Verwirrt die agile Gemeinde unsere Führungskräfte?

Von Dr. Klaus-Dieter Dohne

Jedes soziale System sucht und strebt nach Ausgleich von widerstreitenden Polen, um dauerhafte Einseitigkeiten in der Ausrichtung zu vermeiden. Auch das menschliche Gehirn als selbstorganisiertes System steht vor der Herausforderung gegensätzliche (ambivalente) Anteile zu regulieren. Eine dauerhafte einseitige Ausrichtung auf Aktivität ohne entsprechende Ruhe- und Entspannungsphasen führen bereits nach kurzer Zeit zu Problemen, Störungen und Symptomproduktionen unterschiedlichster Art und letztlich zum Zusammenbruch des neuronalen Systems, welches auf dem Wechselspiel von Erregung und Hemmung aufgebaut ist. 

So kann es denn auch nicht verwundern, wenn man den Beschreibungen der Szene glauben darf, dass zumindest deutsche Führungskräfte immer noch die besten Problemlöser vor ihren Mitarbeitern sind oder sein wollen. Ihre Teammitglieder also nur zu „Objekten“ ihrer eigenen Interessen, Zielen und Bewertungen machen zu wollen, um das dann obendrauf auch noch als Führung oder Leadership verkaufen zu wollen. Wenn es so wäre, würde man natürlich nicht die Potentiale der Mitarbeiter entfalten, sondern sie zu Abhängigen ihrer jeweiligen Führungskräfte machen.

Deshalb kann man die aktuelle „Gegenbewegung“ vom Chef zum Coach im Sinne eines Ausgleichsmodells bzw. Gegenregulationsmodells richtig finden oder sogar aktiv bejubeln! Eigenverantwortung und Vertrauen in die Kompetenzen der Mitarbeiter ist nicht zu widersprechen. In meinen diversen Coachings vergangene Woche trat dann immer wieder eine Unsicherheit der Führungskräfte hervor, die sich jetzt nicht mehr in ihre Teams einmischen wollten, bzw. die Teams ihrerseits den Chef aktiv aus ihren Belangen heraushalten wollten. Immer mit der Begründung, dass sie doch jetzt eigenverantwortlich unterwegs seien und ihre Dinge selbst entscheiden könnten, um die richtigen Lösungen auch ohne ihren Chef zu finden. Er solle doch nach dem neuen Konzept der „Agilität“ nur der Coach sein, der sie in ihrem Wirken befähigt und unterstützt, sich sonst aber heraushält. Analog wie bei Profifußballmannschaften, wo die Spieler, heute als sogenannte „Ich-AGs“ bezeichnet, zum Erfolg gecoacht werden sollen, ohne dass sich der Trainer selbst aufstellt. Im Optimalfall steigert sich dann der Marktwert und das Ansehen des einzelnen Spielers.

Die mehrfach auftretende Frage, die meine Kunden also beschäftigte, war, wann mische ich mich ein, stelle mich selbst auf und schieße die Tore auch noch selbst? Und bekomme ich dann auch noch die Lorbeeren für die erfolgreiche Arbeit meiner Mannschaft und nicht das Team allein? In Unternehmen, die Anerkennung und Prämien danach verteilen, wie erfolgreich der einzelne seine (vorgegebenen) Ziele im Geschäftsjahr erreicht hat, sollte das keine unbedeutende Frage für die innere Konfliktorganisation von Führungskräften sein.

Konkret ergibt sich also auf Seiten der Führungskräfte die Frage, wann darf ich gegen das „Coach-prinzip“ verstoßen und nach alter klassischer Chefmanier intervenieren? Wenn ich also der Meinung bin, dass das Team zu sehr den relevanten Fokus verliert oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist? Oder ständig um Hierarchien, Bedeutungen und Verantwortungszuschreibungen miteinander ringt?

Meine Grundlagen über Führung an sich und auch meine schmerzhaftesten Lernerfahrungen habe ich nach meinem Studium gemacht, als ich als Stationsleiter in der forensischen Psychiatrie 15 „Patienten“ und ein interdisziplinäres Team zu leiten hatte. Diese waren aber dafür besonders anhaltend, weil sie „unter die Haut“ gingen. In einem Kontext, wo jede Inkonsequenz meinerseits auf das Verhalten der „Patienten“ zu noch größeren Problemen führte, ja sogar andere in Gefahr kommen konnten, habe ich schnell lernen müssen, die Menschen in ihren Handlungen und Verhaltensweisen ernst zu nehmen. Wegducken, vermeiden, ausblenden, harmonisieren oder sie selbst zu Opfern ihrer Krankheit oder ähnliches zu machen, vergrößerte das Chaos auf meiner Station.   

