Zärtlichkeit in Zeiten der Pandemie: #1 Die Zahlenmenschen

Zärtlichkeit in Zeiten der Pandemie: #1 Die Zahlenmenschen

Eine Erzählung in zwei Teilen. Teil 1: Die Zahlenmenschen. Teil 2: Die zärtliche Ökonomie des Miteinanders. Spielregeln: Like/Liebe geben = benachrichtigt werden, wenn Teil 2 online ist.

Triggerwarnung: Ich benutze aus sprachlich-ästhetischen Gründen die männliche Form, meine aber immer alle 5 Geschlechter. Als Wortschöpfer nehme es mit der rechtstschreibung nicht immer so genau. Ich benutze Fluchwörter und scheue die politisch korrekte Meinung, wie ein Vagabund das Gefängnis. Für Ersteres bitte ich um Nachsicht. Für Letzteres um Verständnis. Viel Spaß beim Lesen. Und: Wir können unbedingt über alles reden.

Teil 1: Die Zahlenmenschen

Bern, 24. Oktober 2020 // Nein, die Berner Regierung macht an dieser Pressekonferenz nichts falsch. Die drei Regierungsmitglieder hinter dem Podium tragen nüchtern vor, was sie zu sagen haben: Verschärfung der Maskenpflicht, Verbote von Veranstaltungen, Schließung von Bars, Clubs, Theater, Museen etc.

Wir können Ihnen anmerken, dass sie sich der Konsequenzen der Maßnahmen bewusst sind: Ja, die erste Welle stecke allen noch tief in den Knochen ..., die wirtschaftlichen Folgen seien gravierend ..., niemand sei schuld, nur das Virus ..., jetzt müsse konsequent gehandelt werden, sonst drohe …

Das Bild der drei Mannen ist auf eine seltsame Art rührend. Die Hilflosigkeit spürbar. Und: das Bild ist irgendwie austauschbar. Ich habe es in unterschiedlicher Formation und Beflaggung in den letzten Wochen allen Ortens gesehen. Und auch der Inhalt gleicht sich stets: ein beinahe trotziger Appell an die Vernunft der Menschen, den Anordnungen zum Schutz von Leib, Leben und Wirtschaft folge zu leisten.

Je nach Land und Region spricht man auch von Solidarität. Wenn auch deutlich weniger, also noch vor Monaten.

Dann geht die Pressekonferenz der Berner Regierung zu Ende und die Menschen an den digitalen Informationsempfangsgeräten beginnen sich einmal mehr zu fragen, was das nun alles bedeutet.

Das ist nämlich die eigentliche Krux an der ganzen Geschichte. Niemand weiß, was das alles bedeutet. Und die, die es erzählen müssten – kraft ihrer Funktion und Legitimation – die hinter dem Podium, die wissen es auch nicht. Es sind Verwalter, Experten, gewählte Volksvertreter. Sie wurden, wie wir alle geschult, die Welt möglichst nüchtern und mit Kalkül zu sehen. In einem System, das bis anhin zuverlässig funktionierte, stets berechenbare Ergebnisse lieferte. Nur von Bedeutung wissen sie eben wenig. Dafür von Zahlen.

Deshalb reden sie lieber davon. Von Zahlen. Vielen Zahlen. Und diese Zahlen haben irgendwo schon auch Bedeutung – insofern sie eben wieder neue Zahlen produzieren. Bspw. die Anzahl Toten bis Ende November, der wirtschaftliche Schaden usw.

Auch wenn sie von Solidarität reden, meinen sie damit eigentlich Zahlen. Was Solidarität genau ist, jenseits der Abstraktion, also so ganz konkret im täglichen Leben – wir ahnen es nur. Möglicherweise genau wie sie.

Ich bin als 70er im Überfluss groß geworden. Solidarität war in dieser nährstoffreichen Petrischale kein evolutionärer Erfolgsfaktor. Es ging ja damals mit allem immer nur bergauf. Stetiges Wirtschaftswachstum, farbigere PC-Spiele und dann kam auch schon das Internet und die Post ging so richtig ab. Wie Brausepulver in einer Cola.

Ein nie enden wollender Bubble-Orgasmus. Jetzt erwachen wir übel verkatert in einer postkoitalen Globalisationsdepression.

Die viel beschworene Solidarität – ich glaube, sie gleicht einem ausgemergelten Kind mit Wasserbauch. Eines jener vergessenen und elenden Menschchen vom anderen Ende der Welt. Jährlich flattern sie zu Weihnachten in bunten Spendenflyern in unser Haus und klopfen an unser Herz. Nicht aus Bosheit haben wir die Solidarität versäumt zu nähren. Wir Erwachsenen waren einfach mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt. Sorry.

