Wahlen in der EU

Wahlen in der EU

Gestern war ein Tag gemischter Gefühle: Er begann mit Dankbarkeit und endete mit Fassungslosigkeit.


Dankbarkeit empfand ich beim Ausfüllen meiner Briefwahl-Unterlagen. Menschen neigen ja meistens dazu, Normalität als selbstverständlich zu betrachten und gewisse Dinge gar nicht mehr wertzuschätzen. Beim Ausfüllen der Unterlagen musste ich an all jene Menschen denken, in deren Heimatländern freie, friedliche und nicht manipulierte Wahlen wie ein Traum aus einer fernen Galaxie wirken – und empfand in diesem Moment große Dankbarkeit dafür, dass das in Deutschland ganz anders ist.

Doch als gestern Abend die ersten Hochrechnungen zur Europawahl eintrudelten, wich dieses schöne Gefühl einer gewissen Fassungslosigkeit.

Zum Beispiel darüber, dass sich der erwartete Trend bestätigte: Europaweit gab es einen deutlichen Ruck nach rechts. In einigen Ländern – Frankreich, Italien, Österreich oder Ungarn – errangen rechtsextreme Parteien sogar die Oberhand. Zwar hat in Ungarn die Fidesz-Partei des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei Europawahlen erzielt. Mit 44,2 Prozent der Stimmen blieb sie weiterhin stärkste politische Kraft in dem Land, doch die neue Partei Respekt und Freiheit (Tisza) des Orban-Herausforderers Peter Magyar kam aus dem Stand auf 30,1 Prozent.

Und in Polen hat die liberalkonservative Bürgerkoalition von Regierungschef Donald Tusk die Europawahl gewonnen. Die nationalkonservative PiS von Jaroslaw Kaczynski landete auf dem zweiten Platz.

Oder darüber, dass die AfD im Osten die stärkste Partei wurde, und das trotz – oder gerade wegen? – diverser Skandale in jüngster Zeit, die die Wählerschaft normalerweise abschrecken. Aber vielleicht müssen wir unsere Definition des Wortes „normal“ ohnehin dringend überdenken.

Oder darüber, dass neben der AfD mit der BSW eine weitere populistische Partei entsteht. Damit baut sich in Deutschland ein Potential von bis zu 30 Prozent an Wählerstimmen auf, die nicht zur etablierten Mitte gehören, sondern ebenso europaskeptisch wie russlandfreundlich sind – ein Umstand, den internationale Investoren traditionell kritisch sehen, und der dem Image Deutschlands im globalen Wettbewerb schaden wird.

Natürlich: Das Ergebnis ist ein klares Misstrauensvotum gegenüber der Ampelregierung – denn die Wahl in Deutschland war stark auf nationale Themen fixiert, was auch auf den Plakaten zum Ausdruck kam.

Vor allem die Grünen sind nun offenbar auf ihr Kernklientel reduziert und werden sich künftig internen Debatten über ihre Ausrichtung stellen müssen. Besonders interessant: Die Partei konnte auch nicht davon profitieren, dass bei dieser Europawahl erstmals 1,4 Millionen Wähler ab dem 16. Lebensjahr abstimmen durften. Im Gegenteil: Gerade bei den jungen Wählern erlitten die Grünen hohe Verluste.

Erstaunlicherweise geht die FDP leicht stabilisiert aus der Wahl hervor, was dazu führen dürfte, dass sie ihre Positionen gegenüber den Grünen und der SPD nicht aufgeben wird.

Derzeit sieht alles danach aus, als würde die Ampel dennoch versuchen, weiter zu regieren, da jede Neuwahl für alle drei Partner mit Verlusten verbunden wäre. Allerdings ist das ohnehin schwierige Regieren nun noch schwieriger geworden, die Debatte um den Haushalt 2025 wird zu einer ernsten Probe.

Und nun? Nun muss sich das Europaparlament baldmöglichst neu sortieren und die personalpolitischen Weichen stellen, inklusive EU-Kommission und deren Agenda für die kommenden fünf Jahre.

 Dennoch hielt der Wahlabend auch Tröstliches bereit, zum Beispiel die gestiegene Wahlbeteiligung. In Deutschland lag die Quote der Wähler*innen bei fast 65 Prozent und damit so hoch wie noch nie seit der Wiedervereinigung.

Viele Organisationen hatten die Europawahl als Richtungsentscheidung für den Kontinent benannt. Angesichts des Wählerwillens gilt es nun vor allem die Prioritäten neu auszutarieren. Gleichzeitig müssten die gemäßigten Parteien links und rechts der Mitte die Vorteile der EU besser verdeutlichen, um die zunehmende Europaskepsis abzuschwächen. Letzteres ist auch Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten beziehungsweise von deren obersten Vertretern.

Zumindest vom deutschen Bundeskanzler habe ich seit gestern in dieser Frage nichts vernommen – und auch das hinterlässt mich, genau: fassungslos.

Rupert Graf Strachwitz

Gründer und Senior Strategic Advisor, Maecenata Stiftung

5 Monate

Daß die Parteien in Gruppen, die unter Sonstige laufen, erheblich hinzugewonnen haben, ist interessant und verdeutlicht die zunehmende Skepsis der Bürgerinnen und Bürger gegen die etablierte Parteiendemokratie. Bspw. hat Volt die Zahl seiner Mandate verdreifacht. Glückwunsch! Was mich ärgert, ist, daß die Wahlberichterstattung der Medien das komplett ignoriert. Dort sind sie immer noch die Sonstigen, über die praktisch nichts gesagt wird.

Harald Händel

Für mich ist und war Kommunikation immer Geschichten erzählen, erklären, Dialog organisieren und überzeugen.

5 Monate

Ja, lieber Michael, mir geht es ähnlich. Nun gilt es daraus entsprechende Lehren zu ziehen. Ein Weiterso darf es nicht geben! Und es ist offensichtlich, dass für viele die EU nicht fassbar ist, dagegen vielleicht ein stärkeres Hervorkehren und Besinnen auf ein „Europa der Vaterländer“ Brücken über die Gräben schlagen könnte. Eins aber hat mich positiv überrascht und das war anders und besser als zu den Zeiten, als ich für die EU unterwegs war: Es gab im Vorfeld der Wahlen eine umfangreiche und sehr gute Berichterstattung - und zwar medienübergreifend. Das war früher nie so der Fall. Dafür muss man Sendern, Medienhäusern und den beteiligten Journalistinnen und Journalisten auch mal Dank und Anerkennung aussprechen. Daran hat’s sicher nicht gelegen… oder vielleicht doch, weil so vieles auf EU-Ebene auch mal richtig ausgeleuchtet wurde…😉

Marie von Manteuffel

Humanitarian Advocacy / Migration and Displacement

5 Monate

Der Bundeskanzler schweigt, während der französische Präsident Neuwahlen ansetzt. Aus meiner Sicht beides riskante Reaktionen auf den eigenen Misserfolg: Die Chance für die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks mit Donald Tusk als Impulsgeber für ein demokratisches, zukunftsfähiges Europa?

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