Folgende Regeln erwiesen sich in diesem besonderen Kontext sehr hilfreich, um mit zum Teil größeren und stärkeren psychisch kranken Mördern, Sexualstraftätern, Brandstiftern etc. zu überleben:

1.     Definition von einigen klaren „Basisregeln“, die im Wesentlichen den Umgang miteinander betrafen, an die sich jeder aber zu halten hatte. Im Unternehmensbereich würde man vermutlich von Werten sprechen. Solange wie diese Regeln eingehalten wurden, konnten die Patienten mehr Freiraum für sich erhalten, und wir mit Einmischungen disziplinarischer Art defensiver agieren. (Arbeitskontext: Vertrauen in die Autonomie des Teams und ihrer Selbststeuerung)

2.     Bei Verletzung von diesen Grundregeln durch die Gruppe (Team) war konsequentes und autoritäres Agieren oberste Führungskunst. Hilfreich war, nicht zimperlich zu sein oder zu viel Verständnis für die Menschen mit ihren Grenzverletzungen zu zeigen. Auf die Nicht-Kooperation durch sie musste zeitnah und adäquat mit Nicht -Kooperation reagiert werden. Alles andere „verseuchte“ den Boden des vertrauensvollen und respektvollen Miteinander. Gleichzeitig wurde den Patienten selbst die Verantwortung zugeschrieben, dass sie mit ihrem Verhalten uns Mitarbeiter zur Nicht-Kooperation (disziplinarisch zu agieren) gezwungen haben. „Ich hätte Ihnen gern mehr Freiraum und Autonomie gewährt, kann es jetzt aber wegen ihrem Verhalten nicht mehr, weil mein vorrangiger Auftrag hier die Schaffung und Aufrechterhaltung der „Sicherheit und Ordnung“ auf Station ist. Um dann später sofort auch wieder die Kooperation anzubieten und zu schauen, ob jetzt kooperiert wird. Bei Kooperation der Patienten wurde weiter kooperiert, so dass sich ein gegenseitiges verstärkendes zirkuläres Muster von Kooperation aufbauen konnte. Bei Nicht-Kooperation wurden zeitnah die Verfehlungen thematisiert und ggfls. Sanktionen eingeleitet. Auch hier kam es schon auf die „richtige“ Haltung an, die ja bekanntlich heute jeder in seinem sprachlichen Repertoire hat.

Was passierte also mit Führungskräften (hier Stationsleiter), die sich nicht an dieses Kommunikationsmodell der Führung hielten. Es führte entweder dazu, dass Regelverletzungen, Unruhe, Unsicherheiten, Illoyalitäten, Ausweitung von doppelbödiger Kommunikation, Zunahme von Machtkämpfen, Unwahrheiten, Parteibildungen, direkte oder indirekte persönliche Schuldzuweisungen oder Abwertungen in der Gemeinschaft erfolgten.

Besonders die empathischen und mit einem besonderen großen Herzen ausgestatteten Kollegen waren von diesen Phänomenen betroffen. Letztlich wurde dann immer jemand anderes auf diesen Stationen eingesetzt, der wieder für Klarheit, Rahmung und letztlich für Ordnung im Miteinander sorgen musste, sofern sie ihr Verhalten nicht umstellen konnten.

Aber zurück zu unseren Unternehmenskontexten. Ich habe in meinen langen Jahren der Beratungstätigkeit immer wieder ein Scheitern von Führungskräften erlebt, die auf der Seite „klare konflikthafte Führung“ zu wenig oder gar nicht agiert haben. Was auch immer ihre Motivationen waren, z.B. anderen nicht zu Nahe treten zu wollen, eine gewisse Scheu andere zu fordern und zu sanktionieren, wenn diese sich nicht loyal und regelgerecht verhielten.

Besonders für diese Menschen ist der aktuelle Zeitgeist, in dem von einem Kulturwandel gesprochen wird, sehr gefährlich. Agile Methoden, in denen der Chef nur noch als Coach fungiert könnten eine durchaus willkommene Alibifunktion bekommen, sich aus den „niederen menschlichen Führungsaufgaben“ heraus zu halten (Konfliktvermeidungskultur).  

Die Frage ist dann allerdings zu stellen, was mit sozialen Systemen passiert, wenn die Führung diese Dimension im Führungsverhalten vermeidet? Wie entwickeln sich soziale Systeme, die ausschließlich auf Nichteinmischung und Vertrauen setzen, dass jedes Mitglied sich schon an die Regeln und Werte halten wird?