Wir leben in 2020! In der real existierenden Demokratie. Und unser Immunsystem schwitzt den zunehmenden Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit, Nachhaltigkeit und Wachstum, Verantwortung und Konsum in immer stärkeren Fieberschüben aus. Phänomene wie Trump, Verschwörungstheoretiker etc. sind ja nur bizarre Begleitsymptome dieser Katharsis.

Wir erzählen uns keine Geschichten mehr. Wir rechnen uns stattdessen etwas vor. Wenn wir uns auch auf nichts mehr einigen können, zumindest auf die Sprache der Mathematik ist weiterhin verlass. Eine 1 ist eine 1 und zwei davon sind immer eine 2, oder? Damit lässt sich eine Pandemie bewältigen. Und danach vielleicht auch der Klimawandel.

Mitnichten. Kaum eine Zeit vor uns besaß so viele Zahlen und gleichzeitig so wenig Wissen und Klarheit darüber, was sie tatsächlich bedeuten.

Die Mathematik ist eben keine menschliche Sprache. Sie hilft uns, die Welt zu vermessen, schenkt uns aber per se keine Bedeutung, keinen Sinn. Das können nur wir Menschen. Immer dann, wenn wir Abstraktes konkret machen, wenn wir unsere Erfahrungen nicht erklären, sondern erzählen. Beispielsweise wie gelebte Solidarität im Kleinen aussieht. Weiß das zufälligerweise jemand? Ich bin für jede Erfahrungsgeschichte dankbar. Ehrlich.

Der Solidaritätsappell kommt zu spät. Und niemand, keine Regierung, kein VR, keine Geschäftsleitung kann Werte einfach per Dekret verordnen. So funktioniert das nicht. Schon gar nicht, wenn sie nicht Teil einer gelebten und erzählten Kultur sind. Das haben wir verpasst.

Und jetzt schaut uns plötzlich wieder dieses Kindchen entgegen. Nicht aus einem Spendenflyer, sondern aus überbelegten Krankenhausbetten. Aus Todesstatistiken. Aus dumpfen Schlagzeilen. Aus der Nachbarwohnung, wo Risikomensch Fritz am Fenster sitzt. Noch isolierter, als sich sein auslaufendes Leben mit 80 bereits angefühlt hat. Beschämt stellen wir fest, dass wir eigentlich betroffener sein sollten. Wir empfinden aber nur aufrichtiges Mitleid. Mit den Verlierern. Wie könnten wir auch anders? Waren die Kernwerte all unserer Erzählungen der letzten Jahrzehnte nicht Leistung und Wettbewerb? Solidarität ist gut. Aber die Wirtschaft dürfen wir bitte nicht an die Wand fahren. Dafür haben wir doch die ganze Zeit gekämpft und geschuftet!

Vielleicht ist das wahre Dilemma unserer Zeit unsere Erschöpfung. Wir haben uns Rennen um Rennen geliefert, uns ausgestochen, überboten und überholt. Und jetzt warten wir, unfreiwillig in unserem Lauf gestoppt, an einem geschlossenen Bahnübergang, dass der Corona-Zug endlich vorbeidonnert. Dass sich die Schranken heben, damit wir wieder losrennen können. In eine weitere Runde in diesem endlosen Rennen, welches – ja, wir ahnen es bereits – keine Ziellinie kennt. Aber der Zug donnert nicht vorbei. Er schleicht. Wagen um Wagen rollt still und endlos an uns vorüber. Und während wir wie nervöse Rennpferde unruhig auf der Stelle tänzeln, in Erwartung eines kommenden Startschusses, sinken links und rechts bereits die ersten Mitstreiter zu Boden. Kringeln sich wie kleine Kinder zusammen und dämmern in dumpfe Apathie.

Sind das die Verlierer? Das müssen sie sein! Wer ruht, verpasst den Anschluss! Aber auch Freunde und Familienmitglieder liegen dort. Das schmerzt besonders.

Wie verletzlich und fragil die menschliche Wirklichkeit ist – vielleicht schon immer war. Wie dünn das Eis, auf dem wir schreiten. Und wie sprachlos wir plötzlich alle sind. Als wäre uns die Fähigkeit, Erfahrungen und Sehnsüchte jenseits von Zahlen, Daten und Fakten in Worte fassen und teilen zu können, abhandengekommen. Das Erzählen unseres puren, schieren, lauteren Seins. Nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Nicht höflich, sondern echt und lebendig.

Wir haben unsere wilde Menschensprache gegen sichere Zahlen eingetauscht. Die sinnstiftenden Erzählungen, diese wunderbar erneuernden Gesänge und Tänze unserer Zukunft sind verstummt.

