Wir haben bei judenfeindlichen Äußerungen geschwiegen
Die Schuld der Hamas wird die Palästinenser verfolgen. Die Verantwortung für die Shoah prägt Deutschland bis heute. Doch steht Israel uns wirklich nahe? Ein Gastbeitrag. Von JÖRG BREMER
FAZ-Net - vom 21.Nov. 2023
Wann und wie auch immer der Krieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas endet, schon heute ist klar, dass der 7. Oktober 2023 weitreichende Wirkungen entfalten wird. Vieles, was an diesem einen Tag aufbrach, wird die Menschheit lange verfolgen oder als Last verbleiben – auch in Deutschland.
Zunächst die Palästinenser: Sie werden insgesamt gegenüber Israel und der Welt die schwere Schuld tragen müssen, die ihnen eine islamistische Minderheit ins Stammbuch schrieb. Natürlich sind die meisten Palästinenser keine Terroristen. Die große Mehrheit der Palästinenser will Frieden und Menschenwürde; die meisten Palästinenser haben über die Länge des Nahostkonflikts den Ausgleich mit Israel gesucht. Nun aber wird sie die Schuld der Hamas verfolgen, so wie Deutschland durch die Verantwortung für die Shoah bis heute mitgeprägt wird. Die bestialisch ungezähmte Grausamkeit, mit der einige hundert Terroristen an der Grenze zum Gazastreifen über israelische Zivilisten herfielen, um sie zu foltern, zu würgen oder zu enthaupten, um sie zu töten oder zu entführen, ist so einzigartig, dass viele Menschen dies Ereignis geradezu für unglaubwürdig halten, allemal viele Palästinenser. Aber der 7. Oktober 2023 ist geschehen; er lässt sich nicht mehr aus dem Gedächtnis streichen.
Für die Israelis gehört zu der bitteren Nachlese, dass sie offenbar noch drei Generationen seit Staatsgründung keine sichere Heimat in ihrer historischen Heimat gefunden haben. Der 7. Oktober hat Israel jede Sicherheit genommen und die Nation in einen Abgrund gestürzt; dabei sah man Israel schon gesichert und im Friedensprozess mit vielen Nachbarstaaten. Wenn es aber bei allem arabischem Terror immer auch friedensbreite Araber und Palästinenser gegeben hat, dann muss auch Israel für diesen Zustand der Heimatlosigkeit in der Heimat Mitverantwortung übernehmen. Allemal in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Regierung Netanjahu nicht um einen Ausgleich mit den direkten Nachbarn geschert, sondern eher an dem Konflikt gezündelt. Die Kontrolle kleiner Feuer schien Israels Regierenden leichter als das Risiko eines Friedens einzugehen, hieß es darum auch sinngemäß in einem Urteil des Obersten Gerichts in Israel.
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Mehr noch: Nicht nur wurden zwanzig Jahre vergeudet, die nicht zuletzt die Hamas dafür nutzte, um aus dem Gazastreifen „Hamastan“ zu machen. Nicht nur ist auch im Süden Libanons ein „Hizbullahstan“ entstanden, in dem ein ähnlicher Hass gegen Israel herrscht wie in Gaza. Auch in der israelischen Gesellschaft ist der Extremismus zu Hause und müht sich, den Zionismus abzuschaffen, der einen demokratischen Staat der Juden wollte. Ein jüdischer Staat, in dem 20 Prozent der Bürger - Araber, Beduinen und Drusen - nicht dieselben Rechte haben, hat wenig mit dem Israel seiner Gründungsväter zu tun. Schlimmer noch: In Netanjahus Kabinett sitzen Extremisten wie Innenminister Itamar Ben-Gvir, der den Mord an 29 betenden Muslimen am Schrein der Patriarchen in Hebron am jüdischen Karneval von Purim 1994 durch einen Israeli gutheißt. Ben-Gvir will die Todesstrafe für Terroristen. Seine Gang sorgt dafür, dass in diesen Tagen Palästinenser nicht ihre Oliven ernten können, sondern von Siedlern bedrängt, wenn nicht erschossen werden. Bei diesen Leuten wird der Hass der Hamas auf Israeli durch den Hass von Israelis auf Araber gespiegelt.
