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Document 52012AE2319

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union — COM(2012) 446 final

ABl. C 161 vom 6.6.2013, p. 82–86 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

6.6.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union

COM(2012) 446 final

2013/C 161/16

Berichterstatter: José María ZUFIAUR NARVAIZA

Mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 ersuchte die Europäische Kommission den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um die Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgender Vorlage:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union

COM(2012) 446 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 21. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 488. Plenartagung am 20./21. März 2013 (Sitzung vom 20. März) mit 102 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Bemerkungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union  (1) wie auch die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union (2) und formuliert dazu nachfolgende Bemerkungen und Empfehlungen.

1.2

Der EWSA äußert sich besorgt darüber, dass die Programmplanung für die EU-Entwicklungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt und der Sozialschutz deshalb bei der Planung und Umsetzung vernachlässigt wird. Er fordert deshalb die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, alles Erforderliche zu tun, damit der Sozialschutz bei der Planung und effektiven Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit Berücksichtigung findet.

1.3

Der EWSA hält es für zweckmäßig, mindestens 20 % der gesamten EU-Hilfsgelder für die soziale Eingliederung und die menschliche Entwicklung vorzusehen und die diesbezügliche Finanzausstattung im Zuge einer Umverteilung der in anderen Bereichen nicht eingesetzten Mittel zu erhöhen. Außerdem zeigt er sich darüber besorgt, dass dieser Anteil für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Sozialschutz im Ganzen gilt und nicht aufgeteilt und gesondert zugewiesen wird, weshalb es keine Garantie gibt, dass der Sozialschutz nicht völlig außen vor bleibt. Sozialschutz kann vom Begriff her das Gesundheitswesen umfassen, aber nur schwerlich das Bildungswesen, es sei denn als Grundlage oder Ergänzung einiger Sozialschutzprogramme. Folglich sollte ein Gleichgewicht angestrebt werden, das eine Abstimmung dieser drei grundlegenden Bereiche ermöglicht.

1.4

Der EWSA teilt die Empfehlung 202 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Mindestniveaus für den Sozialschutz (3), zu deren Grundpfeiler die menschenwürdige Arbeit zählt. Die Prinzipien dieser Sozialschutzniveaus müssen als (verbesserungsfähige) Mindestsockel aufgefasst werden, von denen ausgehend künftig Systeme zu entwickeln sind, die die Kriterien des Übereinkommens 102 der ILO (4) erfüllen.

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Sozialschutz als grundlegende Investition für den sozialen Zusammenhalt und die integrative und nachhaltige Entwicklung gelten sollte. Dazu muss ein strategischer Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit auf Faktoren gelegt werden, auf denen die Sozialschutzsysteme beruhen: menschwürdige Arbeit (einschließlich Aspekten wie der Gleichstellung von Männern und Frauen sowie Menschen mit Behinderungen), Verteilung des Reichtums, demografische Entwicklung, Universalität der (Sozial-)Dienstleistungen und die zentrale Rolle des Staats für das Erreichen dieser Ziele.

1.6

Der EWSA hält es für erforderlich, dass über die Entwicklungszusammenarbeit die Einführung von Sozialschutzsystemen für legale Arbeitnehmer (einschließlich derjenigen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen, als echte oder wirtschaftlich abhängige Selbstständige oder in der Landwirtschaft tätig sind) sowie die Einführung sozialer Hilfsleistungen für die gesamte Bevölkerung (einschließlich der in der informellen Wirtschaft tätigen Menschen) zu fördern. Er spricht sich deshalb dafür aus, auf Beiträgen beruhende Systeme mit steuerfinanzierten beitragsfreien Systemen zu kombinieren. Zu diesem Zweck muss durch die Entwicklungszusammenarbeit die institutionelle und steuerliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten gestärkt werden, damit sie über ausreichende Mittel verfügen, um ihren sozialen Verpflichtungen nachzukommen.

1.7

Der EWSA unterstreicht die Nützlichkeit der Sozialschutzsysteme für die Vermeidung und Verringerung von Risiken, einschließlich jener bei Naturkatastrophen oder Situationen nach Konflikten, und fordert deshalb, die Entwicklungszusammenarbeit für diesen Zweck einzusetzen.

