Weshalb ein deutsches Unternehmensstrafrecht längst überfällig und die Kritik daran verfehlt ist.
Der von der deutschen Bundesregierung im Juni 2020 beschlossene Entwurf zum "Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft" sorgt für Aufruhr. Vertreter von Wirtschaft und Industrie und zahlreiche Lobbyisten mobilisieren gegen die Einführung strafrechtlicher Unternehmenssanktionen.
Die Argumente reichen von dogmatischen und verfassungsrechtlichen Einwänden bis hin zu befürchteten Schäden für den Wirtschaftsstandort mit ungebührlichen Belastungen für Unternehmen, gerade jetzt in der Corona-Krise. Die Kritik ist zahlreich. Doch ist sie auch überzeugend?
Zunächst ist festzustellen: Deutschland zählt heute mit seiner ausschließlich verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen zu den letzten großen Ausnahmen.
Die überwältigende Mehrheit der EU-Mitgliedsländer wie auch anderer westlich geprägter Rechtsstaaten haben in den letzten Jahrzehnten eine Verantwortlichkeit von Unternehmen im Strafrecht verankert.
Allein mit Blick auf diesen überwältigenden internationalen Trend relativiert sich vieles an der grundsätzlichen Kritik gegen strafrechtliche Unternehmenssanktionen.
Die Kritik gleicht dabei im Wesentlichen jener in Österreich im Vorfeld der Einführung des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes im Jahr 2006.
Dogmatisch wird vor allem mit der vermeintlichen Unvereinbarkeit mit dem strafrechtlichen Schuldgrundsatz sowie der fehlenden Handlungsfähigkeit von Unternehmen argumentiert.
Zum Schuldgrundsatz wurde bereits einst beim österreichischen Gesetzesentwurf klargestellt, dass der Vorwurf gegenüber dem Verband vom Schuldvorwurf gegenüber natürlichen Personen verschieden ist. Der Kern des den Verband treffenden Vorwurfs besteht darin, die gebotene und zumutbare Sorgfalt zur Verhinderung von Straftaten außer Acht gelassen zu haben.
Zur Handlungsfähigkeit ist anzumerken, dass es geradezu in der Natur juristischer Personen liegt, ihnen das Handeln ihrer Organe zuzurechnen. Dies ist auch in anderen Rechtsbereichen – vom Zivilrecht bis zum Kartellrecht – selbstverständlich.
Und generell gilt: Rechtliche Dogmen sind selten absolute Wahrheiten. Vor allem dann nicht, wenn sie in zahlreichen anderen westlichen Rechtsstaaten, mit ganz ähnlichen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen wie Deutschland, keine Hürde für die Einführung strafrechtlicher Unternehmenssanktionen gewesen sind.
Sie sollten vor allem nicht dringenden kriminalpolitischen Erfordernissen im Weg stehen:
Unternehmensstrafrecht ist ein notwendiges Instrument gegen Unternehmenskriminalität, auf die das Individualstrafrecht nur eine deutlich unzureichende Antwort gibt. Komplexe Strukturen in großen Unternehmen, häufig in Verbindung mit Abschottungs- und Verschleierungsmechanismen und einem Auseinanderfallen von Entscheidungsmacht, Informationsbesitz und Ausführungshandlung, stellen die Justiz bei Unternehmenskriminalität vor besondere Herausforderungen.
Unternehmen verfügen zudem in der Regel aüber eine weitaus größere Machtfülle als Einzelpersonen mit einem deutlich erweiterten Aktions- und Schädigungsradius.
Und Unternehmenskriminalität zeichnet sich durch psychologische Eigenheiten aus. Die Straftäter sind eingebunden in eine Gruppe, in eine Unternehmenskultur, verbunden mit finanzieller und sozialer Abhängigkeit. Der Unternehmenskultur kommt sowohl bei der Förderung als auch bei der Verhinderung von Unternehmenskriminalität regemäßig eine entscheidende Rolle zu.
Präventive Maßnahmen im Kampf gegen Unternehmenskriminalität und Anreize für wirksame Compliance-Maßnahmen sind daher dringend geboten.
Deshalb fordern auch Rechtsakte der EU wie auch zahlreiche internationale Übereinkommen und Konventionen der UN, der OECD und des Europarates bei Straftaten "wirksame, angemessene und abschreckende" Sanktionen gegen juristische Personen.
Auch wenn diese Übereinkommen nicht ausdrücklich Sanktionen im Strafrecht vorschreiben, fest steht: Deutschland ist derzeit in Bezug auf große, finanzstarke Konzerne weit von "wirksamen, angemessenen und abschreckenden" Sanktionen entfernt.
