Vom Üben, Ablöschen und Absentismus
Wer schaut für's Üben?
Im Interview in der NZZ Neue Zürcher Zeitung , das Erich Aschwanden und Daniel Gerny mit Felix Christ geführt haben, geht es einmal mehr um das Wesen der Volksschule. Felix Christ ist ein pensionierter Primar- und Kleinklassenlehrer. Hier geht's zum Interview (Paywall).
Das Gespräch beginnt mit den Gefahren und Chancen digitaler Geräte, wo Christ den Standpunkt vertritt, nur Verbote reichten nicht, denn es gehe auch darum, den Umgang zu erlernen. Nur komme ob der Fülle neuer Themen das Einüben von Grundfertigkeiten zu kurz. Das müsse halt zuhause passieren. Die Bedeutung des Übens werde ja in Musik und Sport auch nicht angezweifelt. Ich habe es als klares Votum für Hausaufgaben verstanden, nur die Logik der Argumentation erschliesst sich mir nicht: In der Schule verbringen die Kinder jede Woche 30 und mehr Lektionen. Musikstunden gibt's meist eine einzige. Irgendwie logisch, dass das als Übungszeit nicht reicht. Aber welche kleine Fussballerin übt zuhause Freistösse weiter?
So stellt sich mir die Frage: Sollte nicht primär die Schule dafür sorgen, dass in der Schule genügend Zeit für’s Einüben der Grundfertigkeiten zur Verfügung steht? Müsste nicht sie zumindest in den ersten 6 Jahren Haupt-Übungsort sein? Im Wissen darum, was die Folgen für all die Kinder sind, die zuhause nicht die benötigten Ressourcen erhalten: Zeit, Wissen, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Verständnis.
Gemeinsames Lernen oder frühe Trennung?
Aber lassen wir das, denn schon ist das Gespräch bei der Integrativen Schule angelangt. Für Christ war diese von Anfang an ein Fehlkonstrukt. Er vertritt die These, lernschwachen Schüler:innen sei es besser ergangen, als sie separiert in Kleinklassen beschult wurden. In seinen Kleinklassen sei die Stigmatisierung jedenfalls kaum je ein grosses Thema gewesen und es hätten sich immer gute Anschlusslösungen finden lassen.
In den integrierten Klassen aber würde mit der wachsenden Bedeutung von Noten den Schwachen immer vor Augen geführt, dass sie zu den Schlechtesten in der Klasse gehören. Denn diese würden ja andauernd sehr schlechte Noten erhalten. Deshalb sieht er sie heute sogar stärker stigmatisiert und spricht sich klar für die Separation aus.
Auf die kritische Nachfrage gesteht er zwar Klassen mit gesunden Mischungen hohes Integrationspotenzial zu, weil Schwache dort von Starken lernen können. Nur sei die gesunde Mischung kaum mehr gegeben.
Hier würde ich gerne nachfragen: Wenn in ungut gemischten Gruppen das Lernen erschwert oder gar verunmöglicht wird, weshalb schlagen Sie dann vor, genau solche lernhinderlichen Mischungen mit Förderklassen herzustellen? Weshalb bemühen wir uns nicht im Gegenteil darum, möglichst gute Mischungen hinzubekommen? Die Gemeinde Uster mit Patricia Bernet macht genau das. Eine digitale Anwendung von Ville juste ist ihr Lösungsansatz.
Auch hier fragen die Interviewenden zwar nach, aber sie laufen ins Leere. Christ ignoriert wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um die integrative Schule, er möchte gar schon während der Primarschule Leistungsklassen einführen. 6 Jahre zusammen in einer Klasse sei zu lange, weil die Leistungsschere halt auseinandergehe. Und nicht für alle Kinder seien die gleichen Settings passend. Auch darum würde er sie "ihren" Settings zuteilen.
Zwischenfazit
Es gibt offenbar immer noch Personen, welche keine einzige traditionelle Ausprägung von Schule kritisch hinterfragen: Weder den hohen Prüfungsstress, gleiche Settings und gleiches Lernangebot für alle Kinder in einer Klasse, noch die gleichen Anforderungen für alle Schüler:innen über Ziffernnoten. Auch nicht die Praxis, über die Köpfe der Kinder und Eltern hinweg schulische Laufbahnentscheide zu treffen. Schade.
Dem Gespräch hätte eine Person gut getan, die eine dezidiert andere Meinung vertritt. So blieben auch die wildesten Thesen teilweise unwidersprochen.
Von Schulabsentismus
TeleZüri widmet sich am 02. Oktober dem Schulabsentismus. Offenbar häufen sich die Fehlzeiten von Schülerinnen und Schülern in beunruhigendem Tempo. Eine These ist natürlich Faulheit.