1.8

Der EWSA ist der Ansicht, dass es vornehmlich den Partnerländern selbst obliegt, ihr Sozialschutzsystem zu entwickeln und umzusetzen, wobei die EU-Kooperation zur Stärkung ihrer institutionellen Leistungsfähigkeit sowie Steuererhebungs- und Verwaltungskapazitäten beitragen sollte, damit eine Selbstversorgung erreicht und nachhaltige und dauerhafte öffentliche Systeme entwickelt werden können.

1.9

Der EWSA spricht sich jedoch nicht dagegen aus, die Sozialschutzsockel in den Ländern mit niedrigem Einkommen durch mehrjährige Finanzhilfen mit direkten Transfers an die Partnerländern zu stärken, die durch angemessene Kontrollmechanismen überwacht werden sollten.

1.10

Der EWSA ist der Ansicht, dass bei der Entwicklungszusammenarbeit, auch wenn sie im Bereich des Sozialschutzes vorrangig auf Länder mit niedrigem Einkommen ausgerichtet sein sollte, die Länder mit mittlerem Einkommen nicht außer Acht gelassen werden dürfen, in denen die Probleme der Armut und Ungleichheit fortbestehen – und sich mitunter sogar verschärfen. Derzeit leben 75 % der Armen der Welt in Ländern mit mittlerem Einkommen. Die EU-Hilfe sollte, insbesondere durch branchen- und themenspezifische Programme, auf eine Ausweitung der Deckung und die Steigerung der Effizienz der bereits bestehenden Systeme ausgerichtet werden, wobei es die institutionellen Kapazitäten zu stärken gilt. Darüber hinaus sollten besondere Programme für Gebiete mit umfangreichen Migrationsströmen aufgelegt werden.

1.11

Der EWSA fordert, die Geschlechterdimension als vorrangiges Querschnittsthema in der EU-Entwicklungspolitik zu berücksichtigen, um Frauen einen besseren Zugang zum Sozialschutz zu ermöglichen, was zur Bekämpfung der Armut der einzelnen Menschen und der Familien beitragen würde.

1.12

Der EWSA schlägt vor, in die EU-Programme für die EU-Entwicklungszusammenarbeit die soziale und berufliche Eingliederung Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, wobei ausreichende Mittel dafür vorzusehen sind, und für diese Personen einen angemessenen Sozialschutz festzulegen. Zu diesem Zweck sollte es seiner Auffassung nach zu den Zielen der EU-Entwicklungszusammenarbeit gehören, dass die Partnerländer das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (5) ratifizieren und ordnungsgemäß anwenden.

1.13

Der EWSA empfiehlt, den Sozialschutz im künftigen mehrjährigen Finanzrahmen als Priorität der Programmplanung im Abschnitt über die EU-Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen und festzulegen.

1.14

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Süd-/Süd-Austausch bewährter Verfahrensweisen im Bereich des Sozialschutzes fachlich und finanziell durch die EU gefördert werden muss.

1.15

Der EWSA fordert, in die von der EU unterzeichneten Assoziierungs-, Handels-, Stabilisierungs- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ein Kapitel über Sozialschutz aufzunehmen.

1.16

Der EWSA hält es für sinnvoll, regionale Entwicklungspartnerschaften im Bereich des Sozialschutzes zu fördern.

1.17

Der EWSA empfiehlt, ein Netz von Sozialschutzexperten auf europäischer Ebene (aus nationalen Ministerien, Entwicklungsagenturen und der Zivilgesellschaft) aufzubauen und dabei auf Instrumente wie das Programm für technische Unterstützung und Informationsaustausch (TAIEX) zurückzugreifen, um die Einbindung von Fachleuten zu ermöglichen. Die Hauptaufgabe dieses Netzes wäre die Kartierung der EU-Hilfe im Bereich des Sozialschutzes. Durch diese Initiative würde der Austausch bewährter Methoden gefördert und die Arbeitsteilung erleichtert, indem Lücken und Überschneidungen aufgezeigt oder mögliche komparative Vorteile ermittelt würden.

