Wie robust ist unser Stromnetz? - Heute handeln für die Systemstabilität von Morgen
Mirjam König leitete 2022 die Winteranalysen der vier ÜNB — besser bekannt als „Stresstest“. Jetzt analysiert sie mit ihrem Team das Gesamtsystemverhalten im Höchstspannungsnetz.
2022 hast du als Leiterin eines Projekts mit vier ÜNB viel Arbeit in den sogenannten Stresstest gesteckt. Was war der Fokus bei diesen Analysen?
Der Stresstest war eine Sonderanalyse vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.
Bei dieser Analyse haben wir untersucht, wie wir die Stromversorgung im Winter 2022/2023 sowie einen sicheren Systembetrieb gewährleisten können. Wir haben geprüft, ob die Netzreservekraftwerke für einen sicheren Strombetrieb ausreichen würden.
Wie habt ihr euch ad hoc organisiert, um diese Sonderaufgaben auszuführen?
Der Auftrag seitens des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) war dringend. Dafür haben wir auf der Ebene der vier ÜNB ein agiles Team zusammengestellt. Die Kolleginnen und Kollegen, die sich normalerweise mit der Bedarfsanalyse beschäftigen, wurden dafür hinzugezogen, andere Themen mussten hintenanstehen.
Es war eine sehr spannende Zusammenarbeit, aber auch ein intensiver Arbeitsmodus, der an die Substanz ging.
Letztes Jahr beauftragte das BMWK die ÜNB mit der Ausarbeitung der so genannten Langfristanalyse 2030. Wo lag hier der Fokus?
Mit der Transition des Energiesystems hin zu den erneuerbaren Energien haben wir den Auftrag bekommen, das System mit Blick auf 2030 zu überprüfen. Insbesondere weil zu diesem Zeitpunkt die Kohlekraftwerke nicht mehr am Netz sein werden. Daraus ist die Langfristanalyse 2030 entstanden und das Thema Systemstabilität wurde erstmals in dieser Tiefe untersucht.
Im Kreis der vier ÜNB beschäftigt uns das Thema schon lange, aber bisher erfuhr es in der Politik wenig Resonanz, weil es ein sehr komplexes Thema ist.
Gab es etwas, was dich überrascht hat?
Es wurden Zustände gefunden, in denen bereits ein n-1-Fehler für eine Systemunterbrechung ausreichen würde. Das heißt, wenn zum Beispiel ein Blitz einschlagen würde, dass so eine Leitung ausfällt, dann könnte das Stromnetz außer Gleichgewicht geraten.
Das ist schon beachtlich! Das Netz wäre somit nicht mehr n-1-sicher, dabei ist die n-1-Sicherheit ein Grundprinzip der deutschen Netzplanung. Und das hat auch die Politik wahrgenommen. Besonders aufgefallen ist uns, dass vor allem im Norden, wo die großen Wind-Offshore-Anlagen angeschlossen sind, aber das Netz weniger engmaschig als im Süden ist, die Stabilität des Netzes deutlich gefährdet wird.
Nun gibt es den Systemstabilitätsbericht, der in Kürze veröffentlicht wird. Welche To-dos ergeben sich aus diesem Bericht?
Die Ergebnisse zeigen vor allem, dass wir so bald wie möglich insbesondere auf Anlagen setzen sollten, die eine netzbildende Eigenschaft besitzen, Grid-forming sind (siehe Artikel Lange Leitung aus der Ausgabe #21), denn durch den Verlust von konventionellen Erzeugungsanlagen fallen auch deren systemstabilisierende Betriebsmittel weg. Die Lösung sind hier unter anderem leistungselektronische Anlagen wie zum Beispiel STATCOM-Anlagen oder rotierende Phasenschieber.
