Woher wissen wir, ob Politik und Politiker gut sind?

Woher wissen wir, ob Politik und Politiker gut sind?

Je nach politischem Standpunkt stehen wir derzeit ohne Wenn und Aber an der Seite Israels oder meinen, man müsse gerade jetzt auf die Lage der Palästinenser aufmerksam machen. Ich habe dazu eine Meinung, die ebenso so eindeutig ausfällt, wie die zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die Begründung kommt gleich.

Deutschland – Israel – Welt

Dass die Stimmung – nicht nur aber auch – in Deutschland schon einmal besser, friedlicher und ungespaltener war, darüber habe ich ein ganzes Buch geschrieben. Dass die Ampel-Regierung oder die Grünen die Hauptursache dafür sein sollen, ist eine weit verbreitete Ansicht. Abgesehen davon, dass monokausale Analysen fast immer falsch sind, halten die häufig vorgebrachten Begründungen einer nüchternen sachlichen Prüfung nicht wirklich stand: Grüne sind Schuld an hohen Energiekosten und damit am negativen Wirtschaftswachstum, Grüne haben oft keinen oder allenfalls einen elfenbeinfarbenen Bildungsabschluss, Grüne sind ideologisch verblendet und hätten keine Ahnung vom Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung. Genau so dachte ich vor 30 Jahren auch. An all diesen Argumenten ist etwas dran. Sie sind für mich nachvollziehbar. Würde ich den Eingebungen meiner Lendengegend folgen und unter ästhetischen Gesichtspunkten urteilen, stimmte ich all dem zu. Tue ich aber nicht. Andererseits wäre es fatal, Stimmungen zu ignorieren, die real vorhanden sind – egal wie reflektiert und informiert oder unter Einfluss von Medienschaffenden mit politischer Agenda sie entstanden sein mögen. Man kann den Menschen noch so oft erklären, dass es in der Politik auf das politische Handwerk ankommt, das man wirklich nur in der politischen Praxis erlernen kann, und nicht auf fachliche Bildungsabschlüsse. Es interessiert die Menschen nicht, weil sie nur einen sehr kleinen Teil der politischen Praxis wahrnehmen: Nachrichten, Polit-Talk-Sendungen, Urteile und Reflektionen von Polit-Journalisten und diverser Youtuber. Der kausale Zusammenhang zu den realen Lebensumständen auch in Form von Gesetzen wird dann anhand dieses winzigen Fensters von Beobachtungen hergestellt. Aber dieser winzige Teil ist zu einhundert Prozent Wahl-relevant. Und so sind Politiker sehr unterschiedlich begabt darin und auch in sehr unterschiedlichem Maße bereit dazu, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und den Lebensumständen der Bürger öffentlichkeitswirksam darzustellen. Darin unterscheidet sich der Populist vom Sachpolitiker. Es gibt Mischformen. Aber es gibt niemanden, der beides in ausgeprägter Form ist.

Wer kennt schon wirklich Politik?

Wie auch sonst im Leben schließen wir Menschen naturgemäß von der Form auf den Inhalt. Politity schlägt Policy. Zur Politik gehört beides. Und nur der professionelle Politik-Beobachter versteht sich auf die Wahrnehmung der dritten Dimension, der Politics.

Ein institutionelles Merkmal der Polity sind die Gremien und dort verbringen Politiker die meiste Zeit: Parteiversammlungen, Parlamente, Ausschüsse. Dort wird ein großer Teil der Politics gemacht. Und hier unterscheiden sich Parteien und Personen trotz gleicher Regeln und Normen hinsichtlich der Beherrschung des politischen Handwerks und im Umgang mit Wettbewerbern in der eigenen Partei, in Koalitionen und gegenüber der parlamentarischen Opposition. Je nach politischen Standpunkt ist zudem die Aufgeschlossenheit gegenüber basisdemokratischen Verfahrensreglungen ausgeprägt: Volksabstimmungen, Formen deliberativer Bürgerbeteiligung, Bürgerräte. In jeder Hinsicht ist eine generalistische Sichtweise nicht nur für die inhaltliche Arbeit, sondern auch für das erfolgreiche Taktieren und Kompromissbilden wichtiger als Detailwissen. Ähnlich wie im unternehmerischen Umfeld ist Fachwissen eher hinderlich, weil es den Fokus in die Tiefe statt in die Breite lenkt. Fachwissen ist natürlich wichtig in den Ministerien, bei den Beratern, in der Exekutive. Dort gehört es hin. Fachwissen bei Politikern hat lediglich für den politischen Laienbeobachter einen sehr großen symbolischen Stellenwert, der durchaus wahlrelevant sein kann.

