Wenn die Intuition sich um die Fakten schert
Mitte Januar 2024 habe ich während drei Tagen eine Umfrage auf LinkedIn publiziert mit dieser Fragestellung: «Wie gross ist der Anteil der Rentnerinnen und Rentner (Ü65) an der Schweizer Bevölkerung?».
Nun, liebe LinkedIn-Community: Knapp daneben wäre zwar auch vorbei, aber hier liegt ihr mehrheitlich total daneben. Von den abgegebenen 43 Stimmen – herzlichen Dank dafür – haben 93 Prozent den Rentneranteil an der Bevölkerung deutlich überschätzt. Ein Zufallszahlengenerator, der wahllos für eine der drei Antworten gestimmt hätte, wäre mit nur 66 Prozent falschen Antworten erfolgreicher als ihr.
Gemäss Bundesamt für Statistik (Demografisches Porträt der Schweiz) lag der Rentneranteil 2020 gerade nur bei 18.8 Prozent.
Eure Antworten sind so ausgefallen:
Wie lässt sich diese systematische Fehleinschätzung plausibilisieren?
Analysiert man die helvetische Gemütslage anhand des Sorgenbarometers, das seit 47 Jahren existiert und seit 1995 durch gfs.bern im Auftrag der Credit Suisse jährlich erhoben wird, so offenbaren sich interessante Entwicklungen. Wie die NZZ am 23.11.2023 treffend rekapitulierte, waren sich zum Beispiel in den 1980er Jahren 80 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer einig, dass das Waldsterben eine grosse Bedrohung für das Land darstellt. In den 1990er Jahren meinten 90 Prozent, die Drogenproblematik sei ein zentrales Problem. Entsprechend wurden jeweils politisch geeignete Aktionspläne öffentlich gefordert, um das Problem anzugehen.
«Früher konnten sich die Menschen in der Schweiz auf die gleichen Sorgen einigen, heute ist das Bild differenzierter […] Die Schweiz kann sich nicht mehr auf ihre grössten Sorgen einigen.»
Im Sorgenbarometer erreiche heute kein Thema mehr als 40 Prozent Aufmerksamkeit. Gemäss der neuesten Umfrage sind die steigenden Gesundheitskosten die grösste Sorge der Schweizerinnen und Schweizer. 40 Prozent der befragten Personen nennen sie als eine ihrer fünf grössten Ängste. Auf Platz 2 folgt der Klimawandel / Umweltschutz mit 38 Prozent Nennungen und bereits auf Platz 3 die AHV / Altersvorsorge mit 32 Prozent Nennungen.
Obwohl als Kummer bei der Bevölkerung nicht dominant, ist die Altersvorsorge auch nach der Annahme der AHV21-Reform (einheitliches Rentenalter zwischen den Geschlechtern und Erhöhung der Mehrwertsteuer) dennoch hochaktuell. Am 3. März 2024 kommen folgende Vorlagen zur Volksabstimmung:
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Entsprechend läuft der Abstimmungskampf auf Hochtouren, und das Thema der Altersvorsorge ist sehr präsent. Nur so kann ich mir erklären, dass der Rentneranteil an der Bevölkerung, eben angesichts der Aktualität des Themas, dermassen überschätzt wird.
Eine ähnlich eklatante Fehleinschätzung liegt der Initiative für eine 13. AHV-Rente zugrunde. «Die Rente reicht nicht mehr», lautet der Slogan der Gewerkschaften in ihrer Abstimmungskampagne, die sie in diesen Tagen lanciert haben. Sie forcieren eine Debatte über die Altersarmut in der Schweiz und behaupten faktenwidrig, selbst Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen wüssten wegen der gestiegenen Preise nicht mehr, wie sie über die Runden kommen könnten.
Dem widerspricht u.a. der Forschungsbericht Nr. 4/22, «Die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung im Erwerbs- und im Rentenalter», den der Genfer Universitätsprofessor Philippe Wanner im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen im Oktober 2021 erstellt hat. Wanner ergänzt gegenüber der NZZ am Sonntag vom 14.01.2024:
«Die Pensionierten besitzen nicht nur mehr Vermögen. Sie haben dank dem gut ausgebauten Vorsorgesystem auch ein geringeres Armutsrisiko als die Erwerbstätigen.»
