Von der unendlichen Vielfalt des Glücks - Teil 1: der Rausch
Glück ist ein sehr subjektives Gefühl. Zwar gibt es zahlreiche internationale Studien, die dem Glück ganzer Nationen nachstellen und dafür klare Indikatoren wie Gesundheitsversorgung, Bildungsstand und Armutsverteilung vergleichen. Doch für den Einzelnen ist das Wesen dieses Zustandes schwer zu fassen. Was empfinde ich gerade eigentlich, wenn es mir mal gutgeht? Bin ich vergnügt, froh, ausgelassen oder einfach mal zufrieden? Glück hat viele Facetten.
Der Rausch
Der Rausch, so scheint es, ist etwas für das Wochenende, für Silvesterabende, Urlaube, Weihnachtsfeiern, Hochzeitsbankette. In eher nüchternen Zeiten wie zum Beispiel im Monat Januar haben viele keine Lust mehr auf ekstatische Zustände, die oft begleitet sind von erhöhten Promillewerten im Blut, schlecht zündenden Feuerwerkskörpern und viel zu viel Weihnachtsgebäck. Der Rausch, so scheint es, findet nur dann seine Legitimation, wenn darauf wieder die Ernüchterung folgt, am besten in Kombination mit guten Vorsätzen, noch konzentrierter, fleißiger und rationaler zu sein als vor dem Rausch. Man besinnt sich wieder auf die Gesundheit der eigenen Organe, den Erfolg bei der Arbeit, die Finanzen, den Alltag. Vom Rausch bleibt vielleicht noch ein Hauch von Wehmut. Im Alltag hat er nichts zu suchen. Er dient als Belohnung, die normalen Plackereien und Anstrengungen für eine ganze Weile sehr kontrolliert überstanden zu haben.
Der Duden definiert Rausch als einen Zustand, der durch den Genuss von zu viel Alkohol oder anderen Drogen entsteht und zu einer mehr oder weniger starken Verwirrung von Gedanken und Gefühlen beiträgt. Rausch sei andererseits aber auch ein ekstatischer Zustand, ein Glücksgefühl, das jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebe. Drittens sei der Rausch eine betäubende Vielfalt. So zaubert zum Beispiel der Frühling einen Rausch von Blüten hervor. Wer einmal das Künstlerdorf Worpswede bei Bremen besucht hat, ist der malerischen Ekstase über die berauschenden Wunder der Natur sicherlich ein Stück näher gekommen, zum Beispiel beim Betrachten des Bildes "Der Frühling" oder "erster Sommer" von Heinrich Vogeler.
Berichte über Rauschzustände stehen leider oft rein in Verbindung mit pathologischen Veränderungen des Gemützustandes. Diesem ekstatischen Gefühlszustand wird nicht getraut. Er könne zum Beispiel auf eine abrupt einsetzende psychotische Episode hinweisen. Der Mensch im Rausch gilt nicht mehr als zurechnungsfähig.
Für einen ordentlichen Rausch stehen diverse legale und illegale Substanzen zur Verfügung. Allen gemein ist, dass sie alles andere als gesund sind. Gesellschaftlich werden sie aber sehr unterschiedlich bewertet bzw. geächtet. Auch Zucker, Schokolade und Lakritze können für gewisse rauschartige Zustände sorgen, ebenso Fernsehserien , Internetspiele und Social Media. Wenn man möchte, kann man sich ständig und überall berauschen. Aber macht diese Art von Rausch wirklich glücklich?
Der Rausch der Sinne, das Entrücktsein vom Alltag scheint unvereinbar mit dem rationalen Menschenbild der Moderne. Dabei ist er gerade für das kreative Schaffen unumgänglich. Ich verfalle manchmal beim Schreiben in einen Rausch. Die Zeit vergeht wie im Flug. Sätze formulieren sich wie von selbst. Ich vergesse die Uhrzeit, meine kalten Füße und die blöden Rückenschmerzen. Wann dieser Zustand eintritt, kann ich leider nicht vorhersagen. Manchmal ist er da, manchmal nicht.
Da das Wort Rausch einen recht negativen Beiklang hat, sprechen Kreative lieber von „Flow“. Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat diesen Begriff maßgeblich geprägt und seine verschiedenen Facetten jahrzehntelang intensiv erforscht. Das sehr menschliche Bedürfnis nach Rausch erhält dadurch einen positiven, eher gesunden Anstrich. Denn es geht dabei nicht um drogeninduzierte Ekstasen, sondern um vom Körper selbst produzierte Glückszustände.
