Wer "Boomer" sagt ...
1983, im zarten Alter von 7, lernte ich die magische Zeichenfolge "Load $,8" ... meine lieben Mit-Boomer werden wissen, worum es dabei ging. Es eröffnete sich ein Universum, das zuerst aus Olympic Games und anderen Klassikern bestand und mit den Jahren in erste Programme überging. Meiner Mutter habe ich mal eine Rezeptverwaltung programmiert. Da spricht sie heute noch davon, auch wenn sie sie natürlich niemals benutzt hat. Es folgten diverse Amigas und irgendwann der erste PC. 1993 lernte ich HTML und 1995 gab es erste kleine Aufträge. Internetagentur der ersten Stunde. Die Eroberung des digitalen Raumes habe ich als 1976 Geborener im wahrsten Sinne des Wortes "bit by bit" am eigenen Leib erfahren. Das hält bis heute an. Jeden Tag gibt's sprichwörtliches "Neuland" und das wird auch so bleiben. Ich habe noch eine vage Vorstellung davon, wie ein Leben offline funktionierte und ich bin sehr dankbar dafür, weil ich dieses Menschliche noch kennenlernen durfte, als die Post von der Brieffreundin das Ereignis des Monats war. Freude heute ist einem kokainartigen Dauerkurzrausch von Reels und Stories gewichen, dem auch ich mich nicht entziehen kann. Wenn Du nicht performst wirst Du weg-ge-swiped. Wir haben noch 3 Stunden an der Telefonzelle gewartet, wenn man sich verabredet hatte. Ich will das gar nicht überromantisieren, das Leben ist gut so, wie es ist heute. Aber um das ganze Bild zu sehen, muss man einige Erfahrungen eben selber gemacht haben.
Krieg? Welcher Krieg?
Ich fand es früher total ätzend, wenn Opa nach dem dritten Riesling wieder vom Krieg anfing. Wenn Du den Krieg nicht erlebt hast und maximal im Geschichtsunterricht damit gequält wirst, dann ist das alles ganz weit weg, wenn Du jung bist. Wenn Du 16 bist, dann sind die Leute mit 22 schier schon Rentner. Der seit Jahrtausenden währende Generationenkonflikt ("Die Jugend von heute taugt nichts"/"Die Alten haben von nichts ne Ahnung") lässt sich nur von besonders umsichtigen Mitmenschen BEIDER Generationen überwinden. Denn Unrecht haben sie beide. Ich brauche wirklich meine gesamte Vorstellungkraft, um mir ein Bild davon zu machen, wie mein Sohn in seiner Wahrnehmung aufwächst. In völliger Unkenntnis eines Lebens ohne digitale Medien, Apps und & Co. Es ist nahezu unvorstellbar. Andererseits: Er wird sich ebenso kaum vorstellen können, wie es ohne ist und dass es ein vor-digitales nicht-steinzeitliches Leben gab, in dem Menschen noch auf die ultimative Verbindlichkeit untereinander angewiesen waren.
Die Jugend ist zu nichts zu gebrauchen
Und da stehen wir heute: Die Jugend beschimpft uns entweder als "alte, weiße Männer" oder höflicher als "Boomer". Von nichts haben wir angeblich eine Ahnung. Startup-Mentalität liegt uns fern, latent frauenfeindlich sollen wir auch sein und überhaupt ... dieses "Neuland" ... ein Minenfeld der Digitalisierung. Zugegeben: Es mag solche Exemplare geben. Ich persönlich kenne aber keine. Selbst meine Eltern mit knappen 80 Jahren haben ein Smartphone und sind mehr im Internet unterwegs als mir das manchmal lieb ist. Klar, es gibt Leute, die mit der Geschwindigkeit des Wandels nicht Schritt halten können oder wollen. Die müsste man aber eher in den Arm nehmen, ermutigen, befähigen, als sie abzuqualifizieren. Denn von einem hat die Millenial-Generation nämlich tatsächlich keine Ahnung: Dass all diese Menschen den brutalsten Teil der Digitalisierung bisher schon längst mitgemacht haben. Und es gibt viele Gründe ein paar Dinge von früher mehr als romantisch zu empfinden. So etwas wie Respekt und Verlässlichkeit. Seit dem alles augenscheinlich vergleich- und austauschbar ist haben wir davon weniger. Man will es gar nicht glauben, aber ein respektvoller, höflicher Umgang miteinander ist digital genau so gut machbar wie im realen Leben. Aber es ist im persönlichen Kontakt so viel krasser, schöner, besser, slower. Manchmal ist es sogar so schön, dass man seine fucking notifications ausschalten will.