So muss in Folge des 7. Oktobers 2023 auch festgestellt werden, dass heute ein Ausgleich zwischen Israel und seinen nächsten Nachbarn fast undenkbar erscheint. Auch faktisch: Schon vor etwa 20 Jahren gab es zu viele Siedler im Westjordanland, um saubere Grenzen zu ziehen. Ministerpräsident Ariel Scharon, der 2006 die Israelis mutig aus dem Gazastreifen abgezogen hatte, plante offenbar auch einen Teilabzug aus dem Westjordanland. Israels Regierung seither aber hat die Welt glauben gemacht, der Frieden mit arabischen Nachbarstaaten von Ägypten bis Saudi-Arabien könne den Ausgleich mit den Palästinensern ersetzen. Tatsächlich aber lehrt der 7. Oktober, dass dies eine Illusion ist, und es rächt sich die Bequemlichkeit des Westens, der sich über die Zukunft des Nahen Ostens zu wenig Gedanken gemacht hat.
Für uns Deutsche schließlich hält der 7. Oktober eine besonders bittere Lehre bereit. In unserer weniger durch bewusste Toleranz als durch Desinteresse geprägten Haltung haben wir vielen Einwanderern aus arabischen Ländern die deutsche Geschichte nicht als prägend vermittelt. Wir haben vielmehr bei judenfeindlichen Äußerungen geschwiegen. Wir haben unsere eigene Identität aus jüdisch-christlicher Geschichte verleugnet. Relativierung war Trumpf. Die Kirchen waren zu verhalten. Wir haben ein weltanschauliches Vakuum zugelassen, in dem Antisemitismus blühen kann.
Im Bundestag wird zwar von der Staatsräson mit Israel gesprochen, die im Übrigen eine Kritik an der israelischen Regierung einschließen muss. Vielleicht wird über diese Staatsräson sogar in manchen Schulen geredet; aber Gemeingut ist in Deutschland diese Nähe zu Israel nicht. Immerhin ist heute die gutgläubige Mehrheit Deutschlands überrascht über den aufwallenden Antisemitismus, der nun eben nicht mehr nur aus den alten linken und rechtsradikalen Ecken kommt; sondern auch von vermeintlich integrierten Bürgern mit Einwanderungshintergrund. Aber zur Demonstration gegen den Antisemitismus und für ein sicheres Israel müssen wir Deutschen geradezu getragen werden.
Mit Tränen in den Augen haben wir am 9. November die Stolpersteine geputzt, die an die verschleppten und getöteten jüdischen Nachbarn der Nazi-Zeit erinnern. Hatte es nicht vielfach nach dem Krieg geheißen, man habe ja gar nicht gewusst, was mit diesen Nachbarn geschah? Heute wissen wir offenbar nicht, wie unsere Nachbarn über Israel denken. Die bittere Brühe des antisemitischen Hasses in Folge des 7. Oktobers schwappt über dies Gedenken vom 9. November und wird uns Deutschen anhängen. Daraus muss folgen, dass wir zum einen das breite Gespräch über Israel suchen müssen. Wir müssen mit mehr Bildung die Unkenntnis über jüdisches Leben bekämpfen. Zudem muss der Nah-Ost-Konflikt wird auf die Tagesordnung des politischen Diskurses in Deutschland.
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1 JahrVielen Dank für diesen großartigen Artikel
Inhaberin bei Café Wildau Hotel & Restaurant am Werbellinsee
1 JahrGuter Beitrag, lieber Jörg!
Seniorberater, Coach und Interimsmanager bei Beck & Collegen bei Beck Management Center
1 JahrGenauso empfinde ich und genauso hätte ich es formuliert! Danke!