«... zu den Sachen selbst!»
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«... zu den Sachen selbst!»

Edmund Husserl (1859 - 1938)

Für mehr Objektivität in schwierigen Zeiten

Täglich werden wir in den Medien eingedeckt mit Nachrichten über Krisen und Katastrophen, über fragwürdige politische Ereignisse, Korruption und Kriege, über schlimme Naturereignisse, Elend und Armut. Wie gehen wir damit um – und wie bewältigen wir diese Informationsflut?

Wir wollen wissen warum ...

Schlimme Ereignisse und Entwicklung verlieren in unserer Wahrnehmung, subjektiv betrachtet an Bedrohung, wenn wir sie erklären können mit Ursachen und Kausalitäten. Diese mögen objektiv sein (ein Seebeben hat einen Tsunami ausgelöst), auf Halbwahrheiten beruhen (das tiefe Bildungsniveau der US-Wähler verhalf Trump 2016 zum Wahlsieg) oder schlicht falsch sein (Hexen waren für die Pestepidemie im Mittelalter verantwortlich). Alle Erklärungen helfen, ein Ereignis zu rationalisieren und es damit besser einzuordnen.

... und dass etwas getan wird...

Schlimme Ereignisse und Entwicklungen wollen bekämpft werden mit Massnahmen. Wir sind nicht bereit, unser Schicksal einfach zu erleiden. Erklärungen und Interpretationen sind deshalb die Vorlage für Handlungen und Massnahmen. Offensichtlich aber sind Massnahmen nur dann zielführend, wenn sie auf einer zutreffenden Analyse und gesicherten Erkenntnissen beruhen. Die Verbrennung von Hexen hat die Pest nicht beseitigt, und ob das Bildungsniveau in den USA allein verantwortlich für die Wahl von Donald Trump war, ist mehr als zweifelhaft.

... und enden in Konfusion!

Bei neuartigen und bisher unbekannten schlimmen Ereignissen sind zutreffende Erklärungen und Interpretationen schwierig, die Nachfrage und das Bedürfnis der Öffentlichkeit danach aber gerade deshalb gross. Verschieden und verschiedenartigste Interpretationen werden verbreitet: Unterschiedliche wissenschaftliche Erklärungen konkurrieren mit Verschwörungstheorien, je unklarer die Sachlage desto mehr Fachleute werden «aufgeboten», ihre Meinung als Experten darzulegen – kombiniert mit Erläuterungen und Vereinfachungen in den Medien ... in kurzer Zeit ist die Konfusion gross und Nicht-Fachleute (d.h. wohl die überwiegende Mehrheit der Menschen) versteht nicht mehr, um was es eigentlich geht.

Sind Konfusion und Verwirrung vermeidbar?

Wohl kaum vollständig. Der Diskurs über Erkenntnisse und Ergebnisse aus der Forschung gehört zum Prozess der Wahrheitsfindung in der Wissenschaft. Die Frage ist allerdings, ob dieser Diskurs in den Publikumsmedien stattfinden soll. Und im Weiteren ist fraglich, ob Experten aus vorläufigen Erkenntnissen bereits umfassende Handlungsanweisungen für Massnahmen ableiten können. Mehr wissenschaftliche Bescheidenheit und Mut, noch bestehende Wissenslücken offenzulegen, würden die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in Empfehlungen stärken. 

Objektive Wahrheit ist ein sehr kostbares und seltenes Gut – wir sollten damit sorgfältig umgehen!

Edmund Husserl (1859 – 1938) hat sich vor etwas mehr als 100 Jahren in seinen Ideen zur phänomenologischen Philosophie eingehend damit befasst: Wie können Phänomene unvoreingenommen, das heisst ohne Intention und Vorurteil, erkannt werden? Mit seinem Satz «von den blossen Worten zu den Sachen selbst» wird klargemacht, dass wir uns primär mit den Phänomenen, d.h. den Fakten, auseinandersetzen und diese nicht durch Wortwahl und Umschreibungen vorschnell interpretieren sollten.

Werden in den Medien heute primär Fakten dargestellt? Oder geht es nicht eher um eine Inflation von Meinungen und Interpretationen, immer gemischt mit einer subjektiven Auswahl von Daten und Ereignissen? Das Wort von den «alternativen Fakten» passt gut in diesen Zeitgeist, gegen den niemand gefeit ist – man sehe sich Leserkommentare zu Zeitungsartikeln oder Beiträge in den sozialen Medien an. Sehr schnell sind wir bereit, unsere Interpretationen abzugeben zu oberflächlich gehörten oder gelesenen Fakten und Zahlen, ohne diese kritisch zu hinterfragen. 

Es ist Jahresende, Zeit für Nachdenken über Vergangenes und Ausblick auf Kommendes. Zeit auch für eigene Vorhaben und Ziele.

Edmund Husserls «zu den Sachen selbst» gibt ein wunderbares Motto für das Jahr 2021!

Werner Inderbitzin

ehemals Rektor der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften


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Urbaniok hat zu dieser Thematik ein Buch verfasst mit dem Titel "Darwin schlägt Kant". Sehr erhellend und lesenswert.

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