Wie kanzlerfähig sind die drei Kandidaten?
Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag ist eine wie noch keine in der 72-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Erstmals tritt kein amtierender Bundeskanzler zur Wiederwahl an (außer bei der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag 1949 natürlich) und erstmals haben mehr als zwei Personen eine Chance, das höchste Regierungsamt zu erlangen. Grund genug, besonders in der Kandidatenfrage mal genauer hinzuschauen.
Oder: Ist die Wahl schon gelaufen, segelt Armin Laschet (CDU) mit einer leichten Brise im Rücken ins Kanzleramt?
Ist richtig, was Christian Lindner im ARD-Sommerinterview am 25. Juli 2021 sagte: „In meinen Augen hat sich geklärt, wer ins Kanzleramt einzieht“? Dabei hat er in einem Nebensatz einer Ampel-Koalition fast schon eine Absage erteilt und für sich das Finanzministerium beansprucht.
80 Prozent der 1.271 Befragten beantworteten im ZDF-Politbarometer einen Monat zuvor die Frage mit „Nein“! Der Wahlausgang wird damit als offener angesehen als vor vier Jahren zum gleichen Zeitpunkt. Es wird also spannend und die See wird rauer werden.
Anders sind in diesem Wahlkampf auch die als wichtig empfundenen Themen. Standen bei vielen Wahlen zuvor wirtschaftliche Fragen oder Arbeitsplatzsicherheit an erster Stelle, findet sich dort heute das Thema Umwelt und Klima.
Krisen und Schocks sind meist unvorhersehbar und bergen deshalb ein Risiko für robuste Prognosen. Als kompetent oder inkompetent empfundenes Regierungshandeln in Krisen hat in jedem Fall einen erheblichen Einfluss auf das Wahlverhalten. Donald Trump ist vor allem wegen seines Versagens in der Corona-Krise bei den US-Präsidentschaftswahl abgewählt worden. Daher bleibt die Corona-Krise bis zum Wahltag ein Risiko für die Regierungsparteien, die Flutkatastrophe in mehreren Bundesländern trat in den vergangenen Tagen als erhebliches Risiko hinzu. Sie rückt das Thema Umwelt/Klima noch stärker in den Mittelpunkt. Für die Oppositionsparteien ist die Gefahr aber ungleich größer, vor allem wenn die Regierung erprobt in Krisenmanagement ist. Kleine Fehler bei der Krisenbewältigung wiegen ungleich weniger, als auf der Bühne des Handelns nicht wahrgenommen zu werden.
Die Frage der Kanzlertauglichkeit in der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Experten
Wir haben die Berichterstattung über die Kanzlerkandidaten von Union, SPD und Grünen genauer untersucht. Unsere Frage lautete: Werden die Kanzlerkandidatin und die Kandidaten in der Medienberichterstattung für geeignet gehalten und hat sich diese Haltung in der Medienberichterstattung im Verlauf des (Vor-)Wahlkampfes verändert? Über einen Zeitraum von knapp sieben Monaten haben wir deutsche Onlinemedien sowie Online-Ausgaben deutscher Print-Magazine und -Zeitungen gescreent. Dabei hat in der Gesamtheit Armin Laschet die Nase vorn mit 1.339 Nennungen vor Annalena Baerbock (662) und Olaf Scholz (542). Nun muss man aber berücksichtigen, dass Olaf Scholz bereits im vergangenen August zum Kandidaten der SPD gemacht wurde, weshalb wir ihn zusätzlich vom 29. Juni 2020 an beobachtet haben. Bis zum Beginn unseres Vergleichs war er – natürlich ohne Konkurrenz in unserem Sinne – immerhin in 710 Artikeln im Zusammenhang mit einer Kanzlertauglichkeit zu finden.
Über die Kanzlerfähigkeit von Armin Laschet wurde folglich anteilig am meisten berichtet. Das deckt sich mit den Artikeln zu diesem Thema, in denen die Kandidaten zusätzlich im Titel genannt wurden: 542 Artikel waren es bei Laschet, Annalena Baerbock kommt auf immerhin 276 und Olaf Scholz auf gerade einmal einen Artikel.