Bewegung und künstlerische Tätigkeiten sind besonders gut dafür geeignet in einen Rauschzustand ohne Mithilfe toxischer Substanzen zu geraten. Die Vorraussetzungen für ein Flow, so Professor Csikszentmihalyi, ist das Bedürfnis sich neuen Herausforderungen zu stellen. Ein Flow entsteht durch eine Kombination aus harter Arbeit und der Möglichkeit für einen gewissen Zeitraum ergebnisoffen zu kreieren. Bei einigen Menschen ist dafür ein gewisser Zwang hilfreich. Sie funktionieren nur mit Deadlines. Andere wiederum versetzt Zeitnot in Panik.
Ein Rausch à la flow bedeutet sich am Limit zu bewegen, aber sich nicht überfordert zu fühlen. Dafür reichen manchmal ganz alltägliche Dinge. Meine neunjährige Tochter zum Beispiel gerät beim Backen in einen Rauschzustand, eine Freundin beim Heckenschneiden mit der Motorsäge und mein Vater beim Suchen nach hübschen Feldsteinen für seine Grundstücksmauer.
Ekstase bedeutet im Griechischen so etwas wie „ein wenig neben sich stehen“. Man ist nicht mit sich selbst und seiner Gedankenwelt beschäftigt, sondern geht ganz in der Tätigkeit auf. Das kann sehr erfrischend sein, ist aber auch eine Herausforderung.. Denn man entfernt sich aus seinem Komfortbereich, aus seinem meist eng gesetzten Handlungsrahmen aus Werten und Zielvorstellungen. Rausch ist das Gegenteil von Kontrolle. Deshalb ist ein Rausch vor allem für diejenigen, die sich vor Kontrollverlust fürchten, etwas Unheimliches, wahrscheinlich sogar Peinliches.
Nervösen, ängstlichen Menschen fällt es leider besonders schwer in den Flow zu kommen. Sie neigen dazu Erlebnisse und die eigene Arbeit eher negativ zu bewerten. Aus Angst vor Misserfolgen trauen sie sich oft gar nicht erst an Aufgaben, die ihre Leistungsgrenzen ausreizen, klagt Örjan de Manzano. Leider ist das keine gute Voraussetzung für kleine oder größere ekstatische Zustände.
Doch auch die Sensibelchen unter uns können den Flow erleben. Sie beginnen am besten mit etwas, das sie sich gut zutrauen und dass ihnen Spaß macht. Kleine Erfolgserlebnisse schaffen Selbstvertrauen und den Mut Neues zu wagen. Der Körper lernt Gefallen am Flow zu finden. Man wagt ein wenig mehr.
Sich ab und an in einen Rausch zu versetzen gehört vermutlich zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Das Leben ist schwierig genug. Und eine gewisse Transzendenz ist in Zeiten von Überindividualisierung und Rationalisierung sehr hilfreich.
Mit größerer Sicherheit überkommt mich der Rausch in den Bergen, bei einer schönen Wandeurng, selbst wenn das Wetter schlecht ist. Die Handlung selbst wird zum Motiv, meint Csikszentmihalyi. Man vergisst Hunger, Durst und häufig sogar Schmerzen. Mir hilft ein Ziel vor Augen, ob beim Wandern oder beim Schreiben.
Leider ist der Rausch ist kein Dauerzustand. Er funktioniert so einfach nicht, verbraucht er doch eine Menge Ressourcen. Die positiven Emotionen können Anstrengungen, auch enorme Anstrengungen wie das Besteigen des Mount Everest, für eine Weile überspielen. Doch er ist langfristig nicht aufrecht zu erhalten. Den Flow gibt es nur, weil es auch die Langeweile gibt.
Das Schöne am Flow ist seine gewisse Weltentrücktheit. Ich neige wie viele andere Menschen zum Grübeln und freue mich hin und wieder über einen Urlaub vom Ich. Es tut gut, sich mal nicht mit den eigenen Unzulänglichkeiten, Ängsten und Zweifeln zu befassen, sondern einfach etwas zu machen. Wenn ich nicht weiterkomme, mir gar nichts mehr einfällt, helfen mir ein paar Stunden im Schrebergarten. Ich grabe dann wie im Rausch Beete um, erfreue mich an Hummeln und Bienen, die wiederum beim Sammeln von Nektar einen Flow erleben. Ich verschmelze dann mit meinem Tun und meinem Garten. Dabei habe ich dann wiederum erfrischende Ideen, von denen später meine Arbeit am Schreibtisch profitiert.
Ein Rausch lässt sich ohne psychoaktive Substanzen nicht auf Knopfdruck erzeugen. Man kann nur die Bedingungen dafür schaffen, die sein Erscheinen möglicher machen. Die Suche nach dem Flow ist ein schwierig auszubalancierendes Spiel zwischen Herausforderungen und kreativen Pausen, in denen diese kleinen Momente des rauschhaften Glücks entstehen können.