Ein alter systemischer Lehrsatz meines Ausbilders Fritz B. Simon lautet: Teams oder Mitarbeiter machen andere zu Führungskräften, wenn sie auf das grenzenlose Ausleben Ihrer Autonomie verzichten. Andererseits könnte man dann formulieren, dass mit willkürlicher und nicht angepasster Autonomie Mitarbeiter ihren Führungskräften den nötigen Respekt entziehen und sie als Führungskräfte entwerten und ihnen ihre Ablehnung darbieten.

Deshalb wäre es vielleicht hilfreicher, wie bei britischen Fußballvereinen, von Teammanager zu sprechen. Dieser Teammanager führt in Personalunion die Funktionen eines Cheftrainers und eines Sportdirektors aus.   

Dieser wechselt sich in der Regel auch nicht selbst in das sein Team ein, interveniert aber zeitnah durch transparente Konfliktgespräche, reagiert sofort auf Abweichungen und den Zusammenhalt gefährdende Verhaltensweisen. Disziplinarisch steht ihm eine breite Palette zur Verfügung z.B. durch Auswechselungen, Verlust der medialen Bühne des Spielfeldes, Zuweisen eines Tribünenplatzes bis zum Verkauf des Spielers etc..

Disziplinarische Folterwerkzeuge müssen nie zur Anwendung kommen, es muss nur allen bewusst sein, dass sich der Teammanager nicht zweimal bitten lassen sollte, wenn unsauber, unfair oder zu egoistisch agiert wird. Es wird keine Potentialentfaltung und Weiterentwicklung ohne Konsequenz für das eigene Verhalten geben.

Also Vorsicht vor den „Entweder- oder Propheten“ der agilen Szene (entweder Chef der alten Schule oder nur noch Coach) die jetzt „das Ruder“ ganz auf die andere Seite reißen wollen, ohne tieferes Verständnis für soziale Ausgleichsregulationen in Systemen und mit Scheuklappen für die angerichteten Nebenwirkungen.

     

 


Jan-Peter P. (JP) Schacht

Veränderungen in Organisationen nachhaltig und ganzheitlich wirksam werden lassen - Experte für die Implementierung von Strategie-, Kultur-, Organisations- und Nachhaltigkeitsveränderungen

4 Jahre

Die Wahrheit von allem liegt - wie von Dir wie immer richtig beschrieben - bekannter Massen immer in der Mitte. Führung muss eben beides können: Potenzialentfaltung ermöglichen und Werte vorgeben, einfordern, vorleben. Diese haben sich in Systemen meist über viele Jahre gebildet, wenn sich nicht aus einer konsequenten Anwendung in der Organisation entwickelt haben. Die empfundene Kultur ist die Anwendung von Werten. Sind die Werte so ausgestaltet und haben sich entsprechend entwickelt, sind „führungslose“ Systeme durchaus auffindbar, werden immer wieder heroisiert, sind aber eher die Ausnahme. Führung ist m.E. Haltung, Charakter, Wertschätzung und Anstand, beherrschen die wenigsten, noch weniger in der heutigen Zeit. Und wo wir gerade bei Teammanagern sind: Klopp und Flick führen - wie man liest - recht unterschiedlich, aber beide extrem erfolgreich, beide berücksichtigen Regel 1 und 2 (gem. Post). Und dem weniger Lauten haben im November 2019 die wenigsten diese Entwicklung zugetraut. Sehr spannend!

Christina Kausch

Supervision, Organisationsentwicklungwicklung, Moderation, Coaching

4 Jahre

Vielen Dank für deinen Beitrag, Klaus-Dierer. Mir gehen gerade einige Fragen durch den Kopf: wie verändert sich die Rolle der Führungskraft in Zeiten des Fachkräftemangels, wenn der Erfolgsdruck steigt, aber das Fachpersonal nicht zur Verfügung steht? Wie konfliktreich kann die Führungskraft/ der Coach dann sein, wenn ein Austausch von der "Ersatzbank"nicht so einfach möglich ist? Dann braucht es ein gut kommuniziertes gemeisames Ziel, damit die Mannschaft der Strategie des Coaches folgt. In meiner Praxis habe ich manchmal den Eindruck, dass Führungskräfte zum vermeintlichen Coach werden wollen, wenn sie selbst weder Entscheidungskraft haben noch Verantwortung übernehmen wollen.

Dirk Osmetz

Geschäftsführender Partner bei Musterbrecher® Managementberater

4 Jahre

Sehr gut, Klaus-Dieter. Ich kann dir nur zustimmen. Wenige harte Pole, mit denen man klar den Rahmen absteckt und ansonsten Freiraum zulassen, ist weniger die Aufgabe eines Coaches, sondern die einer verbindlichen Führungskraft. Dennoch wären mir manchmal Coaches lieber als unverbindliche Manager, denen die Menschen nicht folgen.

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