Boom, boom, boom, boom!
Kurzum: Meinetwegen soll uns die nachwachsende Generation "Boomer" nennen. Irgendein virtuelles Feindbild braucht man ja, um sich zu motivieren. Mich stört das persönlich erstmal nicht, dennoch nervt es iwie. Wer noch keine drei unternehmerischen Haare am Sack hat kann gerne versuchen mich zu belehren, aber Zuhören macht der Präambel einfach keinen Spaß. Das scheitert also gar nicht so sehr am Willen, mehr am Prinzip. Für wen ein 3-monatiges Praktikum schon eine burnout-artige Belastung darstellt, weil es keinen Kicker gibt, soll mal die Dauerkrise des Unternehmertums (in meinem Fall knappe 25 Jahre) mitmachen. Ich persönlich bewundere die Leidensfähigkeit gestandener Unternehmer. Die digitalisierten Leichtmatrosen von heute müssen da erstmal auf die Offiziersschule, um sich meinen Respekt zu verdienen. Ich habe die Entwicklung des digitalen Marketings von seiner Geburtsstunde an erlebt (wann war die genau?). Ich habe als Webentwickler angefangen, allerlei Sprachen gelernt und zumindest mittelmäßig beherrscht. Ich habe aber auch festgestellt, dass ich mit einzelnen "Tools" die wahren Probleme meiner Kunden nicht lösen kann. Im Ernst: Ganz am Anfang war ich selber so unfassbar dämlich zu glauben, meinen frühen Kunden anhand von Webprojekten die Verbesserung ihres gesamten Unternehmens erklären zu können. Wir waren damals die Revolution! Drauf geschissen, totale Idioten waren wir. Ich will mit dem Berater Hey von 1995 aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich wäre mir hochgradig peinlich. Dunning-Kruger lässt grüßen. Daher bin ich irgendwann in die Strategie gegangen, auf die Meta-Ebene des Marketing-Managements. Dahin, wo das einzelne Instrument erstmal nicht wichtig ist, sondern das Big Picture.
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Entwertung von Begriffen
Von da oben sieht man dann das Wimmelbild der heutigen Generation von Marketing-Experten. Bei allem Respekt, die können teils tolle Sachen, großartige Sachen! Aber die Zahl derer, die das gesamte überblicken, ist sehr beschaulich geworden. Der Begriff "Strategie" ist völlig entwertet, über "Marke" erzählt eh jeder, was er gerade braucht, um seinen Bullshit in Storytelling zu verpacken. Wenn man heute zwei Marketing-Instrumente kombiniert und ein bisschen Customer Journey drüberspritzt, dann ist man von unten betrachtet schon Teil einer weitsichtigen Elite. Von oben jedoch (ich kann das begründen!) ist das Marketing von heute ein armseliger Ort voll von Partikularklugscheißern und Leuten, die einem irgendeinen heißen Scheiß oder sich selber verticken wollen. Jeder im Wimmelbild ist Experte. Ausnahmslos. Wenn aber alle Experten sind, wer sind dann eigentlich die Experten unter denen? Wie dem auch sei, ich versuche den Begriff heute weiträumig zu umschiffen. Ich schäme mich, wenn er für mich verwendet wird und mein Zwerchfell zuckt, wenn sich mir jemand als "Experte für ..." vorstellt. In meiner kleinen und beschränkten Welt sind Experten von heute die kleinen Heye von 1995. Ich will mich damit nicht selber überhöhen. Aber ich rege an einmal darüber nachzudenken, ob die der von Dunning und Kruger beschriebene Effekt nicht irgendwann im positiven Sinne auflöst. Und dann ist es einem womöglich peinlich, dass man Leute mit viel Erfahrung als "Boomer" abqualifiziert hat. Wer sich entwickelt muss sein junges Ich irgendwann peinlich finden. Wer sich immer cool findet (ok, außer in der Vita-Prosa für den Job beim GAFA) steht mit einiger Sicherheit still.
