fühlen genau die von Christoph Schlingensief formulierte Verzweiflung:

So schön und gut wie jetzt kann es doch in der ungewissen Zukunft gar nicht sein!

Und genau das macht die gute, wertschätzende und verständnisvolle Begleitung so wichtig - für Menschen auf ihrer ganz persönlichen - aber nicht selbst gewählten Transformationsreise - sei es im Unternehmen, beim Übergang von einer Kultur oder manchmal sogar einer Identität zur nächsten, aber eben auch auf der allerletzten Tranformationsreise, die wir alle irgendwann antreten. Denn wir werden - hier wie da - den Schmerz, die Trauer, den Schrecken der Ungewissheit des Abschiedes - sei es von geliebten Verhältnissen oder von unserem geliebten Leben - nie ganz auflösen können. Aber wir können "aushalten" lernen, lindern, trösten, begleiten, und manchmal sogar miteinander, Seite an Seite in neues, unbekanntes Terrain vordringen. Oder, um es mit Herrmann Hesse zu sagen:

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Natalie Kunz-Blaschek

SLOW - SELBSTLIEBE I LEICHTIGKEIT I ORIENTIERUNG I WEIBLICHKEIT

3 Jahre

Danke Dir dafür. Tief und ehrlich und bewegend. Eine Seltenheit in Social Media und ich schätze es zutiefst 🙏

Johannes Müller

Knowledge Management & Digital Collaboration @ Siemens

3 Jahre

Eine sehr berührende Geschichte! Dein Engagement, Sabine, verdient meine Anerkennung und Hochachtung. Chapeau! 👏🌺

Barbara Seeger

nahbar Transformationsbegleitung

3 Jahre

Danke für den bewegenden Artikel, Sabine Kluge! Dieses Hinschauen, da-Sein, Emphatie auf Augenhöhe zeigen und aushalten brauchen wir auch für die Transformation von individuellen und kollektiven Traumas. Danke an alle, die so mithelfen, Kapazitäten für diese schwierigen Prozesse im und am Ende des Lebens zu bilden, zb auch Iris Lenardic!

Almut Schniedertüns

Qualitätsmanagement Aufbauhersteller MB VANS Product Owner, Moderatorin, Mediatorin

3 Jahre

Vielen Dank für diesen „ansprechenden“ Artikel, der mich sehr berührt hat und mich zum Nachdenken anregt.

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