Wer bin ich eigentlich?
Foto. Bertelsmann Stiftung

Wer bin ich eigentlich?


„Wer bin ich eigentlich?“. Viele werden sich kaum noch an diese Zeile aus den achtziger Jahren erinnern. Das Wiener Multitalent André Heller besang so mit schön lasziver Melancholie seine kosmopolitische Herkunft.

Hellers Frage stellen heute viele Menschen in Europa (und nicht nur hier) mit trotzigem Unterton, Schluss mit lasziv. Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das alles noch länger gefallen lasse?

Zwei von drei Deutschen zweifeln an der Qualität der Regierung

Nur noch 29 Prozent der befragten Deutschen sehen in der Qualität der Regierungsarbeit eine Stärke ihres Landes. Das ergab diese Woche eine Allensbach-Umfrage.

Die Frage „Wer bin ich eigentlich?“ klingt zunächst harmlos, leidlich gereizt – und führt im nächsten Schritt schon mitten ins Herz der Populisten und in die Köpfe der Demokratie-Zweifler.

Viele sind genervt vom Malstrom der Megatrends der Moderne

So fragt einer, fragt eine genervt nach dem eigenen Ort, der eigenen #Identität inmitten eines Malstroms von Megatrends des Wandels. Demografische Veränderungen, Digitalisierung, Globalisierung – das sind die Fliehkräfte, die an den Fragenden und Zweifelnden zerren, und nicht nur an ihnen.

Die Bertelsmann Stiftung, für die ich arbeite, beschäftigt sich damit intensiv. Die Kunst-Biennale in Venedig 2019, ehe sie in den Fluten ertrank, bohrte sich Saal um Saal, Pavillon um Pavillon mit Hilfe dieser Frage zum Mittelpunkt unserer Zeit vor, und das war nicht nur eine ästhetische Übung.

"Ich spreche vom Imperialismus der Identitäten"

Kwame Anthony Appiah, 1954 als Sohn eines Ghanaers aus einem Königshaus und einer Engländerin aus der Upper Class geboren und heute Lehrstuhl-Inhaber für Philosophie und Recht in New York, legt in diesen Tagen ein neues Buch vor: „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“ (deutsch bei Hanser Berlin). Im Interview sagt #Appiah: „Ich habe einmal vom Imperialismus der Identitäten gesprochen. Identität kann deine ganze Person kolonisieren, so dass du dann nichts Anderes mehr bist als diese eine Eigenschaft.“

Als Gegengift empfiehlt der bekennende Kosmopolit Appiah – dazu gleichmehr, denn das ist die Kehrseite seiner „Fiktionen der Zugehörigkeit“ – im übrigen „einen leichten, spielerischen Umgang“ mit Identitäten: „Sprich nicht in einer Eigenschaft, sprich für dich selbst!“.

Wozu eigentlich Grenzen gut sind - für die Sicherheit und die Freiheit

Schwierig, schwierig, mag da der niederländische Soziologe und Essayist Paul Scheffer murmeln. Auch er beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Wozu Grenzen? Freiheit in Zeiten von Globalisierung und Migration“ (deutsch im Hanser Verlag) im Grunde mit der richtigen Mischung aus Freiheit und Sicherheit, aus Neugier und Furcht, Ich und Wir und Ihr und Jene.

Also mit der Frage nach einer lebenswerten Balance zwischen dem Eigenen und dem Fremden, in Zeiten der Entgrenzung, der Globalisierung, der Kosmopolitisierung: „Den Wert des Überschreitens von Grenzen kann nur der verstehen, der bereit ist, die Bedeutung von Grenzen zu erkennen“, schreibt Scheffer. Und fordert mit einem Schlüsselsatz des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein „Europa, das Schutz bietet – Une Europe qui protège“. Was, nebenbei gesagt, auch Macrons jüngste, harsche Kritik an der Nato begründet: Sie schütze nicht länger, darum sei sie „hirntod“.

Wer die Identitäten nicht zähmt, riskiert Mord und Totschlag

Zurück zu den Identitäten. Bereits vor gut zwanzig Jahren hat der französische Schriftsteller Amin Maalouf, geboren im Libanon und mit dem identitären Bürgerkrieg der vielen Glaubensgemeinschaften dort groß geworden, vor den „Mörderischen Identitäten“ („Les identités meurtrières“, Verlag Grasset, Paris, deutsch bei Suhrkamp, das Büchlein bekam damals den Europäischen Essay-Preis) eindringlich gewarnt. Der „Panther Identität“ müsse gezähmt werden, sonst …

Die Bürgerkriege in Ruanda und in Ex-Jugoslawien - schon vergessen?

Der Ruf nach Identität gellte damals vielerorts über die blutigen Felder der Bürgerkriege. Schon vergessen? Damals tobten im zerfallenden Jugoslawien die ethnischen Bürger-Kriege. Damals starben in Ruanda Hunderttausende, die eben noch friedlich zusammengelebt hatten.

„Kosmopolitismus ist eine Haltung Fremden gegenüber, die man als Mitbürger sieht, nicht so nahe wie unsere Familie, auch nicht so nahe wie unsere Nachbarn… Aber eben auch nicht so fern, dass ihr Schicksal uns gleichgültig bleiben könnte“, erklärt Appiah. Und er sagt auch das: „Von Singapur nach Buenos Aires zu fliegen, macht dich nicht zum Kosmopoliten, solange du im Hilton bleibst. Der Kosmopolit will wissen, was außerhalb des Hilton passiert.“

Der Frequent Flyer im Hilton ist noch lange kein Kosmopolit

Will andererseits der Identitätssucher wirklich wissen, was jenseits seiner selbst definierten Grenzen, außerhalb seines Biotops passiert?

Hier schließt sich der Kreis. Oder wie die Franzosen sagen: Die Extreme berühren sich gegenseitig, les extrêmes se touchent.

Amin #Maalouf ist Mitglied der ehrwürdigen Académie française. In deren Gemäuer am Pariser Quai de Conti könnte ihm täglich ein anderer „Unsterblicher“ begegnen, wie die Akademie-Mitglieder auf französisch geehrt und ein wenig auch bespöttelt werden: Alain #Finkielkraut.

Verwaltet die Demokratie tatsächlich nur noch den nationalen Zerfall?

Dieser Philosoph, Essayist und Radio-Moderator, jüngst Zielscheibe antisemitischer Attacken aus dem Kreis der Gelbwesten, gilt vielen seiner Landsleute spätesten seit seiner Rede von der „ unglücklichen Identität“ („L’Identité malheureuse“, 2013, nur auf französisch) als Vordenker von Marine Le Pens rechtsextremer Partei (was ich etwas anders sehe).

Das demokratische System in Frankreich, so endet Finkielkraut, „verwaltet von Tag zu Tag den nationalen Zerfall“ („la desintégration nationale“). Das ist die ängstliche Antwort auf den Zeitenwandel, Finkielkraut würde wohl sagen: auf die Zeitenwende.

Und zum Schluss noch ein optimistischer Blick in die Zukunft

Die optimistische Antwort hingegen gibt vorsichtig mit einem schönen Bild am Ende seiner „Mörderischen Identitäten“ der Académicien Amin Maalouf.

Der Schriftsteller wünscht sich, dass sein Enkel, einmal erwachsen, eines Tages in den Werken des Großvaters stöbert, dieses Buch erst vom Staub befreien muss und sich dann schulterzuckend fragt, warum sein Großvater eigentlich damals solche Dinge schreiben musste.


 

        


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