1.18

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft am Prozess zur Festlegung, Gestaltung und Überwachung der Kooperationsprogramme und –strategien beteiligt werden sollten. Er fordert deshalb, den Sozialschutz in die "EU-Road-Maps" für die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft aufzunehmen, die in der Kommissionsmitteilung über die Wurzeln der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung vorgesehen sind (6). Darüber hinaus unterstreicht der EWSA, dass die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft an den Beratungs- und Verwaltungsorganen der Einrichtungen des beitragsab- und -unabhängigen Sozialschutzsystems effektiv und ihrer Funktion entsprechend teilnehmen sollten.

2.   Hintergrund

2.1

Die von der Kommission vorgelegte und danach vom Rat bestätigte Mitteilung über den Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der EU steht im Einklang mit den gemeinsamen Grundsätzen der Partnerschaft von Busan für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit (7), der Kommissionsmitteilung über das Programm für den Wandel (8) und der Empfehlung der ILO zu Mindestniveaus für den Sozialschutz und ist ein qualitativer Fortschritt in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit.

2.2

Die gemeinsamen Ziele von Busan entsprechen dem EU-Ziel einer umfassenderen Strategie für die menschliche Entwicklung, wie in der Kommissionsmitteilung über die Agenda für den Wandel festgestellt wurde, in der die Förderung von Gesundheit und Bildung, menschenwürdiger Arbeit und der Systeme zur Stärkung des Sozialschutzes und zur Förderung der Chancengleichheit herausgestellt wird.

2.3

Diese Aktionslinien entsprechen auch der Empfehlung der ILO zu Mindestniveaus für den Sozialschutz, die vier grundlegende Sozialschutzgarantien beinhalten: von den Ländern selbst festgelegte Mindestniveaus für ein gesichertes Grundeinkommen für Kinder, Personen im erwerbsfähigen Alter und ältere Menschen sowie der Zugang zu einer grundlegenden und erschwinglichen Gesundheitsversorgung.

2.4

Darüber hinaus wird dieser Ansatz in den Schlussfolgerungen des Rates bekräftigt, in denen sich dieser für ein Wachstum ausspricht, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Wohlstand gerecht verteilt wird, dass die Menschen am Wohlstand und an der Schaffung von Arbeitsplätzen teilhaben und dass ein allgemeiner Zugang zu grundlegenden sozialen Diensten wie Gesundheitsversorgung und Bildung gewährleistet ist. In diesem Sinne heißt es in den Schlussfolgerungen weiter: "Die Sozialschutzpolitik kann eine umgestaltende Rolle in der Gesellschaft spielen, indem sie Gerechtigkeit, soziale Inklusion und den Dialog mit den Sozialpartnern fördert."

2.5

In allen diesen Erklärungen, Abkommen und Schlussfolgerungen wird gefordert, den Sozialschutz in die EU-Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen eines Ansatzes der integrativen und nachhaltigen Entwicklung aufzunehmen, d.h. einer Entwicklung, die über das quantitative Wirtschaftswachstum des BIP hinausgeht.

2.6

Es ist darauf hinzuweisen, dass die EU-Bürger ebenfalls der Ansicht sind, dass die Anstrengungen im Bereich der europäischen Entwicklungszusammenarbeit fortgesetzt werden sollten. Einer Eurobarometer-Umfrage zufolge (9) sprechen sich die europäischen Bürger trotz der Wirtschaftskrise mehrheitlich (85 %) dafür aus, die EU-Hilfe für die Entwicklungsländer beizubehalten, während ein Großteil (61 %) eine Aufstockung der Hilfsgelder befürwortet, damit viele Menschen einen Weg aus der Armut finden können.

