Und jetzt bitte alle einmal agil
Manchmal scheinen Veränderungen in Organisationen mit der Geschwindigkeit tektonischer Plattenverschiebungen abzulaufen. Selbst wenn man die besten Verhältnisse bereitet – das Vorwärtskommen bleibt unglaublich zäh. Da gibt es etwa den Lebensmittelkonzern, der in der Projektarbeit auf Scrum umgestellt hat. Die Einführung wurde durch eine kleine Armada Agile Coaches abgesichert, die allen Beteiligten so oft wie sie es hören wollten (und öfter) erklärt haben, wie die Methode richtig genutzt wird. Drei Teams arbeiten jetzt nach Scrum. In den 29 anderen haben die Kanban-Bords den Weg auf den Flur gefunden. Da nehmen sie keinen Platz weg, während im Büro die Arbeitsaufteilung besprochen wird. Ähnliches Leiden erlebt ein Autozulieferer, der es geschafft hat, agile Methoden in Projekte zu tragen - sogar organisationsweit. Doch seitdem man cross-funktional über Abteilungsgrenzen hinweg arbeitet, läuft die Gesamtkoordination aus dem Ruder: „Es ist, als würden wir hier mit Mobiles jonglieren“, beschrieb es uns eine Managerin.
Mit Problemen dieser Art kommen viele Organisationen in Berührung, die agile Modelle ausrollen. Für die Einführung sprechen zuerst viele gute Gründe. Man möchte zu schnelleren Entscheidungen kommen, sich radikaler an den Kundinnen und Kunden orientieren und die blinden Flecken des Silodenkens loswerden. Aber wenn man wie wir forschend und beraten in agilisierenden Unternehmen unterwegs ist, sieht man: Eine agile Transformation erzeugt stets Widerstände.
Neue Arbeitsweisen gefährden die Erwartungssicherheit
Zuerst ist dabei wichtig, dass dies nichts mit geistiger Unbeweglichkeit unter den Mitarbeitenden zu tun hat. Das Neue abzulehnen ist in Organisationen einprogrammiert. Das sichert die Routinen und die Erwartungssicherheit ab. Routinen überleben selbst radikale Umstellungen, solange sie ihre Anker im Arbeitsalltag erhalten bleiben. Solange zum Beispiel in vermeintlich selbstorganisierten Einheiten die alten Vorgesetzen in SAP hinterlegt bleiben, werden Nachbarabteilungen sich auch weiter an diese wenden, wenn sie Probleme haben – selbst, wenn es offiziell keine Vorgesetzen mehr gibt.
Mit dem Hinweis, dass das gegen die Idee spricht oder dann die Methode nicht vernünftig erklärt wurde, kommt man an dieser Stelle nicht weiter – auch wenn es verlockend wäre. Doch dadurch werden die alten Arbeitsweisen maximal in die Informalität verdrängt, also in die Welt der kurzen Dienstwege und geheimen Abkürzungen, die in jeder Organisation existieren, obwohl sie nirgends festgeschrieben sind. Organisationsmitglieder sind wahre Meister darin, diese informalen Trampelpfade zu nutzen und auszubauen – während sie nach außen hin ganz anderes suggerieren. Und wieder: Dies passiert nicht, weil ihnen ein sogenanntes „agiles Mindset“ fehlt, – das ist die nächste gern bemühte Standardantwort auf eigentlich organisationale Probleme –, sondern weil andere (alte) Strukturen die Vorgehensweisen nahelegen und sie damit schlicht funktional sind.
Informalität: Agil, bevor es cool war
Diese informalen Abkürzungen (Luhmann nennt sie „brauchbare Illegalitäten“) sind aber auch aus einem anderen Grund wichtig zu beachten: Denn schon vor der Umstellung der Organisation auf agile Modelle wurde sie hier praktiziert: In Form von cross-funktionaler Kollaboration, ergebnisorientiertem Arbeiten und der Nutzung persönlicher Fähigkeiten im Namen der Organisationsziele. Wenn man versucht auf agile Arbeitsweisen umzustellen und ignoriert, wo diese bereits gelebt werden (etwa weil sie nicht dem Handbuch entsprechen) macht sich unglaubwürdig vor der Organisation. Des Weiteren verspielt man die Chance, aus den Erfahrungen zu lernen und erzeugt Widerstände bei denen, die ihr eingespieltes System gefährdet sehen. Das gilt es zu vermeiden. Damit das gelingt, muss man die Interessen der jeweiligen Akteure genau kennen.
Willkommen im Dickicht der Mikropolitik
Viele Modelle, die unter dem „Agil“-Label fahren, stellen die übliche Arbeitsteilung in Organisationen infrage. Wenn man versucht, „Silodenken“ abzuschaffen, Abteilungen aufzulösen und sich nicht mehr entlang von Funktionen aufstellt sondern erreichen will, dass alle Teams zu jedem Thema der Organisation arbeitsfähig sind, hat man sie faktisch beendet.
Es sollte nicht überraschen, dass Mitglieder von Abteilungen, insbesondere jene in Leitungspositionen, kein Interesse daran haben, Abteilungen abzuschaffen. Es ist keine Pathologie der Organisation, dass Stakeholder strategische Intentionen ausbilden und diesen gemäß handeln. Sie bilden sogenannte „lokale Rationalitäten“ aus, die bestimmen, was sie jeweils für richtig ansehen, für rational halten. Sie tun dies entlang ihrer arbeitsteiligen Aufgaben und entlang der ihnen gesetzte Ziele. Die einfache Gleichung: Je arbeitsteiliger, desto stärker entstehen diese lokalen Rationalitäten.
Vor der Transformation: die richtigen Fragen stellen
Das heißt, ist die Ursünde dieser Arbeitsteilung erst einmal begangen, muss die Integration der lokalen Rationalitäten gesondert gemanagt werden. Es ist also weder eine Frage der Methode noch der richtigen Person, dass auf gewissen Positionen keiner in Jubel ausbricht, wenn die agile Transformation verkündet wird. Die Widerstände entstehen durch die Eigenlogiken in den Organisationen. Wer diese lösen will, muss daher auch organisationsspezifische Lösungen finden. Zu diesen gelangt man nicht mit schnellen Antworten, sondern durch das Stellen der richtigen Fragen.
Fragen nach organisationalen Spannungsfeldern
Um die organisationsstrukturellen Spannungsfelder auszutarieren, sollte man sich fragen:
- Wo gibt es Spannungen zwischen agilen und bürokratischen Strukturen?
- Wie wird die Integration der Arbeitsteilung abgesichert?
- Welchen Funktionen erfüllen die aktuellen Strukturen? Was verliert man ohne sie?
- Welche informalen Trampelpfade laufen durch die Organisation?
Fragen nach strategischen Interessen
Um die strategischen Interessen der Stakeholder zu verstehen und klug an diesen anzusetzen, muss man erfragen:
- Was sind die Motive für den Wunsch nach Agilität?
- Wer verteidigt die bestehenden Strukturen und wieso?
- Welche Machtressorts werden durch die cross-funktionale Zusammenarbeit bedroht?
- Wie etabliert man Führung, wenn die Hierarchie nicht zur Verfügung steht?
Fragen zur Etablierung des richtigen Diskurses
Schließlich gilt es, auf Basis dieser Analyse die richtigen Diskurse zu etablieren. Dazu sollte man analysieren:
- Wie kann Agilität in dieser spezifischen Organisation ausgedeutet werden?
- Welche Definitionen sind für unsere Zwecke unbrauchbar?
- Welche Konflikte werden in der Organisation aktuell ausgetragen?
- Wer braucht Deutungshoheit über was? Und wie stellt man sie her?
Nur wer diese Fragen beantworten kann, wird die organisationsspezifischen Hebel erkennen, die zur Verfügung stehen, um Agilitätsinitiativen voranzubringen. Und erst wenn das getan ist, kann man diese auch erfolgreich in Anschlag bringen.
Die gute Nachricht ist also: Organisationale Agilität lässt sich managen. Die schlechte: Es braucht dafür aber ein organisationskluges Vorgehen, was mühsam ist. Doch diese Mühe wird sich lohnen.
Dornier Renewables / Co-founder Suntrace
3 JahreDanke Lars Gaede und Judith Muster , ich finde das Thema super und schön prägnant dargestellt. Vielen Dank dafür. Ich arbeite in einer kleinen Organisation, aber bereits dort ist es schwierig dies umzusetzen. Wenn vorhandene Strukturen nicht sehr formal sind, werden die gelebten Strukturen vom Verhalten der handelnden Personen etabliert und sind auch schwer zu ändern.
Chief Financial Officer I Chief Executive Officer I Founder I Member of the Management Board I Certified Supervisory & Advisory Board Member I Advisory Board Member I Researcher | Mentor |
3 JahreEinen guten Ansatz bietet Frithjof Bergmann in seinem Werk: Neue Arbeit, Neue Kultur in dem Arbeit Menschen mehr Energie gibt, sie stärkt und auf eine neue Ebene hebt. Mit der Zielsetzung nicht die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern die Arbeit in der Art und Weise zu transformieren, damit sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt. Allerdings greifen die Wünsche der Transformation nur, wenn die Menschen auch gestalten wollen. Andernfalls gilt auch hier: wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.
Interim Manager & Senior Executive | CPO | Experte für Einkauf | Nachhaltige Kosteneffizienz | Turn around & Transformation | Reorganisation und Reifegradentwicklung im Einkauf | Enabler und Verhandlungsexperte
3 JahreGuter Artikel, auch meine Erfahrungen bei vielen Kunden spiegeln das wieder. Doch ich will mal aus einer anderen oder höher gelegten Perspektive meinen Kommentar dazu abgeben. You can't teach old dogs tricks - und darin liegt oft das Problem, wenn es um grundlegende Veränderungen in der Organisation geht. Richtig erkannt und damit einhergehend, nicht jede Organisation ist a) fit und bereit für Veränderungen und b) brauchen eigentlich eine Veränderung, weil es keinen Mehrwert stiftet. Bei letzterem habe ich oft den Eindruck, dass nur aus reinem Selbstzweck neue Methodiken eingeführt werden müssen. Budgets sind noch frei, .. damit die Kollegen was zu tun haben .. kein Scherz, habe ich alles schon gesehen. Scrum-Master strürmen die Büros .. viele bunte Flips & Chars entstehen .. alle happy hippo .. und wenn das Projekt durch ist, business as usual. Oder auf den Punkt gebracht: Geldverschwendung. Und: Das wir immer wieder auf Reichsbedenkenträger stoßen, ist normal. Ich gebe diesen Mitarbeitern immer eine Chance: Bedenken gerne anbringen, aber nur mit Lösungsvorschlag. Kein problemorientiertes rumdiskutieren. Wenn nicht: Mach entweder mit oder geh aus dem Weg. Mal ein Blick von ganz oben, das sog. "Big Picture": Was bringt mir das eigentlich am Ende des Tages, wenn ich neue Arbeitsmethoden einführe? 1 EUR mehr Umsatz? 1 EUR weniger Kosten? Oder nur eine buntere und modernere Tapete an der Wand? Und sorry, da bin ich vielleicht noch ein bissl oldschool, aber ein Unternehmen ist keine Hüpfburg. Unterm Strich muss es auch einen deutlichen Mehrwert generieren. Doch woher kommt die noch im großen Maße vorherrschende Ablehnung, mal neue Wege zu gehen? Zum Einen sind die Begriffe Scrum und Agile derart von Grünschnäbeln missbraucht worden und an jeder Ecke überrepräsent, das jeder nur noch mit den Augen rollt, wenn diese Buzzwords irgendwo auftauchen. Jeder Tünnes macht irgendwo irgendeine Fortbildung für dreifuffzich und hat leider nicht gecheckt, das das Einführen von neuen Methodiken nicht am Modell, sondern am lebenden Organismus vorgenommen wird. Und auf Mitarbeiter stoßen die sagen: Nö. Und mal ehrlich: Agiles arbeiten - das soll neu sein? Ich kenne eine Menge Firmen, die das schon seit 40-50 Jahren machen, da gab es noch Rohrpost und Fax. Mal unter uns (und das funktioniert wirklich!): Lasst einfach mal diesen ganzen Kram und altkluges Zeugs wie diese Buzzwords VUCA, Scrum, .. whatever .. weg. Für uns Berater ist das die Sprache, aber wenn ich eine Organisation mit neuem Denken und Arbeitsstil überzeugen will, dann bitte mit Taten und nicht mit für sie außerirdisch klingenden Wörtern und theoretischen Maximum. Will keiner, braucht keiner. Da ist noch viel zu tun. Bleiben Sie in Bewegung.
Retired
3 Jahrevielen Dank für die Anregungen