Straßen der Zukunft, oder: Der Weg ist das Ziel
Mit mehr Zeit als üblich gesegnet, habe ich die letzten Wochen genutzt, um in einigen Antiquariaten zu stöbern. Dabei erstand ich u.a. ein Buch namens "Strassen der Zukunft". Das Buch ist 62 Jahre alt, hat mich um einen Euro zurückgeworfen, und strotzt nur so vor Optimismus und Schilderungen einer strahlenden Zukunft.
Was, um Himmels willen, ist damit inzwischen passiert?
Ich zitiere eine längere und absichtlich ungekürzte Passage aus "Strassen der Zukunft" - das in Briefform wiedergegebene Credo des Autors (Picht, Wolf Dietrich, Strassen der Zukunft, Verlag Neues Leben, Berlin, 1958):
"Mein lieber Uli!
Dein letzter Brief hat mir viel Freude gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, wie Dich der Besuch des Flughafens, der Anblick eines großen Verkehrsflugzeuges und die vielen anderen Dinge, die es zu sehen gab, beeindruckt haben. Du bist begeistert, und das ist gut so. Nichts ist langweiliger und abgeschmackter als ein Mensch, der das Staunen verlernt hat, das ehrliche Überwältigtsein von einer großartigen menschlichen Leistung. Deshalb sollst Du nicht verlegen werden, wenn Du ins Schwärmen gerätst bei der Beschreibung des "großen Silbervogels", der Dir so gut gefiel. Was Du empfunden hast, ist ja nichts weiter als die Gestalt gewordene Zweckmäßigkeit, die auf uns in ihrer Vollkommenheit schön wirkt. Hier haben Tausende von Arbeitern, Ingenieuren und Technikern zusammengewirkt, unzählige Erkenntnisse und Ideen waren notwendig, bis der Mensch Flügel bekam, die ihn über Länder und Kontinente tragen. Wenn aus den Lautsprechern des Flughafengebäudes die ruhige Stimme ertönt, die den planmäßigen Abflug einer Maschine nach Prag, Moskau oder Stockholm bekanntgibt, so ist das eben keine Selbstverständlichkeit, sondern die Erfüllung eines jahrtausendealten Menschheitstraumes, dessen Verwirklichung wir miterleben dürfen.
Trotzdem scheint es, als ob wir uns mehr und mehr in einer Sphäre der Superlative bewegen, die in oberflächlicher Betrachtung die eine oder andere Tatsache als "epochemachend" verkündet, den Kern der Dinge aber selten trifft. Das Wesen der modernen Luftfahrt wird nicht geprägt durch die von Zeit zu Zeit erscheinenden Schlagzeilen über Geschwindigkeits- und Höhenrekorde, sie sind nur nach außen sichtbare Merkmale einer Fortentwicklung. In Wirklichkeit lebt hier ein komplizierter Organismus aus unzähligen Einzelleistungen, der dem Verstehen der Außenwelt nicht entrückt werden darf, da er ein wichtiger Teil unseres wirtschaftlichen Lebens ist.
Beide Teile brauchen einander, denn ohne die Anteilnahme der Allgemeinheit wäre die Luftfahrt nichts als ein Phantom. Das gilt besonders im gegenwärtigen Zeitpunkt, da das Flugzeug den Luftraum wirklich erobert hat und zum Massenverkehrsmittel wird, während Wissenschaftler und Techniker bereits in die Räume außerhalb der Erde vorzustoßen beginnen und damit die zweite Etappe des Menschenfluges eingeleitet haben.