Unabhängigkeit muss man sich leisten können
Kommen wir damit zu meinem sehr persönlichen Tipp zur Lebensgestaltung in einer medial anspruchsvollen Zeit: Unvoreingenommen beraten ist jeden Tag sehr schwierig. Man hat nun mal eine Meinung, ob man will oder nicht. Aber man kann sich dessen bewusst sein. Mehrere Seiten einer womöglich vierseitigen Medaille zu würdigen kann sehr nervenaufreibend sein, aber auch extrem erkenntnisreich. Nicht opportunistisch zu beraten (so, dass das Beratungsergebnis nicht zwangsläufig zu einer Absatzsteigerung beim Berater führt) ist stets ein schwieriger Spagat (Achtung Werbung: Wir öbuv-Sachverständige machen das jeden Tag!) zwischen Ehrlichkeit, innerer und äußerer Unabhängigkeit und der Erkenntnis, dass viele Menschen für den Versuch einer wirklich neutralen Betrachtung nicht bereit sind. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich Dogmen, die man predigte, als totaler Unsinn herausstellen (Digital First! Dies und das ist tot!). Dann braucht man einen Fahrplan aus dem bisherigen Lügengebäude heraus zu einer neuen Ehrlichkeit, ohne der Öffentlichkeit seine frühere Idiotie einzugestehen (Hallo Politiker! Time to shine!!!).
Voneinander lernen, keine nutzlosen Feindbilder aufbauen
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein ziemlich kooperativer Typ bin, der schon oft All-In gegangen ist. Aber ich habe meine Grenzen und klare Vorstellungen meiner (persönlichen) Ziele. Wer mich in eine Schublade pressen will, kann das versuchen (es muss eine große Schublade sein). Ich persönlich bevorzuge aber das ergebnisoffene, kreative Arbeiten. Und dem stehen pauschale Vorab-Verunglimpfungen (Boomer. Alter, weißer Mann.) im Weg wie ein Panzer. Ich habe nämlich keine Zeit (ehrlicher: keinen Bock!) mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die diese Art der Selbstabgrenzung brauchen oder gar eine latente Opferrolle daraus stricken. Ich erkläre gerne jedem, den das interessiert, meine Welt. Und ich lausche gespannt über seine (Achtung: Generisches Maskulin DELUXXXE!) Erfahrungen.
Kommst knutschen?
In diesem Sinne: Nenn' mich noch einmal Boomer und ich denke darüber nach, ob Du von mir "a Watsch'n, a Schell'n oder a Fotz'n kriagst" (Google: "Die Dreifaltigkeit der dörflichen Züchtigung"). Aber wir können auch klassisch ein Bier trinken oder ein purpose-washed, agency-styled Retorten-Brand-Getränk Deiner Wahl. Zusammen können wir dann darüber nachdenken, ob der wahre Boost und die bessere Wahrheit nicht dort liegt, wo sich unsere Welten zart küssen. Im Endeffekt müssen wir uns nämlich eine der wenigen universellen Wahrheiten eingestehen: Wir sind zu jeder Zeit im Leben immer in irgendwas Anfänger. Um die Methoden der "Alten" wertschätzen zu können, muss man sie erstmal kennenlernen. Von da ausgehend kann man dann die gemeinschaftliche Verbesserung planen. Also: Packen wir's an.