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Marijana Minger , Präsidentin der vereinigten Schulpsychologinnen und Schulpsychologen des Kantons Zürich, zählt mehrere Faktoren auf: Überforderung oder Unterforderung in der Schule, Mobbing respektive fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, aber auch problematische familiäre Konstellationen.
Gabriela Rothenfluh , Präsidentin der Kreisschulbehörde Weidberg verneint Faulheit als Grund, denn diese könnte man leicht mit Anreizsystemen oder Konsequenzen austricksen.
Für Lena Fleisch , Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, ist es zentral, die komplexen Situationen mit allen Beteiligten anzuschauen. Dabei seien Sensibilisierung und Prävention essentiell, und das Netz ums Kind herum gut funktioniert: Dass das Kind eng begleitet ist und die Personen schnell miteinander kommunizieren.
Und doch ist bei allen Befragten eine gewisse Ratlosigkeit spürbar, bei betroffenen Eltern kämen häufig noch Schuldgefühle hinzu.
Gibt es Übereinstimmungen?
Auf den ersten Blick sind es Beiträge zu unterschiedlichen Themen und Problematiken. Doch doch sehe ich klare Gemeinsamkeiten: Wir sind mit problematischen Symptomen konfrontiert. Kinder scheinen zunehmend überfordert, die Motivation leidet. Sie zweifeln an sich und kämpfen mit psychischen Problemen.
Dann wird es natürlich komplex, eine Ursachenanalyse ist es auch. Trotzdem, oder gerade deshalb finde ich die Frage zwingend: Woher kommt diese Entwicklung?
Und wenn wir die Frage ernst meinen, müssen wir uns auch den Kindern und Jugendlichen zuwenden, mit ihnen sprechen, ihnen zuhören. Und es braucht die Bereitschaft, auch unangenehmen Wahrheiten ins Auge zu blicken.
Lasst uns aber bitte nicht allen Schüler:innen pauschal Bequemlichkeit, Desinteresse und Disziplinlosigkeit unterstellen. Um dann als Lösung vorzuschlagen, die Zügel zu straffen. Es wird die Probleme nicht lösen, soviel ist sicher.
Übrigens: Es gibt sie schon, Aussagen und Resultate zur Befindlichkeit. Es gab die Stress-Studie von Pro Juventute 2020, die Befragung der Stadtzürcher Jugendlichen 2022, Aussagen von Eltern aus der Sotomo-Studie 2022, und Menschen wie Oskar Jenni oder die vielen Schulpsycholog:innen hätten sicherlich auch viel zu erzählen.
Denn worin wir uns vermutlich fast alle einig sind: Schule sollte ein Ort sein, an dem sich Kinder und Jugendliche wohl fühlen.
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1 MonatSchaut euch die Welt an! Kinder sind unsere Spiegel, hier liegen die Antworten, noch Fragen??
Tandem: NI & KI Wobei NI Natürliche Intelligenz bedeutet.
1 MonatIch geniesse Studien, die in Zahlen das belegen, was man schon weiss. Sie fragen nach dem Weshalb? 1. teils überforderte Eltern 2. oft exzessives Handykonsum 3. Soziale Probleme . .... Willst Du detailliertere Ausführungn zu Ziff. 1 bis 3 oder weitere Stichworte, so melde Dich. Ich versethe Deinen Frust aber es sind nicht die Kinder die Ursache des Übels sondern wir Erwachsene. In diesem Sinne grsst Dich Robert aus der rätoromanischen Surselva, GR, CH PS: Das einleitende Statement ist leicht zynisch aber hoffentlich umso erfrischend!
Politologe, Gründer VILLE JUSTE - space & society
1 MonatDanke, Daniel Auf der Maur. Zum Glück leuchtet es den meisten Menschen ein, dass zumindest im Kindergarten und in der Primar keine Leistungszüge geführt werden dürfen (§ 26 Volksschulgesetz ZH). Faktisch wird aber auch dieser Grundsatz untergraben, wenn meist leistungsschwächere Kinder in Klein- oder Förderklassen eingeteilt werden. Der Ruf nach Förderklassen kommt meist aus Schulen mit ungünstiger Zusammensetzung. Das angesprochene isa-Tool kann zu ausgewogenen Zusammensetzungen und damit zur Entlastung aller Beteiligten beitragen.
Fine-tuning education & culture settings to foster an increased sense of belonging. Minecraft Workshops for democratic process. Researching on autism and learning Touchdesigner for media installations projections.
1 MonatLisa Rosa (Hamburg, Lehrerfortbildnerin) hat mal gesagt. Wenn Kinder sich langweilen, ist der Unterricht schlecht.