Die Nennung der drei Kandidaten im Zusammenhang mit dem Begriff „kanzlertauglich/geeignet“ ist bis hierhin eine rein quantitative Aussage. Nichtsdestotrotz bleibt aber festzuhalten, dass es um Olaf Scholz in der Frage sehr ruhig geworden ist. Über ihn wird in Bezug auf eine Kanzlertauglichkeit in den Medien kaum mehr gesprochen. Gleichzeitig liegt Armin Laschet sowohl, was die Gesamtberichterstattung als auch die Nennungen in Titeln angeht, deutlich vorn.
Umfragen:
Um sich der Frage der Kanzlertauglichkeit anders zu nähern, lohnt sich ein Blick auf die regelmäßig durchgeführte „Kanzlerfrage“ deutscher Umfrageinstitute. Aufgrund verschiedener Befragungsmethoden und variierender Teilnehmerzahl, schwanken die Ergebnisse nachvollziehbarerweise. Ein Trend ist seit der Nominierung von Laschet und Baerbock im April 2021 aber dennoch klar zu erkennen: Die Frage „Wenn man den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin direkt wählen könnte, für wen würden Sie sich entscheiden“ wurde vom 19. April bis zum 9. Juni institutübergreifend zu Gunsten von Annalena Baerbock beantwortet. Seitdem führt Armin Laschet:
Sieht man sich die ebenfalls in regelmäßigen Abständen durchgeführte Sonntagsfrage an, in der gefragt wird, welche Partei man bei der Bundestagswahl „am nächsten Sonntag“ wählen würde, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Nach einem zwischenzeitlichen Hoch der Grünen im Anschluss an die Nominierung Annalena Baerbocks liegt seit Mitte Juni institutsübergreifend wieder die Union.
Fraglos ist, dass die fortdauernd negative Berichterstattung über die Spitzenkandidatin, einer der wesentlichen Gründe für den Rückgang bei der Zustimmung ist. Unklarheiten in ihrem Lebenslauf, der irreguläre Zugriff auf geistiges Eigentum beim Verfassen ihres anlässlich der Wahl veröffentlichten Buches und Ungereimtheiten in Zusammenhang mit ihrem Doktorandenstipendium; jedes Mal, wenn es um eine Verfehlung leiser wurde, poppte die nächste auf. Seit wenigen Tagen zeigt Annalena Baerbocks neuerliche Entschuldigung über eine in einem Kontext erfolgte Nutzung des N-Wortes, wie man sich sogar selbst ein Stöckchen hinhalten kann, über das man dann springt. So schafften es die Grünen mit einer haarsträubenden politischen Krisenkommunikation, jede einzelne Krise maximal zu verlängern.
Da sticht beispielsweise der Auftritt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen Oliver Krischer bei Markus Lanz ins Auge, der Baerbocks Buch verteidigen wollte. Nun haben derlei Kandidatenbücher meistens keinen hohen akademischen Wert, doch anstatt sich für die Nicht-Kenntlichmachung der wörtlich übernommenen Stellen zu entschuldigen, setzte er sogar noch einen drauf und ging zum Gegenangriff über. Der Journalist Ulrich Schulte, ebenfalls Teil der Runde, fasste treffend zusammen: „Die Grünen tun gerade so, als ob der blaue Himmel rosa sei.“
Ins selbe Horn stieß Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer der Grünen, der sofort von Rufmord sprach, als die Anschuldigungen gegen Baerbock öffentlich wurden, und später die Plagiate als „Kleinigkeiten“ bezeichnete. Geschickte Kommunikation sieht anders aus.
Meilensteine:
Bisher sind die drei Kandidaten dreimal in Diskussionsrunden aufeinandergetroffen:
Aber wer sich auf intensivere Auseinandersetzungen in der Sache gefreut hatte, wurde bisher enttäuscht: Obwohl die Runden thematisch durchaus verschieden waren und Anlass zur Profilierung boten, so hatten sie doch eines gemeinsam: Kein Kandidat ging inhaltlich in die Offensive oder versuchte, sich wirksam zu positionieren. Darauf dürfen wir uns wohl erst in der heißen Wahlkampfphase freuen.