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8 MonateNils-Peter, sehr spannender Beitrag!
Sales Director || Sales + Leadership Pro || An Owl 🦉 with Millennial Energy || Editor + Author || Lifelong Learner || Proud Dad of 2 || 🇩🇪 gerne "per Du" 🇩🇪 ||
3 JahreSehr schön geschrieben, lieber Niels - diese Art von Rebellion gab es schon früher, die jungen haben es erst besser gewusst als die älteren. Und ab 35 haben sie dann auch CDU gewählt....
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3 Jahre"Kommst knutschen?" Nils-Peter, ja! Safe! Starker Artikel, danke dafür :D
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3 JahreHaha, danke für diese Zeilen😂 Größter Kracher bisher: ich habe vor 21 Jahren mein erstes online Business (Monsters-paradise.de) inkl 2 offline Ladengeschäfte und einem europaweiten Forum verkauft. Schreibt mich ein Jungcoach an und teilt mir mit, er würde mir dann schon helfen und mir zeigen was man im Internet so machen könnte. Wär ja nicht meine Schuld das ich ‚so alt‘ wäre das ich keine Chance hatte das Netz als Infoquelle zu nutzen… Wait… What? Who the fuck do you think Made the Web to what it is? Ist was devinatly NOT your Generation… Daher, ich unterschreibe blind was du hier schreibst. …muss auch eine Lanze brechen! Ich habe das unglaubliche Glück mit U30 jährigen zu arbeiten, und wir (wir boomer) sehen eben auch oft nicht die gesamte Situation… Am Ende kann ich sagen, die Mischung macht’s, das gegenseitige verstehen macht’s, die Kommunikation ist anders, aber eben nicht wirklich. Und ja, ‚arbeiten lernen‘, mussten wir das nicht alle mal…. Ist nur bei uns ‚Boomern‘ etwas länger her… UND wir hatten das Glück und konzentrieren zu können/dürfen/müssen da die Informationsflut nicht annähernd der heutigen entspricht. Ein Danke an dieser Stelle an Dina Brandt die Kommunikation zwischen den Generationen begleitet
Co-Founder & Partner INVERVE VALUES® Institute for Corporate Learning. Wertearbeit zum Anfassen für Coachings, Trainings, Therapie, Onboardings, Marketing und viele weitere Anwendungen.
3 JahreVermutlich kommentieren jetzt nur Boomer Deinen hervorragenden Artikel. Außer vielleicht Pascal Lauscher, der den Altersdurchschitt der Kommentatoren verjüngt. Du hast mir einiges aus der Seele geschrieben und ich bin auch immer wieder völlig fassungslos, entsetzt und ein wenig neidisch auf die super selbstbewussten Oberchecker, die halb so alt sind wie ich und bestenfalls ein Bruchteil der Erfahrung besitzen. Trotzdem bekomme ich gefühlt täglich Angebote von überwiegend sehr jungen, vollbärtigen, durchgestylten und "mega erfolgreichen" jungen Männern, die mir meinen Job erklären wollen. Dabei können sie nicht mal lesen, zumindest nicht mein Profil. Denn sonst würden sie mich um eine Beratung bitten anstelle mir ungewollt eine anzubieten. Der Unterschied zu meiner Sturm und Drangzeit ist definitiv der Respekt, den zumindest ich Älteren gegenüber auch heute noch entgegen bringe und deren Leistungen würdige. Auch wenn ich sie vielleicht nicht wirklich nachvollziehen kann, weil ich in einer privilegierten und modernen Zeit lebe. Deshalb freut es mich, wenn mich junge Leute vom Gegenteil überzeugen, wirklich Experten ihres Faches sind und aufgeschlossen mir als ergrauten "Experten" entgegen treten. Die gibt es zum Glück auch.