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Das Systemverhalten muss sich also zügig und massiv verändern, um die erneuerbaren Energien zu integrieren …
Ja, ganz klar. Im Austausch mit einem erfahrenen Kollegen haben wir kürzlich festgestellt: Wir befinden uns in der zweiten Stufe der Energiewende. Wir sind mittendrin in einem Wandel von einem Synchronmaschinen-basierten hin zu einem Umrichter-basierten System. Synchrongeneratoren befinden sich in den bisherigen konventionellen Kraftwerken – Umrichter befinden sich in den Erneuerbare-Energien- und STATCOM-Anlagen, bei Elektrolyseuren und Batteriespeichern. Sie müssen schon morgen zur Systemstabilisierung beitragen.
Die Herausforderung ist jetzt, das Ganze umzusetzen: nämlich parallel an den richtigen Stellen zum Netzausbau und zum Bau neuer klimaneutraler (Gas-)kraftwerke.
„Wir brauchen ein neues Bewusstsein für die Kritikalität der Systemstabilität. Je nachdem, ob wir hier die richtigen Maßnahmen ergreifen oder nicht, steht oder fällt die Energiewende.“
Reichen die aktuellen Maßnahmen aus deiner Sicht aus, mit Blick auf das Ziel 2030?
Nein, wir müssen jetzt handeln, um das Ziel bis 2030 gewährleisten zu können. Beispiel Elektrolyseure: Wir sind gerade dabei, die „EU-Grid Codes“ umzuschreiben, damit die Anlagen „Grid-Forming” lernen, voraussichtlich wird das allerdings bis 2027 fertig gestellt werden (EU-Grid Codes: siehe Artikel Aktuelles aus der Ausgabe #21). Da ist definitiv noch Luft nach oben, um schneller an das Ziel zu kommen.
Wie sehen eure Aufgaben in den nächsten Jahren aus, bis 2030?
Das Energiewirtschaftsgesetz wurde inzwischen novelliert, sodass wir nun alle zwei Jahre einen Systemstabilitätsbericht erstellen werden. Das bedarf einer neuen prozessualen Anpassung. Der Systemstabilitätsbericht nach § 12 i des EnWG, der 2025 das erste Mal abgegeben wird, sollte sich von der Methodik an dem Piloten des Systemstabilitätsberichts 2023 orientieren.
Wen siehst du außer den ÜNB noch in der Pflicht?
Für mich ist essentiell, dass ÜNB, Verteilnetzbetreiber, Anlagenhersteller, Zertifizierer und natürlich die Politik an einem Strang ziehen müssen.
Wir brauchen ein neues Bewusstsein für die Kritikalität der Systemstabilität. Je nach dem, ob wir hier die richtigen Maßnahmen ergreifen oder nicht, steht oder fällt die Energiewende.
Wird das Thema aus deiner Sicht aktuell in der Öffentlichkeit ausreichend wahrgenommen?
Das Thema ist schon lange bekannt. Es ist aber komplex. Dennoch ist auch ein Verständnis der Bevölkerung wichtig. Es sollte für sie nachvollziehbar sein, warum Eingriffe auch in der unmittelbaren Umgebung vorgenommen werden, zum Beispiel beim Bau einer neuen STATCOM-Anlage oder beim Ausbau von Stromleitungen.
Vielen Dank für den Austausch!
Leitung Team Technik / Product Lead Projektentwicklung Photovoltaik Technik bei EnBW
9 MonateSuper Interview! Gratulation Miri!!!
Lead@TenneT
10 MonateEin wertvoller Beitrag, den die Kolleginnen und Kollegen im Voraus leisten, damit der laufende Betrieb so gut es eben vorbereitet ist, funktionieren kann. Ich bin persönlich sehr gespannt darauf, wie sich das Thema Systemstabilität entwickeln wird. Es ist in jedem Fall ein sehr komplexes Thema in dem noch viel Potential ruht, was wir in der Zukunft gemeinsam heben müssen, um das System zielgerichtet betreiben zu können.
Nationale Politik / National Policy bei TransnetBW GmbH
10 MonateDie Perspektive der Systemexperten von #TransnetBW ist in diesem Interview wirklich gut nachzuvollziehen. Danke Mirjam König, Christian Köngeter und Patrizia Kaiser für euren spannenden Austausch!