Während etwa das europäische Kartellrecht Geldbußen bis zu 10% des Jahresumsatzes vorsieht, erreicht die maximale Geldbuße im Ordnungswidrigkeitengesetz bei großen Konzernen mitunter nicht einmal ein Promille des Jahresumsatzes.
Nennenswerte Geldbeträge können bei Unternehmenskriminalität derzeit allenfalls im Wege des Verfalls abgeschöpft werden. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Buße im eigentlichen Sinn, sondern lediglich um die Abschöpfung der durch die Straftat erzielten wirtschaftlichen Vorteile.
So machte bei der medial kolportierten „Milliardenstrafe“ im Fall der Abgasaffäre von VW diese Abschöpfung 995 Millionen Euro aus. Die eigentliche Geldbuße, mit der das Unrecht der Tat sanktioniert wurde, betrug hingegen lediglich 5 Millionen Euro. Das waren gerade einmal rund Zweihunderttausendstel (!) des Konzernumsatzes im Jahr 2019 von über 252 Milliarden Euro.
Letztlich benachteiligt die derzeitige Geldbuße im Ordnungswidrigkeitengesetz klein- und mittelständige Unternehmen und privilegiert Großkonzerne.
Womit nun auch noch auf die lauteste und politisch wohl gewichtigste Kritik einzugehen wäre, wonach strafrechtliche Unternehmenssanktionen – laut Gesetzesentwurf bis zu 10 % des Jahresumsatzes – negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort hätten:
Vorneweg: Wissenschaftliche Belege dafür, dass ein entschlossener Kampf gegen Unternehmenskriminalität den Wirtschaftsstandort gefährdet, gibt es nicht. Das weltweit mit Abstand schärfste Unternehmensstrafrecht gilt in den USA und dort auf Ebene der Bundesstaaten insbesondere auch in Kalifornien – jenem Bundesstaat, der in den letzten Jahrzehnten einige der innovativsten und wertvollsten Unternehmen der Welt hervorgebracht hat.
Vieles weist darauf hin, dass ein wirksames Unternehmensstrafrecht, das rechtstreuen Unternehmen Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen durch Unternehmenskriminalität bietet, langfristig den Wirtschaftsstandort sogar stärkt.
Daher ist auch das Argument, die Einführung der strafrechtlichen Unternehmensverantwortlichkeit würde in der Corona-Krise zur Unzeit kommen, wenig überzeugend. Angesichts vieler Milliarden Euro Steuergelder, mit denen die Wirtschaft gestützt und Unternehmen gerettet werden sollen, besteht mehr denn je ein öffentliches Interesse, Unternehmenskriminalität nicht zu tolerieren.
Zumal die Bestimmungen nicht nur deutsche Unternehmen betreffen würden, sondern auch ausländische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind – etwa aus China und anderen Ländern, die von rechtsstaatlichen Prinzipien mitunter noch weit entfernt sind.
Die eingangs gestellte Frage, ob die grundsätzliche Kritik an strafrechtlichen Unternehmenssanktionen berechtigt ist, ist daher klar zu verneinen. Und ohne an dieser Stelle im Detail auf den Gesetzesentwurf einzugehen, ist festzustellen, dass er jedenfalls ein großer Schritt in die richtige Richtung ist – von der angemessenen Sanktionshöhe bis hin zu den Vorgaben zu internen Untersuchungen, die sich international bewährt haben.
Deutschland ist Europas führende Wirtschaftsnation, dank vieler Unternehmen, die hervorragende Arbeit leisten. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Unternehmen muss sich vor strafrechtlichen Unternehmenssanktionen nicht fürchten.
Doch immer wieder verdeutlichen Unternehmensskandale – von der VW-Abgasaffäre bis hin aktuell zu Wirecom – den enormen Schaden, den selbst einzelne Fälle der Allgemeinheit zufügen.
In Zeiten, in denen sich auch Wirtschaftsvertreter einhellig zu gesellschaftlicher Verantwortung und zu Nachhaltigkeit bekennen, scheint der Lobbyismus gegen einen wirksamen Kampf gegen Unternehmenskriminalität daher allzu kurzsichtig.
Es ist zu hoffen, dass sich die Politik davon diesmal nicht beeindrucken lässt und mit dem Gesetzesbeschluss nun endlich auch von Deutschland ein wichtiges Signal zur Stärkung der Unternehmensverantwortung ausgeht.