Für Aufregung sorgte eine Diskussion, die gar nicht stattfand: YouTuber Rezo hatte gemeinsam mit Tilo Jung („Jung & Naiv“) alle drei Kanzlerkandidaten zu einer Online-Diskussion eingeladen. Geplant war, das 90-minütige Format sowohl auf der Startseite von YouTube, als auch auf der Plattform Twitch live zu zeigen. Baerbock und Scholz hatten zugesagt, Armin Laschet lehnte jedoch ab, mit dem Verweis darauf, dass er sehr viele Anfragen erhalte und aus Zeitmangel nicht teilnehmen könne. Zweifelsohne wäre für Laschet ein Stahlbad zu erwarten gewesen, erinnert man sich an „Die Zerstörung der CDU“ - das Video, das Rezo auf der politischen Bühne berühmt gemacht hat. Trotzdem ist die Absage ein Armutszeugnis für einen Kandidaten, der mit seinem Wahlkampfmotto „Deutschland gemeinsam machen!“ suggeriert, alle Menschen mitnehmen zu wollen. YouTube und Twitch sind die weltweit größten Livestreaming-Plattformen und auch in Deutschland längst nicht mehr nur unter Teenagern etabliert. Wer alle mitnehmen will, der muss alle erreichen. Eine vertane Chance. Mitte Juli hat OSK ein Whitepaper veröffentlicht, in dem verschiedene Gruppen von Influencern identifiziert und Ratschläge gegeben werden, wie man auf diese richtig zugeht. Das Dokument kann hier heruntergeladen werden; ein Blick darauf lohnt sich.
Das Kontrastprogramm war dann am 25. Juni bei Facebook Live zu sehen: Bei „Laschet trifft…“ plauderte er gemeinsam mit dem CDU-Mitglied Sophia Thomalla in angenehmer Atmosphäre. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes hatte das Video allerdings auch nur 12.700 Aufrufe. Angesprochen von Frau Thomalla, warum er das Kandidaten-Duell von Rezo und Jung abgesagt habe, antwortete Armin Laschet, dass solche Formate Journalisten vorbehalten bleiben sollten.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags ist noch nicht klar, ob Laschets deplatzierter Lacher bei seinem Besuch mit Bundespräsident Steinmeier im von der Flut zerstörten Erftstadt ihm längerfristig schadet. Die Empörung war groß, alle Medien berichteten, Armin Laschets Entschuldigung erfolgte allerdings prompt und persönlich. Der Vorgang bietet insgesamt nicht viel Nahrung, so dass zu erwarten ist, dass die Sache austrocknet, auch wenn Lars Klingbeil und Kevin Kühnert aus dem fernen Berlin versucht haben, sie richtig hochzuziehen.
Die Kandidaten in der Einzelbetrachtung:
Olaf Scholz:
Olaf Scholz stand bereits vergangenen Sommer als Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fest.
Warum so früh? Sowohl Partei als auch Öffentlichkeit hatten noch das quälend lange Duell zwischen dem damaligen Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel und Martin Schulz im Herbst 2016 in Erinnerung, das mit der Nominierung von Schulz erst nach dem Jahreswechsel und dem Rückzug von Sigmar Gabriel vom Parteivorsitz endete.
Warum er? Dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nun ausgerechnet Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten vorschlugen, kann nur auf den ersten Blick verwundern, stand man sich beim Wettbewerb um den Parteivorsitz noch gegenüber. Immerhin hatte man durch die frühe Nominierung die Gelegenheit, einen weiteren Fehler der vergangenen Jahre zu vermeiden: nämlich einen Kandidaten zu nominieren, der keinerlei Einfluss auf das Wahlprogramm nehmen konnte – man erinnere sich an Peer Steinbrück im Jahr 2013. Die beiden Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig und Malu Dreyer hatten mit Verweis auf gesundheitliche Belange auf den Vorsitz verzichtet; Andrea Nahles hatte man zuvor als Vorsitzende „vom Hof gejagt“. Und da niemand ernsthaft eine Person aus dem amtierenden Vorsitzenden-Duo für die Aufgabe in Erwägung zog, blieb letztendlich nur Olaf Scholz übrig. Seine hanseatisch ruhige Art zu moderieren, ließ ihn zudem als idealen Gegenspieler zu einem möglichen Unionskandidaten Friedrich Merz erscheinen, der zum Polarisieren neigt. Aber es kam bekanntlich anders.