3.   Die Herausforderung des Sozialschutzes muss im Kontext der Globalisierung bewältigt werden

3.1

Seit der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (10) hat sich das weltweite BIP verzehnfacht, während das Pro-Kopf-Einkommen um 2,6-fache gestiegen ist. Dennoch hat sich für den Großteil der Weltbevölkerung die Lage hinsichtlich des Sozialschutzes nicht wesentlich verändert – sie genießen in der Praxis nach wie vor keinen sozialen Schutz. In dieser Hinsicht sind folgende Daten (11) signifikant.

3.1.1

Rund ein Drittel der Weltbevölkerung (1,75 Mrd. Personen) leidet unter vielgestaltiger Armut, die aus einem Mangel an Einkommen, Möglichkeiten für eine menschenwürdige Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung resultiert.

3.1.2

Insgesamt sterben jährlich 9,2 Mio. Kinder unter fünf Jahren an Gesundheitsproblemen, die mit Präventionsmaßnahmen verhindert werden könnten.

3.1.3

Etwa 5,1 Mrd. Personen, d.h. 75 % der Weltbevölkerung, haben keinen angemessenen sozialen Schutz.

3.1.4

Weniger als 30 % der erwerbstätigen Personen in der Welt sind arbeitslosenversichert, und nur 15 % der Arbeitslosen erhalten entsprechende Leistungen.

3.1.5

Nur 20 % der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben Zugang zu umfassenden Sozialversicherungssystemen. In vielen Ländern verfügen die Arbeitnehmer des informellen Sektors, Landwirte und Selbstständige über keinerlei sozialen Schutz.

3.1.6

Im Gegensatz dazu liegt das Armuts- und Ungleichheitsniveau in den am stärksten entwickelten OECD-Ländern bei ungefähr der Hälfte dessen, was bei fehlenden Sozialschutzsystemen zu erwarten wäre.

4.   Potenzial des Sozialschutzes für eine integrative und nachhaltige Entwicklung

4.1

Diese Stellungnahme beruht auf einem sehr breit gefassten Begriff des Sozialschutzes, der sowohl die soziale Sicherheit im engeren Sinne als auch die Sozialhilfe abdeckt. Sozialschutz bezeichnet hier sowohl Maßnahmen und Aktionen mit dem Ziel, alle Menschen (insbesondere schutzbedürftige Gruppen) besser in die Lage zu versetzen, die Armutsfalle zu vermeiden bzw. aus ihr herauszufinden, als auch Maßnahmen und Aktionen für eine Einkommenssicherheit, den Zugang zu grundlegenden Gesundheits- und Sozialdienstleistungen im gesamten Lebensverlauf sowie Gleichheit und Menschenwürde.

4.2

Berücksichtigt werden deshalb Geld- und Sachleistungen zur sozialen Absicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Alter, Berufsunfähigkeit, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, an Hinterbliebene, Familien- und Arbeitslosenunterstützung sowie Sozialhilfeleistungen, die ungeachtet der zugrunde liegenden Ursachen vornehmlich auf den Schutz bei allgemeiner oder besonderer Bedürftigkeit abzielen.

4.3

Insofern hält sich der EWSA an die Bestimmungen von Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Jeder hat das Recht auf […] ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz."

4.4

In Europa schließen weder die soziale Sicherheit noch der Sozialschutz im weiteren Sinne die Bildung ein, auch wenn es sich dabei anerkanntermaßen um einen wesentlichen Politikbereich handelt. Gleichwohl ist im Falle einiger erfolgreicher Programme – wie des brasilianischen Programms "Bolsa Família" ("Familienstipendium") – die Bewilligung von Sozialleistungen für Familien an die Teilnahme an Schulbesuchsprogrammen (Bildungspolitik) gebunden.

4.5

Diese und auch Erfahrungen anderer Art, die unter den Begriff Sozialschutzniveaus im weiteren Sinne fallen, sollten zwar genutzt und sogar ausgeweitet werden, gleichzeitig aber kann die Berücksichtigung der Bildung als Komponente des Sozialschutzes zu einer Verringerung der zu verteilenden Mittel für den Sozialschutz in den operationellen Programmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit führen. Dies kann auch eine Verwechslung zwischen soziale Hilfsmaßnahmen und Sozialschutz zur Folge haben, indem ein Teil des Systems dem Ganzen gleichgesetzt wird.