Komme ich nun zur Policy, den Inhalten der Politik und wie sie sich uns darstellen. Das betrifft unsere Meinung zur Wärmepumpe genauso wie unsere Meinung zur Verteidigungspolitik Israels und der Ukraine. Was hat es nun mit dieser horizontalen und vertikalen Toleranz auf sich? Horizontale Toleranz schaut auf die Fläche: Welche gleichberechtigten Interessen gibt es zu berücksichtigen, auch über Staatsgrenzen, Kontinente und Kulturkreise hinaus? Welche bislang marginalisierten oder benachteiligten „Gruppen“ gibt es: Frauen, Queere, religiöse Minderheiten, körperlich oder geistig Beeinträchtigte? Wo werden allgemein gültige Menschenrechte noch zu wenig beachtet oder gar mit Füßen getreten? Wo gilt es, Schwächeren zu helfen? Wo gibt es Interessen, die von ihren Trägern nicht selbst vertreten werden können, wie z.B. Unterdrückte, Tiere, die Biosphäre, künftige Generationen? Auf der Horizontalen gibt es potenziell immer noch mehr, was bisher im blinden Fleck versteckt war. Ganz wichtig: Es bleibt die Horizontale, weil es keine Hierarchie bezüglich Vorrechten und Wichtigkeit zu geben hat, denn das wäre schon auf der Zielebene eine Benachteiligung. In der Praxis wird es eine solche Benachteiligung rein faktisch geben müssen, weil Zeit und andere Ressourcen immer knapper sind, als brennende Bedürfnisse von Anspruchsgruppen. Wer bis hier nicht längst abgewunken hat und zu sich selbst sagt. „Was für ein Schwachsinn!“, wird mit der neudeutschen Vokabel Woke etikettiert. Wer horizontale Pluralität anerkennt, spricht nicht von das Volk, weil damit die Pluralität negiert würde, weil das Volk eine Homogenität suggeriert, die bestenfalls die Mehrheit stärkt, sämtliche Minderheiten jedoch diskriminiert. Woke wird heute als Fremdzuschreibung synonym verwendet für die postklassistische (und damit postmarxistische) Linke, am deutlichsten in der Partei Die Grünen repräsentiert. Vertikale Toleranz hingegen versteht und akzeptiert die unterschiedlichen Entwicklungsebenen, auf denen sich Menschen aktuell befinden (1-6): Solche, die um das pure Überleben kämpfen und sich weder für Mitmenschen, noch um das Morgen, geschweige die Umwelt scheren (1); Menschen, die magische Gemeinschaftserlebnisse feiern wollen, bei einem Fußballspiel, in einer mystischen Sekte, in der Waldorfschule oder im Bierzelt bei Hubert Aiwanger (2); Menschen, die sich endlich ihre Rechte zurückholen wollen, die im Stau wutentbrannt aus dem Auto steigen, um Klimakleber von der Straße zu schleifen, Jugendliche aus Neukölln, die eine israelische Fahne verbrennen und Polizisten mit Böllern und Steinen attackieren (3); Menschen, die sich an Regeln halten wollen, weil sie die gesellschaftliche Sicherheit und verlässliche Konventionen wichtiger finden als ungestümen Egoismus auf Kosten anderer (4); Menschen, die die Freiheit aller Menschen als eines der höchsten Güter betrachten und einen wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Leistungswettbewerb Rechthaberei und künstlichen Status vorziehen (5); Menschen, die niemandem Schaden wollen und am liebsten die ganze Welt umarmen wollen, dabei aber übersehen, dass es eben all die eben genannten Bedürfnisse in der Gesellschaft gleichzeitig gibt (6). Die Hamas versteht sich auf die Existenzebenen 1-3. Der Clanboss aus Neukölln und die AfD ebenso. Nur wenige Vertreter der Grünen haben offene Augen für die vertikale Pluralität und deshalb senden sie kaum auf Frequenzen, für die Menschen in Wut und Rage oder dem Bedürfnis nach magischen Gemeinschaftserlebnissen empfänglich sind oder solche, denen die Angst vor Armut und drohendem Konsumverzicht im Nacken sitzt.


Du wählst keine Partei – du wählst dich!