Ein zeitgenössischer Schriftsteller schreibt davon, daß "die Zukunft schon begonnen" habe. Wie recht hat er! Was gestern noch kühne Utopie oder vorsichtige Prognose war, ist heute schon Wirklichkeit, ist Ausgangspunkt für neue, weit erstaunlichere Entwicklungen. Es scheint geradezu, als wollte uns das tägliche Neue überrennen, als hätten wir kaum noch Zeit, das ständig auf uns Einstürmende richtig zu erfassen und zu einem festen Bestandteil unseres technischen Wissens zu machen. Das Tempo hat sich beschleunigt, Ihr jungen Menschen braucht kaum noch zum utopischen Roman zu greifen, denn der Bericht unserer technischen Gegenwart ist atemberaubend genug, wenn wir ihn zu lesen verstehen. Wir leben in den Anfängen eines Morgen, das reich sein wird an Umwälzungen und Neuerungen, das aber auch den Menschen mit neuen Maßstäben messen wird. Ihr alle, Du, Deine Freunde und die vielen anderen, Ihr sollt diese Zukunft beherrschen, müßt wachsen mit den Dingen um Euch, wenn Ihr nicht abseits stehen wollt. Macht Euch das Neue zu eigen, dann wird es Euch dienen. Die "alles versklavende Technik" wird Euer Sklave sein, der Euch das Wichtigste beschert, was Ihr besitzen könnt - die Zeit zum eigentlichen Menschsein. Deshalb schrieb ich Dir dieses Buch, Dir und allen, die diesen Weg gehen wollen. Es soll die Vielfalt des oft Verwirrenden ordnen und verständlich machen, soll berichten von dem weltweiten Kampf um die "Straßen der Zukunft".
Dein Dieter"
Diese mitreißende Lektüre scheint aus einer entfernten Vergangenheit zu stammen, als die Zukunft noch stets eine solche versprach. Wer wie ich wenige Jahre nach dem Erscheinen dieser Zeilen geboren wurde, dürfte sich erinnern, in exakt jenem Zeitgeist aufgewachsen zu sein. Dazu gehörte, dass das Fliegen selbstverständlich und zugänglich für Jedermann wurde.
Für mehr als ein halbes Jahrhundert (ca. 1955-2018) war die Pauschalreise (vereinfachte Formel: Charterflug und zwei Wochen Strandurlaub) so selbstverständlich und erschwinglich gewesen, dass es dafür keiner Erklärung oder Begründung bedurfte. Letzteres ist nun offenkundig erforderlich geworden, wegen (vereinfachte Formel) Greta 2019 und Corona 2020.
Bereits im August 2019 wurde ich von einem Kreis Aufgeschlossener gebeten, einen Vortrag zu diesem Themenkomplex zu halten. Nach längerem Grübeln kam mir beim Durchblättern eines Bildbandes "Die Weite Welt" von 1929 die Idee, den zeitlichen Bogen zu verdoppeln, und den Jahrhundertvergleich zu wagen - anstatt bei 1955 anzusetzen. Diese Zeitreise schien mir geeignet, einerseits das Phänomen des Pauschaltourismus und andererseits die aktuellen Fragestellungen in bezug auf den Fluganteil der Reise in einem weiteren Rahmen, und hoffentlich treffender zu erfassen.
Eine Branche, die heute laut World Travel and Tourism Council für immerhin 10,3% des globalen BIP und 330 Mio. Arbeitsplätze weltweit steht, gab es vor 100 Jahren praktisch nicht, denn der Inlandstourismus zur Sommerfrische und der elitäre Bädertourismus verdienten kaum die Bezeichnung Wirtschaftszweig. Für gewöhnlich hatte die Mehrzahl der Menschen weder Zeit oder Muße, noch Geld, um zu verreisen. Daraus erklärt sich auch der erwähnte Bildband, der sich besonders durch die ausführlichen Beschreibungen der gewählten Bilder von heutigen Werken unterscheidet: so, nur so, konnten viele Menschen damals wenigstens in Gedanken verreisen.