Und damit kehren wir wieder am Anfang dieser Geschichte und zugleich auch an ihr Ende zurück. In die Stille des Berner Ratssaal. Die Regierungsmitglieder haben ausgezählt, sind bereits durch den Hintereingang hinausgeschlüpft. Noch schauen sich die Reporter etwas unschlüssig an, als warten sie noch auf etwas. Etwas, das vielleicht gleich um die Ecke biegt. Auf einen Sinn, etwas Bedeutung, vielleicht auch auf ein Wunder. Ein weißes Kaninchen aus dem Zylinder. Dann bricht das Video ab, ich blicke auf einen schwarzen Screen, blicke in mein eigenes müdes Zahlengesicht und weiß, das ist das Ende.

Oder vielleicht doch nicht ganz.

Vielleicht beginnt hier alles. Weil die drei Berner Herren, ja wir alle eine gelingende Version dieser Welt erzählen könnten. Weil es tatsächlich Methoden gibt, die Sprache der Menschen, unser Geburtsrecht, wieder einzufordern, um in zukunftsfähige Resonanz mit uns, den Mitreisenden auf diesem wunderbaren Planeten und dem Leben selbst zu gehen. Es gibt sie, die sinnstiftende Erzählung. Und auch die zärtliche Ökonomie des Miteinanders.

Wie wir sie Schritt für Schritt erzählen und wo wir damit im Kleinen beginnen können, möchte ich Ihnen gerne im zweiten Teil dieser Geschichte erzählen. Geben Sie mir bitte ein Like, damit ich Sie bei der Publikation von Teil 2 mit einer persönlichen Nachricht darauf aufmerksam machen darf.

Bei Fragen, Anregungen und Kritik stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. p@247leitstern.com

Patrick Kappeler, Elefantenflüsterer & Narrationsarchitekt für sinnstiftende Geschichten

Prof. Dr. Carmen A. Finckh

Professorin, Trainerin und Management Coach

4 Jahre

Auch als Controllerin kann ich uneingeschränkt zustimmen. Es geht um Menschen. Zahlen sind nur Hilfsmittel.

Barbara Hunter-Lemke

Transformation Facilitator | Storylistener & Storyharvester | Team Resilience- & Efficacy Booster

4 Jahre

Lieber Patrick Ein großartiger Beitrag, der zeigt wie uns die große Vision und neue kollektive narrative fehlen. Angefangen von Hunger, Kriegen bis hin zur Pandemie. Ich bin sicher, dass Du mit deiner sensiblen sprachgewaltigen einer sehr großen Beitrag dazu leisten wirst.

Ana-Laura Lemke

narrative strategist | systemic coach | speaker || listening for stories of change to guide transformation and capture impact

4 Jahre

Lieber Patrick, wieder einmal hast du uns mit unglaublicher Wortgewalt und Sprachzauber aufgerüttelt und zum Nachdenken gebracht. Spontan fühlte ich mich erinnert an Paolo Giordanos kurzen Essayband "In Zeiten der Ansteckung", den er am 29.02.2020 begann zu schreiben. Zwischen Sprache und Zahlen versucht er die neue Realität zu ordnen und zu greifen. Schon damals schreibt er: "Ich habe keine Angst davor, zu erkranken. Wovor dann? Vor all dem, was die Ansteckung ändern kann. Davor, zu entdecken, dass das Gerüst der Zivilisation, so wie ich sie kenne, ein Kartenhaus ist."

Wolfgang Tonninger

Writer, Creative-Consultant & Filmmaker

4 Jahre

Lieber Patrick, da ist dir ja was ausgekommen! Großartig! Vielen Dank für dein Denken, deine Sprache, deine Bilder. Vor allem das mit dem Zug, der vorbeidonnern soll und es nicht tut. Ich denke, um das Bild aufzunehmen, es ist ein Zug, der langsam an uns vorbeizieht und kein Ende hat. Das heißt, dass der alte Weg über die Gleise nicht mehr verfügbar ist. Und nun stehen wir da, wie trotzige Kinder - und es wird eine Zeit brauchen, bis wir aufhören die vorbeifahrenden Waggons anzustarren, und umkehren und einen neuen Weg suchen. Insgesheim wissen wir alle, dass es ihn gibt. Insgeheim wissen wir alle, dass wir ihn gehen könnnen, abseits der alten Markierungen. So, und nun werde ich deinen Text wie wild teilen! ... bis bald und immer wieder!

Christine Erlach

Narrative Organisationsberaterin, Autorin, Fortbildnerin, Gründerin von NARRATA Consult

4 Jahre

Patrick, ich danke dir für deine wunderschön geschriebene und zugleich schonungslose Analyse - "wilde Menschensprache", das wird mich lange begleiten und ich freue mich sehr auf Teil 2 - denn wie du sagst: es liegt in unserer Hand, Visionen und Bedeutung für unsere Zukunft zu gestalten

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