Je nachdem, auf welche der gerade skizzierten Existenzebenen wir gerade unterwegs sind, sind wir empfänglich für unterschiedliche Policy: die der AfD, der Freien Wähler, der FDP, der CDU, der Grünen, von Sahra Wagenknecht. Aus der Perspektive einer jeden Partei und ihrer Anhänger haben sie recht, sind gut und wollen, sagen und tun genau das Richtige. Das ist keine Frage von Bildung oder Wissen, von Informiert- oder Desinformiertheit. Es ist eine Frage der jeweiligen Existenzebene. Keine dieser Ebenen ist besser oder schlechter. Die erstgenannten sind älter als die letztgenannten. Die älteren sind triebgesteuerter, animalischer, körperlicher und somit auch ganzheitlicher erlebbar als die jüngeren, die reflektierteren, mehr kopfgesteuerten. Die älteren sind emotionalisierender, populistischer, volkstümlicher. Die jüngeren wirken auf Menschen, die sich auf älteren Existenzebenen befinden, volksfern und abgehoben. Auch wenn in Krisenzeiten Menschen auf ältere Existenzebenen zurückfallen – eine biologisch folgerichtige Reaktion –, haben wir in unserer Gesellschaft eine große vertikale Pluralität. Führungskräfte, also auch Politiker, Richter und Staatsbeamte, die die jüngeren Existenzebenen und somit die Bedürfnisse dieser Menschen ignorieren, richten großen Schaden an. Unsere politische Gesellschaft steht vor dem Dilemma, dass wir sowohl horizontale wie vertikale Toleranz brauchen. Auch die zuweilen als rechtsradikal markierte Regierung Netanjahu verfügt über eine hohe vertikale wie horizontale Toleranz. Sie ist sich bei jeder ihrer politischen und militärischen Aktivitäten ihres Wirkungskreises bewusst und ist versucht, einen großen Verantwortungskreis zu ziehen. Hamas und Hisbollah sind blind für jüngere Existenzebenen. Ihr Ziel heißt Vernichtung Israels und – so muss man nach den jüngsten Ereignissen wohl vermuten – aller auf diesem Territorium lebenden Juden, vielleicht sogar des politischen Gegners, der Fatah und ihrer Anhänger. 

Dass die postmoderne Linke im westlichen Europa bei ihrer aus humanitärer Sicht nachvollziehbaren Toleranz für horizontale Pluralität („Multikulti“) blind dafür ist, dass große Teile der Bevölkerung des Gazastreifens genauso wie in Deutschland lebende Palästinenser und andere Menschen arabischer Herkunftsländer zu größeren Teilen auf älteren Existenzebenen unterwegs sind, ist nicht nur tragisch, sondern zeigt sich heute als kollektive politische Fahrlässigkeit. Wer jedoch wie neurechte Denker seit fast drei Jahrzehnten glauben, dies sei in einer geistigen Verwandtschaft von linker Ideologie und Islamismus begründet, ist nicht nur bar jeder Menschenkenntnis, sondern in der politischen Analyse vor dem Jahre 1968 in einer Sackgasse stecken geblieben. 

Eine identitäre oder ethnopluralistische Parteiname entspricht der Existenzebene 2. Sich auf die Seite des Stärkeren zu schlagen der Ebene 3. Eine ideologische Parteinahme entspricht Ebene 4, eine geopolitische Ebene 5. Auf Ebene 6 wird es für die Menschen schwierig, daher die Verwirrung bei Greta Thunberg und postideologischen Linken. Einen monolithischen Popanz Linksgrünwoke zu konstruieren und dabei auf das schon in Zeiten seiner Erfindung irreführende Erklärungsprinzip Kulturmarxismus zurückzugreifen, hatte schon bei anderen Themen zu absurden Schwurbeleien geführt. Dass angebliche Wokies auffallend still seien, wenn es um die Massaker der Hamas und seiner zivilen Follower an israelischen Menschen geht, lässt sich kaum verallgemeinern, zumal Altlinke aus historischer Verbundenheit reflexartig für Palästinenser Partei ergreifen, während Grüne und die überbewerte Splittergruppe der Antideutschen deutlich die Pogrome verurteilen.

Unabhängig von historischer, kultureller oder persönlicher Verbundenheit ergreife ich in Friedens- wie Kriegszuständen Partei für jene, die aus der Warte jüngerer Entwicklungsebenen agieren. Denn ein Zurückfallen auf ältere Ebenen bedeutet immer mehr Leid auf allen Seiten, auch wenn sich naturgemäß durch waffengestützte Handlungen Opfer nicht vermeiden lassen. Der Unterschied speist sich aus dem treibenden Motiv: Handle ich aus Hass oder Rache (Ebenen 2 und 3) oder um Ziele zu erreichen, bei denen Humanität mit eingebunden ist? Auch die als rechtsradikal gelesene israelische Regierung denkt an das Wohl beider Seiten und muss daher handeln, auch wenn unschuldige Opfer unvermeidlich sind. Die Hamas denkt nur an sich und handelt einfach. Würde die Hamas nicht handeln, ginge es Palästinenser und Israelis besser. Würde Israel nicht handeln, wird es und seine Bewohner vernichtet.

Sascha Bachmann

Ethisches Kommunikationsdesign

1 Jahr

Hast Du die Bildrechte gekauft? Ich würde Dir ansonsten dringend empfehlen, ein anderes Bild zu nutzen, kann sonst teuer werden. Quellenangabe reicht nicht aus. :-/

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