Ganz anders nach dem II. Weltkrieg: Indem die Flugzeughersteller ab den Sechzigern immer größere und effizientere Flugzeuge entwickelten, ermöglichten sie der Branche die Massentauglichkeit, die sinnbildlich an der zunehmenden Größe der Economy Class ablesbar wurde. Fortan war es möglich, eine Art "Reisesozialismus" zu etablieren, in der sich einerseits jedermann den Flug leisten konnte, und sich andererseits ein Flugwesen ohne Economy Class als undurchführbar herausstellen sollte - was zu einer Normalisierung des Flugverkehrs in Richtung eines Alltagsprodukts - im krassen Gegensatz zu seiner vormals elitären und luxuriösen Absonderung - führte.
Oft habe ich aber in den letzten Wochen gehört, dass es ja auch nicht richtig gewesen sei, das da mit den Billigflügen, dass man für so wenig Geld fliegen könne. Diese Kritik an der im Preis ausgedrückten Effizienzsteigerung der Branche erscheint mir darum seltsam - und kommt doch irgendwie verdächtig daher, vernommen aus dem Munde der einkommensstärkeren Schichten, derer, die auf ihrer virtuellen Reiseweltkarte schon Pins auf allen Kontinenten bis auf Antarktika hinterlassen konnten. - Kleiner Mann, was nun?
Es gilt dabei für Flugreisen dasselbe wie für Bio-Tomaten: man muss sich den Konsum eben leisten können. Ist der Preis zu hoch, so ist der Absatz gering - und das Produkt würde wieder elitär und luxuriös.
Noch vor zehn Jahren kreiste der Zeitgeist euphorisch darum, in welchem Maße sich die Utopien des 20. Jahrhunderts schon verwirklicht hätten. Alles was "Star Trek / Raumschiff Enterprise" für die ferne Zukunft verkündet hatte, schien schon Wirklichkeit geworden zu sein: Flachbildschirme, Klapphandys, Bluetooth, Tablets. Doch nun, plötzlich, schauen wir eindeutig dystopisch daher, und bemühen eher Vergleiche zu den entsprechenden Propheten in "Schöne Neue Welt" oder gar "1984".
Doch genaugenommen ist eben noch nicht alles aus "Star Trek" in der Jetztzeit vorhanden, und der verbleibende Teil der utopischen Wunschvorstellung kreist um ebenjenes Problem, das im Zentrum der Kritik am heutigen Luftverkehr (und damit dem Pauschalreisetourismus) steht: dem Antrieb. Im gleichen Maße, wie der Warp-Antrieb und die Ortsveränderung mittels Beamens für die Utopie stehen, wird der Strahlturbinenantrieb, der Jet, in der Kritik der Kehrseiten des Luftverkehrs (Ressourcenverbrauch, CO2-Ausstoß, Lärm) dystopisch verurteilt.
Es gilt daher zu differenzieren zwischen einer pauschalen Ablehnung des kommerziellen Luftverkehrs und einer konkreten Kritik an seiner Antriebsweise. Ersteres schüttet "das Kind mit dem Bade aus" und kann sogar mit dem Manko der Ideologie behaftet daherkommen, während letzteres "den Finger in die Wunde legt": wir brauchen Innovation und einen neuen Antrieb. Die Technologiegeschichte hat dem Menschen schon oft genug zur rechten Zeit diesen Gefallen getan: in einer scheinbaren Sackgasse kam ein technologischer Quantensprung, scheinbar "out of the blue", und weiter ging's, auf höherer Stufe.
"Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung." (Richard Franck)
Fachmann für Luftverkehrsthemen, insbesondere Marketing&Vertrieb, IT, nachhaltiger Luftverkehr, A-CDM, Management von Flugunterbrechungen, ...
4 JahreIch bin mit Science Fiction aufgewachsen. Und halte eine deutsche Originalausgabe von Arthur Hailey's Airport in Ehren. Was passiert ist? Politik. Immer der kleinste gemeinsame Nenner. Pionierarbeit trifft Bürokratie, Globalisierung trifft Aviation-Bashing.