4.6

Sozialhilfemaßnahmen sollten klarer von Sozialschutzsystemen abgegrenzt werden. Letztere sind strukturelle Systeme für den universellen Schutz. Erstere können hingegen auf Elemente des Sozialschutzes zurückgreifen, z.B. finanzielle Transferleistungen für die Erreichung eines Bildungsziels (wie im Falle der brasilianischen Initiative) und damit eine Verbindung zu den Sozialschutzniveaus herzustellen.

4.7

Der Sozialschutz spielt eine grundlegende Rolle in Phasen des Wirtschaftswachstums und ist ein stabilisierender Wirtschaftsfaktor in Krisenzeiten. Wie in der Kommissionsmitteilung festgestellt wird, verbessert der Sozialschutz den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, bietet den Menschen Instrumente zur Krisenbewältigung, fördert die Einkommensstabilität und die Nachfrage, wirkt makroökonomisch stabilisierend, verringert Ungleichheiten durch seinen Beitrag zum integrativen und nachhaltigen Wachstum, verbessert die Beziehungen zwischen den Generationen und leistet einen erheblichen Beitrag zur Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele.

4.8

Sozialschutz ist deshalb eher eine Investition als ein Kostenpunkt. Er ist nicht ein bloßes Element der Einkommensumverteilung, das von den Wertschöpfungsmechanismen abgekoppelt ist. Er ist vielmehr ein wichtiger Produktionsfaktor, der für mehr Wohlstand sorgt. Er ist ebenso wichtig wie die Geldpolitik oder die Innovationspolitik, oder sogar noch wichtiger, insbesondere in einer Welt, in der vor allem in großen Entwicklungsländern die Bevölkerungsalterung stark zunimmt und künftig eine zentrale Herausforderung sein wird, die ohne Sozialschutzsysteme dramatische Formen annehmen kann.

5.   Bemerkungen zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission

5.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Anerkennung des Sozialschutzes als tragende Säule der Entwicklungszusammenarbeit den Werten und Grundsätzen der EU entspricht, die im EU-Vertrag (12) und der EU-Grundrechtecharta festgeschrieben sind (13).

5.2

Der EWSA hält es für richtig, dass die Kommission den Sozialschutz in die Politik der EU-Entwicklungszusammenarbeit aufgenommen hat, so wie dies bereits von mehreren Instanzen, darunter der Ausschuss selbst, gefordert worden war (14).

5.3

Der EWSA teilt generell die in der Mitteilung vertretenen grundlegenden Positionen der Kommission. Besonders erwähnenswert sind die Bedeutung, die den strukturellen Hürden bei der Ausmerzung der Armut in Situationen im Zusammenhang mit Ausgrenzung und Marginalisierung beigemessen wird; der Wert, der der menschenwürdigen Arbeit und tragfähigen Steuersystemen zugeschrieben wird; das Bemühen um einen allgemeinen und diskriminierungsfreien Zugang zum Sozialschutz; die Bindung des Sozialschutzes an eine integrative und nachhaltige Entwicklung; die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit sowohl in den Ländern mit Entwicklungsrückstand als auch in denen mit mittlerem Einkommen, die Geschlechterdimension und die Sozialschutzniveaus; sowie die Unterstützung der Beteiligung der Zivilgesellschaft und die Relevanz der Sozialpartner und des sozialen Dialogs.

5.4

Der EWSA betont die Notwendigkeit einer stärkeren Koordinierung zwischen den für die EU-Entwicklungsarbeit zuständigen Stellen und allen Interessenträgern (einschließlich internationaler Organisationen und Gremien) sowie einer größeren Kohärenz zwischen der Politik der Entwicklungszusammenarbeit und anderen EU-Politikbereichen. Darüber hinaus sind wegen der Berücksichtigung neuer sozialschutzrelevanter Ansätze (Resilienz, Verringerung von Katastrophenrisiken usw.) in der EU-Entwicklungszusammenarbeit weitere Anstrengungen notwendig, um die mit diesen Ansätzen verbundenen Begriffe besser zu definieren und die sich daraus ergebenden etwaigen Synergieeffekte zu nutzen.