Image und Situation:
Olaf Scholz hat sich als Krisenmanager profiliert, hat Regierungserfahrung, ist bekannt, strahlt aber Langeweile bzw. hanseatische Zurückhaltung aus. Seiner großen politischen Erfahrung ist es zudem zu verdanken, dass ihm weder der Cum-Ex-Skandal noch der Wirecard-Skandal nachhaltig geschadet haben. Er hat beide geradezu neutralisiert.
Prognose:
Die frühe Nominierung von Olaf Scholz mag in die Partei hinein als richtiges Signal gewirkt haben, die Chance, sich als Kanzlerkandidat im Gespräch zu halten, hat er aber nicht nutzen können. Rot-Rot-Grün scheitert mal wieder an der Linken und bei der SPD herrscht im Verlauf der Umfragen des letzten Jahres zu wenig Auftrieb. Olaf Scholz hat alle Chancen, Kanzlerkandidat zu bleiben, auch über den Wahltag hinaus.
Empfohlen von LinkedIn
Armin Laschet:
Laschets Kommunikations- und Politikstil lässt sich – schaut man auf seine innerparteilichen Konkurrenten der letzten Monate Merz, Röttgen und Söder – noch am ehesten mit dem der Kanzlerin vergleichen. Laschet gilt als Integrator, scheint an Fahrt zu gewinnen. Entscheidende Frage: Liegt es am Kandidaten oder an der Partei? Merkel und Laschet wurden beide unterschätzt, setzten sich aber am Ende durch. In den vergangenen Wahlkämpfen galt Angela Merkel stets als das Zugpferd der Union, da spielte es auch keine Rolle, dass sie sich mit unpolitischen Slogans wie „Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben“ oder „Sie kennen mich“ für das höchste politische Amt im Land beworben hat. Laschet wird mangels Amtsbonus nicht auf diese Kommunikationsstrategie setzen können.
Dennoch setzt er auf die Kontinuität der Union als Regierungspartei, gepaart mit seinem Ruf als Versöhner: „Deutschland gemeinsam machen“. Das ist nur insoweit riskant, als das Image von CDU und CSU als Parteien des unfallfreien Regierens in der Corona-Krise Schrammen bekommen hat.
Am Wahltag wird sich herausstellen, ob es den Merkel-Bonus tatsächlich gegeben hat und ob Armin Laschet ebenfalls imstande ist, Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern aufzubauen.
Image und Situation:
Hat Regierungserfahrung und hält mit seinem integrativen Stil den „Laden“ zusammen. Er wird ständig unterschätzt und geschmäht, hat dafür aber Nehmerqualitäten und setzt sich durch.
Prognose:
In der Union herrscht ein fragiler Burgfrieden. Markus Söder und Friedrich Merz werden bis zur Wahl nicht mehr grundsätzlich dazwischenfunken, was Markus Söder aber nicht daran hindern wird, zumindest gelegentliche Störsignale aus Bayern zu senden, wie bereits im Zusammenhang mit der Flut geschehen. Armin Laschet gewinnt entweder die Wahl, oder er geht unter und spielt keine Rolle mehr in der ersten Reihe der Bundespolitik. Wer sich gegen eine Mehrheit der Landesverbände in der Partei über die Vorstandsgremien als Kanzlerkandidat durchsetzt, der hat keinen zweiten Schuss. Im Fall einer Niederlage gibt es weder in Düsseldorf noch in Berlin für ihn eine Spitzenposition. Zum Siegen verdammt.
Annalena Baerbock:
Traditionell stellten die Grünen (wie FDP und Linke) lediglich ein Duo, bestehend aus einer Spitzenkandidatin und einem Spitzenkandidaten, auf. Für die Bundestagswahl 2021 stellen sie erstmalig eine Kanzlerkandidatin, was den Anspruch unterstreicht, nicht nur Teil einer Regierungskoalition zu sein, sondern diese auch anzuführen. Es ist für Außenstehende lange unklar gewesen, ob sich Robert Habeck oder Annalena Baerbock in der Kandidatenfrage durchsetzen werde. Der lautstarke Abnutzungskampf zwischen Markus Söder und Armin Laschet hat zumindest überdeckt, ob bei den Grünen hinter den Kulissen engagiert verhandelt wurde oder ob die Siegerin im parteiinternen Wettbewerb einfach auf dem Frauenstatut beharrt hat.