Besonders bei alleinerziehenden Frauen, Migranten, Bauern sowie einem Teil der Selbständigen bestehe die Gefahr einer finanziellen Not.
Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart von der Universität Lausanne sagt ebenfalls gegenüber der NZZaS:
«Sozialpolitisch lässt sich nur schwer begründen, warum ausgerechnet die Gruppe der Rentner insgesamt von mehr Umverteilungen profitieren soll.»
Er verweist auf den oben erwähnten Bericht des Bundes. Laut diesem beurteilten nur 3 Prozent der Rentner ihre finanzielle Zufriedenheit als «gering». Sechs von zehn Pensionierten seien mit ihrer materiellen Lage «sehr zufrieden» – doppelt so viele wie bei den Erwerbstätigen.
Insofern gebe ich Rino Wenger in seinem Kommentar auf meine LinkedIn-Umfrage recht: Die aktuelle wirtschaftliche Situation der grossen Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz rechtfertigt keine 13. AHV-Rente. Hingegen ist eine weitere Mehrbelastung der erwerbstätigen Bevölkerung zu vermeiden. Rein aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung wird diese finanzielle Belastung ohnehin zunehmen. Sie lässt sich messen am Altersquotienten. Dieser beschreibt das Verhältnis der Gesamtzahl der Personen, die im Allgemeinen nicht mehr erwerbstätig sind, zu der Anzahl der Personen im Erwerbsalter. Das Ergebnis wird als Anzahl Personen ab 65 Jahren pro 100 Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren ausgedrückt. Der Altersquotient betrug 23.5 (1990), 25.0 (2000), 27.1 (2010), 30.7 (2020) und wird 2050 auf 46.5 ansteigen (BfS, 2022). Das heisst, die werktätige Bevölkerung wird 2050 rund doppelt so viele Rentnerinnen und Rentner im Umlageverfahren der AHV zu tragen haben wie noch 1990.
Allein schon deshalb ist den Eigeninteressen einer kleinen Minderheit von Rentnerinnen und Rentnern an der Gesamtbevölkerung mit der Initiative für eine 13. AHV-Rente am 3. März 2024 eine Absage zu erteilen: NEIN zur 13. AHV-Rente
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9 MonateKlares Nein zur 13. AHV-Rente! Weil damit nicht denen geholfen wird, die es nötig hätten. Ich bin mir nicht sicher, ob jeweils alle verstehen, über was sie abstimmen gehen. Wenn das Volk Ja stimmt, dann erhalten auch solche Rentner die eine Vollrente beziehen eine 13. AHV-Rente. Man rechne: wer eine Vollrente von aktuell CHF 2450/Monat bezieht, hat also 44 Jahre lang im DURCHSCHNITT CHF 88200/Jahr verdient. Ich will niemandem zu Nahe treten, aber wer diesen Durchschnittslohn in seinem Leben verdienen durfte, der hat auch genug in der 2. Säule und hatte sicher die finanzielle Möglichkeit in die 3. Säule einzuzahlen mit diesem Lohn. Wer das trotzdem nicht tat, der hat die Prioritäten halt falsch gesetzt. Es ist nicht fair dieses Versäumnis der jüngeren arbeitenden Generation abzuschieben. Wenn schon, sollte man sich um die Rentner kümmern, die nur eine geringe Rente beziehen, weil sie einfach die schlecht bezahlten Jobs erledigt haben, Alleinerziehende, Frauen die wegen der Mutterschaft Lücken haben usw. Es gibt auch Ergänzungsleistungen, die man neu regeln könnte, wenn man gezielt die Rentner unterstützen möchte, die wirklich mit wenig Geld auskommen müssen. Aber nicht mit einer pauschal 13. Rente für alle.
Ingenieur.
10 MonateDanke! Es wär' ja nicht so schwierig ...
Geschäftsführer der HumanExcellence AG
10 MonateSpannende Insights. Danke fürs teilen 😎