5.5

Der EWSA unterstreicht das Ziel, den Sozialschutz durch einzelstaatliche Maßnahmen in den Mittelpunkt der nationalen Entwicklungsstrategien zu stellen. Es ist außerdem notwendig, die institutionellen Kapazitäten der Partnerländer zu stärken, wozu die technische Zusammenarbeit der EU nützlich wäre. Auch ist auf die erforderliche internationale Koordinierung der Sozialschutzrechte hinzuweisen.

5.6

Der EWSA ist der Ansicht, dass der in der Mitteilung verwandte Begriff "transformativer Sozialschutz" als eine Möglichkeit aufgefasst werden sollte, um die Teilhabe und Mitbestimmung der Empfänger von Sozialschutzleistungen und insbesondere der besonders gefährdeten und am stärksten unter Armut und sozialer Ausgrenzung leidenden Personen zu stärken, indem ihnen dazu ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden.

5.7

Der EWSA hätte sich gewünscht, dass die Kommission in Bezug auf die Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor die wesentliche Rolle des Staats bei der Entwicklung und Anwendung von Sozialschutzsystemen herausstellt. Die Mitarbeit des Privatsektors ist ebenfalls notwendig, insbesondere im Bereich des ergänzenden Sozialschutzes (15). Der EWSA ist nicht der Auffassung, dass die auf Freiwilligkeit beruhende soziale Verantwortung von Unternehmen für das Thema Sozialschutz grundlegend ist, das auf verbindlichen Vorschriften und Maßnahmen beruhen muss.

5.8

Es ist ferner bedauerlich, dass die Kommission im Zusammenhang mit den Zielen der Europa-2020-Strategie nicht auf das Missverhältnis zwischen diesen Zielen und den von der EU geförderten Maßnahmen der "internen Abwertung" und Strukturreformen eingeht. So haben die tatsächlich durchgeführten Maßnahmen wenig mit diesen Zielen gemein: Sie haben zu Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung geführt. Ihrerseits haben die umgesetzten Reformen nicht zu mehr Wettbewerb und Zusammenhalt in der EU geführt, sondern zu mehr Prekarität auf dem Arbeitsmarkt und schlechteren öffentlichen Dienstleistungen.

Brüssel, den 20. März 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2012) 446 final.

(2)  Schlussfolgerungen des Rates zum Sozialschutz in der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union vom 15. Oktober 2012, 14538/12.

(3)  Empfehlung Nr. 202 über nationale Sozialschutzniveaus, 101. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, 14. Juni 2012.

(4)  Übereinkommen 102 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit, 35. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, 28. Juni 1952, Genf.

(5)  Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Generalversammlung der Vereinten Nationen, 13. Dezember 2006, New York.

(6)  Mitteilung der Kommission "Die Wurzeln der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung: Europas Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft im Bereich der Außenbeziehungen" COM(2012) 492 final.

(7)  4. hochrangiges Forum zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit, 29. November – 1. Dezember 2011, Busan.

(8)  COM(2011) 637 final.

(9)  Spezial Eurobarometer 392: Solidarität weltweit: Die Europäer und Entwicklungshilfe, Oktober 2012.

(10)  Generalversammlung der Vereinten Nationen, Dezember 1948.

(11)  Diese Daten stammen von: Weltbank, UNDP, FAO, UNO-Habitat, UNESCO, UNICEF, WHO, ILO.

(12)  Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 83/01 vom 30. März 2010.

(13)  Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 83/02 vom 30. März 2010.

(14)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Die externe Dimension der Koordinierung im Bereich der sozialen Sicherheit der EU"ABl C 11 vom 15.1.2013, S. 71-76.

(15)  Er wird aufgefordert, entsprechend den Leitlinien internationaler Organisationen für multinationale Unternehmen seinen rechtlichen Pflichten hinsichtlich der Finanzierung des Sozialschutzes nachzukommen.


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