Die Grünen sind aber eine Partei, die sich historisch unter anderem aus der 68er-Bewegung und dem Feminismus gegründet hat. Es wäre ein seltsames Signal in die Partei hinein gewesen, wenn man bei der ersten Aufstellung eines Kanzlerkandidaten einen Mann ausgewählt hätte. Annalena Baerbock ist jung, gut vernetzt in der Partei, hat aber – anders als Robert Habeck – noch kein Regierungs- oder Ministeramt innegehabt.
Negative Presse wegen der unsauberen Arbeit an ihrem Buch, nachgemeldeten Nebeneinkünften und Falschangaben in ihrer Biografie. Diese Schlagzeilen sind in doppelter Hinsicht brandgefährlich für die Grünen: Alle drei Themen kratzen an der Integrität der Kandidatin, zugleich, und das ist viel schlimmer, sind die diskutierten Themen so nichtswürdig für eine Person, die Regierungschefin werden möchte, dass hier die eigentliche Gefahr liegt. Man möchte sich bei einer Kandidatin, die sich darum bewirbt, demnächst mit den Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping für Deutschland am Verhandlungstisch zu sitzen, nicht darüber unterhalten, ob sie ihr Doktorandenstipendium zu Recht bekommen oder ihren Lebenslauf „gepimpt“ hat. Auch blockieren diese Minithemen sie für die großen Diskussionen. So fanden sie und die Grünen insgesamt während der Flutkatastrophe in Deutschland schlicht nicht statt und das, obwohl sie im betroffenen Bundesland Rheinland-Pfalz die Vize-Ministerpräsidentin und Umweltministerin stellen.
Zusätzlich brisant ist, dass sich Olaf Scholz und Annalena Baerbock beide im Wahlkreis Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II zur Wahl stellen – für den Sozialdemokraten ist es dieses Jahr das erste Mal. 2017 konnte die SPD den Wahlkreis noch direkt gewinnen, Annalena Baerbock tritt dort bereits seit 2013 an. Politischer Druck könnte dann entstehen, wenn Olaf Scholz den Wahlkreis gewinnen würde, wenn gleichzeitig die Grünen bei den Zweitstimmen vor der SPD landeten. Das könnte als Plebiszit gegen die Kandidatin gewertet werden.
Image und Situation:
Jung, unverbraucht und mit frischen Ideen, dazu durchsetzungsstark und mit großem Arbeitspensum. Die fehlende Regierungserfahrung wiegt schwer.
Prognose:
Die Chancen von Annalena Baerbock, das Kanzleramt zu erobern, stehen seit ihrer Nominierung nicht sehr gut. Die Grünen haben es versäumt, peinliche Petitessen wie die Unklarheiten im Lebenslauf im Vorfeld ihrer Kandidatur abzuräumen. Entweder gelingt es Annalena Baerbock, bis Mitte August in der Diskussion um die großen Themen auf gleicher Augenhöhe wie die beiden anderen Kanzlerkandidaten wahrgenommen zu werden, oder die Grünen landen bei weniger als 15 Prozent und hinter der SPD.
Die Flutkatastrophe und weiterhin die Corona-Krise sind geeignet, größere Wählerbewegungen vor der Bundestagswahl auszulösen. Das kann das mögliche Koalitionsgefüge noch durcheinanderwirbeln. Für die Wahrnehmung des Bundestages in den nächsten vier Jahren wird auch interessant, wer die parlamentarische Opposition anführt.
