Verschränkung des Krieges
„In Kriegen geht es ums Töten. […] Es geht um ein Töten in Haufen.“ – Elias Canetti in „Masse und Macht“
Der Krieg ist ein sehr sonderbares Phänomen. Die Gesellschaft hat den ganz ursprünglichen Sinn, den einzelnen Menschen vor seinem Tod zu bewahren. In einer starken Gemeinschaft können Schwächere von den Stärkeren mitgefüttert werden, durch die gemeinsamen Kräfte kann man größere Schutzmauern bauen und so weiter.
Im Krieg ist das anders. Denn der Krieg wird von einer Gesellschaft gegen die andere geführt. Beide Gesellschaften bedrohen sich gegenseitig mit dem Tod. Die Funktion der Gesellschaft kehrt sich also vollkommen um – gerade weil man Teil der Gemeinschaft ist, wird man vom Tod bedroht.
Und dennoch brechen Gruppen im Krieg nicht auseinander, sondern wachsen in vielen Fällen noch enger zusammen. Der Krieg führt durch die gemeinsame Todesdrohung zu einer enorm stabilen Masse an Menschen, die ein starkes Gefühl des Zusammenhalts empfinden.
Wie Elias Canetti in seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ beschreibt, ist aber auch die Massendynamik im Krieg sehr sonderbar.
Zum einen handelt es sich um eine Doppelmasse: Die eigene kriegerische Masse gibt es nur, weil es die gegnerische Masse gibt.
Und dann gibt es noch zwei unsichtbare Massen: Man will jeweils eine möglichst große Masse - einen möglichst hohen Haufen - an Toten auf der Seite der Gegner verursachen.
Dazu kommt, dass diese Massen verschränkt sind. Jeder Soldat ist Bestandteil von zwei Massen. Für seine eigene Gesellschaft ist er als Lebender ein Teil der Soldaten. Für die feindliche Gesellschaft ist er als potentieller Toter ein Teil der unsichtbaren Masse an Opfern.
Das erklärt schließlich auch den unfassbaren Antrieb von Soldaten. Sie sind zum einen von der Gruppendynamik der eigenen Kameraden getrieben. Zum andern – und das ist vielleicht noch wichtiger – sind sie davon getrieben, nicht Teil der Opfermasse zu werden und nicht zu sterben.
ZUM WEITERLESEN:
Canetti, Elias: Masse und Macht. München: 2020.