Weitere Spitzenkandidaten:
Christian Lindner: Bei den Liberalen herrscht bei den Wahlen der Jahre 2017 und 2021 eine bemerkenswerte Kontinuität. Fragt man einen durchschnittlich politisch-interessierten Menschen, wen er oder sie in der FDP kennt, dann heißt die Antwort: Christian Lindner und Wolfgang Kubicki. Der Bundestagsvizepräsident aus Schleswig-Holstein scheint der einzige zu sein, der es fertigbringt, sich neben Christian Lindner Gehör zu verschaffen. Und dies, obwohl die FDP an drei Landesregierungen beteiligt ist, darunter im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Es ist schon erstaunlich, dass eine liberale Partei mit vielen Freidenkern diese One-Man-Show seit Jahren duldet, vor allem, weil diese unter Guido Westerwelle schon einmal grandios schiefgegangen ist.
Sicherlich wird die FDP davon profitieren, im Rahmen der Corona-Krise die Grundrechte zumindest verbal mit am stärksten verteidigt zu haben (auch wenn ihre Minister in den Landesregierungen vieles mitbeschlossen haben). Für die Gegner einer von den Grünen dominierten Klimapolitik werden sie als Alternative angesehen, so dass die derzeitigen Umfrageergebnisse mit einem zu erwartenden Wahlergebnis im unteren zweistelligen Bereich als durchaus realistisch angesehen werden können.
Prognose:
Die Benchmark der Liberalen für ihre Führungsfigur ist, dass er sie nicht nur mit einem guten Ergebnis erneut in den Bundestag, sondern auch zurück in die Regierung bringt. Beides muss gelingen, sonst wird es eng für ihn.
Alice Weidel & Tino Chrupalla: Alice Weidel ist wegen der Parteispendenaffäre und der Verurteilung der AfD zu einer hohen Geldstrafe mehr als nur angeschlagen. Prompte Rücktrittsforderungen aus der eigenen Partei nach dem Urteil und mitten im Wahlkampf zeigen, wie zerstritten die Partei ist. Es gibt kaum eine Führungsfigur, die nicht angefeindet wird. Hinzu kommt die miserable Performance der AfD-Fraktion im Bundestag in der zu Ende gehenden Legislaturperiode, die vor allem aus Provokationen und Tabubrüchen bestand.
Prognose:
„Wahltag ist Zahltag“ – das gilt auch für die AfD. Außer den radikalen Unterstützern der Partei wird kaum jemand zufrieden sein. Als Folge wird die Partei, mit der keine andere Partei koalieren will, deutlich an Stimmen gegenüber der Bundestagswahl 2017 verlieren. Alice Weidel wird als Schuldige ausgemacht werden. Mit einer Wiederwahl in Führungsämter wird es dann für sie eng.
Janine Wissler & Dietmar Bartsch: Die Linken bleiben sich auch 2021 treu und setzen auf ein Duo bestehend aus Mann und Frau, Ost- und Westdeutschland. Zwar gehen Janine Wissler und Dietmar Bartsch als durchaus charismatisch durch, ihre Chancen auf ein am Ende nach ihren Maßstäben gutes Ergebnis sind aber eher gering. Zu problematisch bleiben die Positionen zu NATO, EU und Russland, mit denen sie sich für eine Regierungsbeteiligung selbst einen Stuhl vor die Tür setzen. Auch bieten die letzten Umfragen aus den ostdeutschen Bundesländern und vor allem das Wahlergebnis aus Sachsen-Anhalt im Juni wenig Grund zu Optimismus. Der ruinöse Dauerstreit mit ihren ehemaligen Frontleuten Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht treibt den Spalt tief in die Partei.
Prognose:
Die Linke spielen einzig in der Konstruktion Rot-Rot-Grün/Grün-Rot-Rot eine Rolle. Dort haben sie sich aber durch ihre Positionierung unmöglich gemacht und spielen nun doch keine Rolle mehr. Historisch war das zuletzt nach der Bundestagswahl 2013 rechnerisch möglich, politisch allerdings nicht. Heute ist man von Beidem weiter entfernt denn je. Die Zeiten, in denen die Linke als reine Protestpartei Politik gemacht hat, sind vorbei, man tut sich schwer, sich nun für Regierungskoalitionen ins Gespräch zu bringen. Und wer nicht gebraucht wird, der wird auch nicht gewählt. So werden sie unterhalb von 10 Prozent landen.
Quellen: