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Document 52010IE0262

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Landwirtschaft im Europa-Mittelmeer-Raum (einschließlich der Bedeutung der Arbeit von Frauen in der Landwirtschaft und der Rolle der Genossenschaften)“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 347 vom 18.12.2010, p. 41–47 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

18.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 347/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Landwirtschaft im Europa-Mittelmeer-Raum (einschließlich der Bedeutung der Arbeit von Frauen in der Landwirtschaft und der Rolle der Genossenschaften)“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 347/06)

Berichterstatter: Pedro NARRO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Landwirtschaft im Europa-Mittelmeer-Raum (einschließlich der Bedeutung der Arbeit von Frauen in der Landwirtschaft und der Rolle der Genossenschaften)“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 3. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 460. Plenartagung am 17./18. Februar 2010 (Sitzung vom 18. Februar) mit 156 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Die Landwirtschaft im Mittelmeerraum ist sehr heterogen. Zur Verschiedenartigkeit der Produktionssysteme kommen noch Unterschiede im Entwicklungsstand, in der staatlichen Hilfe für die Landwirtschaft und in den Wirtschaftsstrukturen. Dessen ungeachtet ist die Landwirtschaft in allen Ländern des Mittelmeerbeckens das Rückgrat der ländlichen Gebiete und eine Triebkraft ihrer Wirtschaft.

1.2   Der unaufhaltsame Prozess der Handelsliberalisierung im Agrarbereich wird den Rahmen für die Nachhaltigkeit der Landwirtschaft im Mittelmeerraum setzen. Die Liberalisierung darf für sich genommen nicht das Ziel der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft sein, sondern das Mittel zur Erreichung des vorrangigen Ziels: der wirtschaftlichen, sozialen und regionalen Entwicklung auf beiden Seiten des Mittelmeers.

1.3   Der EWSA befürwortet eine Phase des Übergangs, in der sich die Landwirtschaft der betroffenen Länder auf die nötigen Änderungen einstellen kann, so dass sie sich gesichert den Herausforderungen stellen kann, die die Globalisierung von Wirtschaft, Handel und Wissen dem Agrarsektor bringt.

1.4   Die Folgenabschätzungen der Europäischen Kommission über die Auswirkungen einer Mittelmeer-Freihandelszone auf die Landwirtschaft zeigen deutlich, wer die „großen Verlierer“ dieses Prozesses sein werden. In Europa werden sich die auf die Erzeugung von Obst und Gemüse spezialisierten Regionen des Südens nicht gegen die Konkurrenz aus den Mittelmeer-Nachbarländern behaupten können, während umgekehrt in den südlichen Mittelmeerländern die kontinentale Produktion (Getreide, Milch, Fleisch u.a.) nach und nach aufgegeben werden wird. Sensible Erzeugnisse müssen auch im laufenden Liberalisierungsprozess geschützt bleiben.

1.5   Diese Zeit der Umstellung der mediterranen Landwirtschaft, die durch die Nahrungsmittelkrise und die Liberalisierung gekennzeichnet ist, verlangt von der öffentlichen Hand eine entschiedene, langfristige Strategie zur Sicherung des Fortbestands und der Lebensfähigkeit der landwirtschaftlichen Tätigkeit. Diese Strategie muss sich auf drei Faktoren stützen: Ausbildung, Technologie und Forschung, damit der Übergang zu einer Landwirtschaft erleichtert wird, die auf Qualität, Mehrwert und bessere Vermarktung setzt.

1.6   Die staatliche Politik im Mittelmeerraum muss auf eine erfolgreiche Bewältigung der Folgen der Liberalisierung gerichtet sein. Nach Auffassung des EWSA sind kurz- und mittelfristige Maßnahmen erforderlich, die mittels zusätzlicher Unterstützung den EU-Erzeugern in den am stärksten von der Handelsliberalisierung betroffenen Bereichen einen echten Ausgleich bieten. Andererseits müssen Maßnahmen zur Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft und zur Unterstützung der Landwirte und ihrer Betriebe ergriffen werden, die die Anpassung an das neue Produktionsumfeld erleichtern.

1.7   Die Mittelmeerländer sollten eine Bildungspolitik für den Agrarsektor betreiben, die eine hochwertige Beschäftigung fördert, die Arbeitskräfte auf die Erfordernisse des neuen Produktionsmodells einstellt und die negativen Folgen der Landflucht auf Beschäftigung und Migration eindämmt.

1.8   Zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Entwicklung im Mittelmeerraum hält es der EWSA für vordringlich, die Rolle örtlicher landwirtschaftlicher Organisationen durch Entwicklungsprojekte zu stärken, die für eine bessere Vertretung der Bauern und ihre umfassendere Einbeziehung in die Beschlussfassung sorgen.

1.9   Eine höhere Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft im Mittelmeerraum erfordert eine dynamischere Vermarktungsstrategie. Ein Pfeiler der neuen Strategie sind Genossenschaften und andere Arten von Erzeugerorganisationen, die zu Instrumenten werden müssen, mit deren Hilfe die Landwirte das Angebot bündeln und ihre Marktstellung verbessern können. Der EWSA spricht sich für Initiativen aus, die die Funktionsweise der Lebensmittelkette und die Verteilung des Nutzens auf all ihre Glieder verbessern.

1.10   Für grundlegend hält der EWSA die Aufwertung der Rolle der Frauen und der Jugend in den bäuerlichen Betrieben und im ländlichen Raum. In den südlichen Mittelmeerländern haben Frauen einen erheblichen Anteil an der Landwirtschaft, doch wird ihre Leistung in den meisten Fällen nicht anerkannt und nicht entlohnt und erfolgt unter erheblichen gesellschaftlichen Einschränkungen. Nötig sind neue Strukturmaßnahmen und Anreize, die die Arbeit der Frau aufwerten, sie aus der informellen Wirtschaft herausführen und den Zusammenschluss in Vereinigungen fördern, in denen der auch im Agrarbereich notwendige Unternehmergeist angeregt wird.

1.11   Ein determinierender Faktor für die Entwicklung der Landwirtschaft im Mittelmeerraum ist die Wasserbewirtschaftung. Eine der schlimmsten Begleiterscheinungen des Klimawandels im Mittelmeerraum wird die Abnahme der für die Landwirtschaft verfügbaren Wassermengen sein. Der EWSA sieht die dringende Notwendigkeit, neue Kontroll- und Modernisierungsmaßnahmen einzuführen, die nicht nur der Wassereinsparung dienen, sondern einen optimaleren Gebrauch dieses wertvollen Guts ermöglichen. All diese Maßnahmen müssen auf der Nutzung moderner Technik beruhen, die die Bewässerung in sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht tragbar machen.

1.12   Die institutionelle Zusammenarbeit muss von einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Teilen der Zivilgesellschaft begleitet sein. Vorrangig sollte die EU die regionale Kooperation und eine umfassendere Einbindung der Vertreter der Zivilgesellschaft fördern, um den Erfahrungsaustausch und die Ausarbeitung konkreter Projekte zu ermöglichen, mit denen die landwirtschaftlichen Organisationen des Mittelmeerraums das Modell einer multifunktionalen Landwirtschaft verbreiten können. Auf jeden Fall muss die Agrarkomponente der Mittelmeerunion gestärkt und müssen Fortschritte in der Realisierung der Mittelmeerbank erzielt werden.

2.   Einleitung

2.1   Der Beginn des Barcelona-Prozesses 1995 gab den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und ihren Nachbarn im Mittelmeerraum neuen Schwung (1) und zeichnete den Weg für die Errichtung einer Zone des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität in der Region vor. Fünfzehn Jahre nach Annahme der Erklärung von Barcelona kann man jedoch von mäßigen Fortschritten und von einer gewissen Enttäuschung bei unseren Partnern im Süden des Mittelmeers sprechen.

2.2   Die jüngste, maßgeblich von Frankreich und Deutschland getragene politische Initiative für die Union für den Mittelmeerraum (2008) ist der Beweis dafür, dass die Mittelmeerfrage nach Jahren der Lähmung wieder einen vorrangigen Platz auf der Agenda der Gemeinschaft einnimmt und folglich auch die Debatte über einen für das 21. Jahrhundert strategisch wichtigen Sektor wie die Landwirtschaft wieder auflebt.

2.3   Der EWSA hat sich zu dieser Initiativstellungnahme entschlossen, weil er zu der notwendigen Debatte über die Rolle, die dem Agrarsektor im Mittelmeerbecken zuzukommen hat, beitragen möchte. Wir befinden uns in einer für seine Entwicklung entscheidenden Etappe, die durch große, weltweit bestehende Herausforderungen gekennzeichnet ist.

2.4   Die enorme Komplexität der Agrarthematik im Mittelmeerraum verbietet es, im Einzelnen in die tagtäglichen Probleme einzelner Sektoren einzusteigen. Dem Ausschuss ist vielmehr daran gelegen, eine strategische Überlegung über die Zukunft der Landwirtschaft im Mittelmeerraum anzustoßen, deren Ausgangspunkt die Folgen sind, die eine Freihandelszone für Agrarerzeugnisse für beide Seiten des Mittelmeerbeckens haben könnte. Die Folgen der Liberalisierung sind nicht nur im Handelsbereich zu spüren, sondern sind auch für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung eines Landes von erheblicher Tragweite.

2.5   Die südlichen Mittelmeerländer haben die EU immer wieder vehement für deren übermäßigen agrarpolitischen Protektionismus kritisiert. Umgekehrt wurde aus der EU vor den schädlichen Folgen der Einfuhr bestimmter Produkte für viele europäische Regionen gewarnt, insbesondere Obst und Gemüse aus Marokko, das wegen seines landwirtschaftlichen Potenzials und seiner geografischen und kulturellen Nähe zu Europa einer der Fahnenträger der Mittelmeer-Landwirtschaft ist. Ein weiteres starkes Agrarland im Mittelmeerraum ist die Türkei, ein Kandidat für den EU-Beitritt, deren Agrarsektor der wichtigste Zweig der Volkswirtschaft ist und die ein immenses landwirtschaftliches Potenzial als grüne Reserve Europas aufweist. In den letzten Jahren hat sich auch Ägypten als eines der Länder mit sehr großem landwirtschaftlichem Potenzial im Mittelmeerraum erwiesen.

2.6   Über eine herkömmliche Sichtweise der Agrarbeziehungen im Mittelmeerraum hinaus ist es dringend nötig, sich eingehend mit einer langfristigen strategischen Vision einer mediterranen Landwirtschaft zu beschäftigen, die Synergien ermöglicht und die wirtschaftliche und soziale Lebensfähigkeit des Agrarsektors zu beiden Seiten des Mittelmeers sichert.

2.7   Die Erfahrung der Europäischen Union, die auf Qualitätsproduktion, Angabe des Ursprungs eines Produkts, Modernisierung der Infrastrukturen und Ausbildung setzt, sollte als Beispiel und als nützliche Orientierungshilfe für die Bewältigung der Veränderungen dienen, die sich im Süden des Mittelmeers ankündigen. Doch können nicht nur aus guten Erfahrungen wertvolle Lehren gezogen werden. Leider ist festzustellen, dass in Europa die Maßnahmen zur Unterstützung der Landwirtschaft unzureichend aufeinander abgestimmt sind, eine langfristige Planung fehlt und Ungleichheiten im Lebensmittelmarkt bestehen, dessen Angebotsseite durch eine große Fragmentierung gekennzeichnet ist, von der die großen Handelsketten profitieren; hier lauern Gefahren, die bei dem, was als „die große Phase der Umstellung der mediterranen Landwirtschaft“ gesehen werden kann, zu bedenken sind.

2.8   In den südlichen Mittelmeerländern hat die Landwirtschaft zwei Gesichter: zum einen das eines dynamischen, exportorientierten Sektors, in dem große Handelsunternehmen ihr Geld machen, und zum anderen das einer auf die örtlichen Märkte ausgerichteten Landwirtschaft, die von wirtschaftlich schlecht organisierten Kleinbauern betrieben wird.

3.   Der Prozess der Handelsliberalisierung

3.1   Gemäß dem bei der Einleitung des Barcelona-Prozesses (1995) vereinbarten Fahrplan genießen landwirtschaftliche Erzeugnisse eine Präferenzbehandlung. Die schrittweise Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten durch eine Regelung über den präferenziellen Zugang, den sich die Parteien gegenseitig gewähren, berücksichtigt die traditionellen Handelsströme und die jeweilige Agrarpolitik (2). Das übergeordnete Ziel war seit 1995 die Errichtung einer Freihandelszone bis 2010. Diese Jahreszahl ist als Richtwert zu sehen, keinesfalls als fixes Datum, denn schließlich machen die einzelnen Länder unterschiedlich große Schritte auf diese Freihandelszone zu.

3.2   Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahren neue, ehrgeizige Agrarabkommen mit Israel, Jordanien und Ägypten geschlossen. Die komplizierten, langwierigen Verhandlungen mit Marokko dauern noch an, doch deutet trotz der spärlichen Informationen europäischer Unterhändler nach dem vor kurzem verkündeten Abschluss der Verhandlungen alles darauf hin, dass das Abkommen im Laufe des Jahres 2010 unterschrieben wird. Von den übrigen Mittelmeerländern haben nur Tunesien und vor kurzem Algerien neue Verhandlungsrunden eröffnet.

Die Agrarverhandlungen zwischen der EU und den Mittelmeerländern

3.3   Die Europäische Union hat einen Schutz aufgebaut, für den verschiedene Instrumente miteinander kombiniert werden: Kontingente, Zölle, Zeitpläne, Einfuhrgenehmigungen, Einfuhrpreise usw. Daraus lässt sich ableiten, dass die EU ihren Landwirten traditionell eine Unterstützung durch tarifäre Maßnahmen gewährt hat, denn die normalen GAP-Hilfen spielen im Fall der für den Mittelmeerraum typischen Produktionen nur eine sehr marginale Rolle (3). Neben diesem Zollschutz, der stetig an Bedeutung verliert, sind im Handel mit Erzeugnissen der Agrar- und Ernährungswirtschaft Faktoren wie Entfernung, Produktionskosten und Infrastrukturen von wesentlicher Bedeutung.

3.4   Der europäische Verband COPA-COGECA, dem die wichtigsten Organisationen aus Landwirtschaft und Genossenschaftswesen der EU angeschlossen sind, hat in seinem Positionspapier zu den Europa-Mittelmeer-Abkommen hervorgehoben, dass die EU in den Verhandlungen einige grundlegende Prinzipien beachten sollte. Zu diesen Grundsätzen gehören in erster Linie die Beibehaltung des Begriffs „sensibles Produkt“ sowie eines Einfuhrpreises für Obst und Gemüse, die Verstärkung der Zollkontrollen zur Verhinderung betrügerischer Praktiken, die Einführung eines wirksamen Systems der Pflanzenschutzkontrolle und die Beachtung der jahreszeitlichen Aspekte der einzelnen Produktionszweige im Sinne einer gemeinsamen zeitlichen Steuerung von Erzeugung und Vermarktung (4).

3.5   Die Erzeuger der südlichen Mittelmeerländer haben Schwierigkeiten mit der Einhaltung der europäischen Gesundheitsvorschriften. Allerdings sind die Anforderungen an die aus dem Mittelmeerraum eingeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse geringer als die Bedingungen, die die Gemeinschaftserzeugnisse im Hinblick auf Tierschutz, Rückverfolgbarkeit und Umweltstandards zu erfüllen haben. Der EWSA fordert die EU auf, den Partnerländern im Mittelmeerraum die nötige technische Hilfe in Handelsfragen zukommen zu lassen, den Technologietransfer zu begünstigen und sie beim Aufbau von Rückverfolgbarkeits- und Frühwarnsystemen zu unterstützen.

3.6   Der EWSA hat mehrfach auf die Bedeutung der Rückverfolgbarkeit und der Qualitätszertifizierung als tragende Pfeiler des europäischen Agrarmodells hingewiesen. Dieses in der EU etablierte System liefert Informationen über den Weg, den ein Nahrungsmittel „vom Hof bis auf den Tisch“ nimmt, so dass festgestellt und weiterverfolgt werden kann, wo sich ein Nahrungsmittel in jeder Phase der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung befindet. Die Rückverfolgbarkeit sollte ein vorrangiger Punkt in den Agrarverhandlungen mit den Ländern des Mittelmeerraums sein.

3.7   Die agrarpolitische Liberalisierung im Mittelmeerraum ist zwar noch nicht abgeschlossen, umfasst aber mittlerweile bereits rund 90 % des Handelsverkehrs. Die EU ist weltweit ein bedeutender Nahrungsmittelimporteur und befindet sich mitten in einem beispiellosen Prozess der Handelsöffnung. Ungeachtet dieser beträchtlichen Öffnung gibt es nach wie vor eine Reihe sensibler Produkte, für die Sonderbestimmungen vorgesehen sind, um nicht bestimmte Erzeuger in eine benachteiligte Lage zu bringen, die sehr unter einer signifikanten Zunahme der Agrarimporte, insbesondere von Obst und Gemüse, leiden würden.

3.8   Der Obst- und Gemüsesektor spielt in diesem Liberalisierungsprozess eine entscheidende Rolle, denn fast die Hälfte der Agrarausfuhren aus Mittelmeerdrittländern in die EU ist ihm zuzurechnen. Viele Regionen Südeuropas haben sich auf die Erzeugung von Obst und Gemüse spezialisiert, und ihre regionale Wirtschaft hängt stark davon ab. In 20 Regionen der EU macht der Obst- und Gemüseanbau mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Enderzeugung aus. Die EU sollte beim Abschluss von Agrarabkommen mit den südlichen Mittelmeerländern für den Schutz jener Produktionen Sorge tragen, die als „sensibel“ gelten und denen aus diesen Abkommen erhebliche Nachteile erwachsen würden.

3.9   Die von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Folgenabschätzungen (5) zur Handelsliberalisierung im Mittelmeerraum zeigen deutlich, dass die EU bei einer teilweisen oder vollständigen Liberalisierung ihre Ausfuhren der sog. kontinentalen Erzeugnisse - Getreide, Milcherzeugnisse und Fleisch - vervielfachen würde. Andererseits würden diese Erzeugungsbereiche in Ländern wie Marokko einen starken Rückschritt erleben, wo binnen 14 Jahren die Produktion von Milch um 55 %, von Fleisch um 22 % und von Weizen um 20 % zurückgehen würde (6). Monokulturanbau könnte die Gefahr von Versorgungslücken und Importabhängigkeit in sich bergen.

3.10   Der EWSA ist der Ansicht, dass in die entsprechenden Assoziierungsabkommen Kriterien und Bestimmungen aufgenommen werden sollten, anhand derer sich die Auswirkungen der Öffnung des Handels auf beide Parteien überprüfen lassen, insbesondere mit Blick darauf festzustellen, ob das letztliche Ziel der Außenpolitik der Gemeinschaft erreicht wurde: nämlich Fortschritte im Bereich des Umweltschutzes, der Arbeitnehmerrechte und vor allem der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der lokalen Bevölkerung, also nicht nur der in- oder ausländischen Großunternehmen. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, im Interesse der Lebensmittelssicherheit und der europäischen Verbraucher, aber auch zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den südlichen Mittelmeerländern die Öffnung der europäischen Märkte von der Einhaltung von Mindestnormen im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sowie des Umwelt- und Gesundheitsschutzes abhängig zu machen.

3.11   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass geeignete Mechanismen geschaffen und bestehende verbessert werden müssen, um die Erfüllung der Bestimmungen sicherzustellen, die beide Seiten in Fragen der Handelsliberalisierung in den Assoziierungsabkommen akzeptiert haben, insbesondere im Hinblick auf die Beachtung der festgelegten Zollmengen und die Einhaltung der Kontingente.

Die Rolle der öffentlichen Hand im Liberalisierungsprozess

3.12   Die südlichen Mittelmeerländer stehen gegenwärtig vor schwierigen Fragen von großer Bedeutung, auf die auch die EU eine Antwort finden musste. Welche Rolle soll die öffentliche Hand im Prozess der Liberalisierung und Deregulierung der Märkte spielen? Auf diesem Gebiet hat die EU, genau gesagt die Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik, erstaunliche Richtungswechsel vollzogen, die den Ländern im Süden des Mittelmeers als Beispiel dienen können, damit sie aus Fehlern und Erfolgen des europäischen Nachbarn lernen und eine mittel- und langfristig wirkungsvolle, stimmige Politik verfolgen, mit der sie sich gesichert einer Globalisierung stellen können, die in einigen Fällen schwere Verwerfungen in der Landwirtschaft hervorgerufen hat; dabei kann gerade der Agrarsektor in den internationalen Verhandlungen wegen seiner Bedeutung für das Bruttoinlandsprodukt eines Landes nicht wie ein beliebiger anderer Wirtschaftszweig behandelt werden.

3.13   Bis in die jüngste Zeit genoss die Landwirtschaft keine vorrangige Stellung in der Politik der Mittelmeer-Drittstaaten; die im Rahmen der Zusammenarbeit gewährten Mittel der EU und internationaler Organisationen flossen in andere Sektoren (7), worin ein kurzsichtiger Ansatz zum Ausdruck kam, der die landwirtschaftliche Entwicklung dieser Länder beeinträchtigt hat. In den letzten Jahren hat sich bei den Politikern ein Sinneswandel vollzogen.

3.14   Die Nahrungsmittelkrise von 2008 mit dem Anstieg der Grundstoffpreise und den Befürchtungen angesichts der Liberalisierung hat die Behörden der nationalen und regionalen Ebene aus ihrer Lethargie erwachen lassen, die ihr übliches agrarpolitisches Denken, das auf der Vervielfachung der Produktion und der Konzentration auf den Agrarexport beruhte, neu auszurichten begannen.

3.15   Die agrarpolitische Strategie der Regierungen des Mittelmeerraums sollte auf die Förderung einer Landwirtschaft gerichtet sein, die Qualität, Mehrwert und bessere Vermarktung obenan stellt. Der Gedanke ist klar und wird auch von allen Akteuren im Mittelmeerraum geteilt, doch die harte Realität zeigt, dass der Mangel an Finanzmitteln eine schwer abzuschüttelnde Bürde ist.

3.16   Ausbildung, technische Unterstützung und Forschung sind die Grundbestandteile einer künftigen Agrarpolitik, die in den Mittelmeerländern durchzuführen wäre. Das Zusammenwirken dieser Faktoren würde dazu beitragen, die Position der Landwirtschaft im Mittelmeerraum und ihre Lebensfähigkeit zu verbessern, um die Nahrungsmittelversorgung zu sichern, die Armut zu bekämpfen und die Landflucht zu stoppen.

3.17   Trotz vollmundiger Erklärungen zugunsten der Agrarforschung haben viele Länder des Mittelmeerraums bisher nicht den nötigen politischen Willen zur Schaffung einer dafür geeigneten Gesetzeslage erkennen lassen. Die Forschungsanstrengungen müssen intensiviert werden, um die Anbaumethoden zu verbessern und durch einen Qualitätssprung neue Marktnischen zu finden. Heute muss ein Hektar wegen des Bevölkerungswachstums dreimal mehr Menschen ernähren als noch vor 40 Jahren. Technische Neuerungen müssen für eine Erhöhung der Produktivität nutzbar gemacht werden, und die Biotechnologie kann einen entscheidenden Beitrag zu einer ertragreicheren, umweltschonenderen Landwirtschaft leisten (8). Die Forschung wird in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen staatlicher und privater Initiative stärken und die Koordinierung unter den Organismen verbessern müssen, so dass sie den grundlegenden, realen Erfordernissen der Landwirtschaft und der Landwirte gerecht werden kann.

Der „Grüne Plan“ Marokkos: ein Mittel zur Lösung der Probleme in der Landwirtschaft

3.18   Ein gutes Beispiel für diesen Einstellungswandel ist der Grüne Plan, den Marokko im April 2008 vorlegte und der eine interessante neue Agrarstrategie im Maghreb veranschaulicht. Dieser Plan soll die Landwirtschaft in 10 bis 15 Jahren zum Hauptmotor der marokkanischen Wirtschaft machen, wofür die öffentliche Hand erhebliche Investitionen tätigen will (9), die zwei großen Zielen dienen: einer modernen Landwirtschaft mit hoher Wertschöpfung und der Verbesserung der Einkommen der Kleinbauern.

3.19   Zur Verwirklichung dieser ehrgeizigen Ziele will die marokkanische Regierung Pläne auf regionaler Ebene ausarbeiten lassen, die sich um drei Arten von Projekten drehen sollen. Die erste Gruppe soll die Umstellung von einer auf Getreideanbau beruhenden Landwirtschaft auf Kulturen mit höherem Mehrwert und geringerer Wasserabhängigkeit erleichtern. Zweitens soll die Intensivlandwirtschaft dadurch verbessert werden, dass den Bauern neue Produktionstechniken vermittelt werden. Und drittens sollen die Regionalpläne zur Diversifizierung der Produktion und zur Aufwertung regionaler und lokaler Erzeugnisse beitragen.

Verlierer der Liberalisierung auf beiden Seiten des Mittelmeers

3.20   Auf regionaler Ebene werden die negativen Effekte der Liberalisierung besonders diejenigen europäischen Regionen hart treffen, die sich auf die Obst- und Gemüseerzeugung spezialisiert haben. Darunter befinden sich Regionen, die ohnehin schon zu den rückständigsten und am meisten benachteiligten Gebieten der EU gehören. Hierzu zählen u.a. beispielsweise Andalusien (Spanien), Thessalien (Griechenland), Kalabrien (Italien) und Norte-Douro (Portugal). Die von der Europäischen Kommission 2007 bei CIHEAM (10) in Auftrag gegebene Folgenabschätzung endet mit der bündigen Feststellung, dass „die negativen Konsequenzen des Prozesses nicht gleichmäßig in ganz Europa zu spüren sein, sondern sich auf einige ganz bestimmte Regionen konzentrieren werden, die die eigentlichen Verlierer der Liberalisierung sein werden“.

3.21   Die Kleinerzeuger in den südlichen Mittelmeerländern werden unmittelbar unter der stärkeren Öffnung des grenzüberschreitenden Handels leiden, denn da sie mit der kontinentalen Produktion ihrer nördlichen Mittelmeernachbarn nicht konkurrieren können, werden sie zur Aufgabe ihrer Produktion gezwungen sein. In diesem Liberalisierungskontext müssen die nötigen Instrumente vorgesehen werden, damit die Kleinerzeuger als diejenigen, die am meisten Schutz brauchen, einen Nutzen aus den neuen Abkommen haben. Einkommenssicherung und Förderung der Organisation und Modernisierung ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit müssen hier vorrangig sein.

3.22   Es sind Anstrengungen zur Umkehrung der gegenwärtigen gefährlichen Tendenz zu unternehmen, dass Großbetriebe, multinationale Unternehmen und ausländische Investoren die Hauptnutznießer dieses Prozesses sind. Die Vorzüge der Marktöffnung müssen in ausgewogener, gerechter Weise allen Gliedern der Produktionskette zugutekommen.

Die Organisation der Erzeuger gegenüber den neuen Vermarktungsstrukturen

3.23   In der EU besteht ein Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Marktbeteiligten der Lebensmittelkette, das den Erzeugern schwerwiegende Nachteile bringt, weil sie gegen die marktbeherrschende Stellung, die die großen Handelsketten in der Europäischen Union erlangt haben, nichts ausrichten können. Diese Gefahr einer Konzentration der großen Marktbeteiligten wird auch bei der Entwicklung der Landwirtschaft auf der Südseite des Mittelmeers bestehen. Die Bauern werden möglicherweise ihre Bindungen an den nationalen Markt verlieren und sich dem Diktat der großen Handelsketten unterworfen sehen.

3.24   Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft entsteht nicht nur daraus, unter den Gesichtspunkten Preis und Qualität besser zu produzieren. Wenn der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ mit Inhalt gefüllt werden soll, ist die Marketing- und Vertriebsstrategie von besonderer Relevanz. Angesichts der starken Zersplitterung der Erzeugerseite werden die Stärkung und Entwicklung von Formen der Angebotskonzentration, wie Erzeugervereinigungen, Genossenschaften und andere Formen des Zusammenschlusses, unzweifelhaft zu Pfeilern der neuen Strategie.

3.25   Die Organisation der Erzeuger in Genossenschaftsbewegungen ist nicht einfach. In den südlichen Mittelmeerländern bestehen immer noch zahlreiche Hemmnisse für die Entwicklung des Genossenschaftswesens in der Landwirtschaft, auch wenn es mehr und mehr Rechtsvorschriften gibt, die ihnen angemessene Entfaltungsbedingungen gewährleisten sollen. Einige der hauptsächlichen Probleme, vor denen Genossenschaften im Mittelmeerraum stehen, sind der Mangel an geeigneten Mitarbeitern für ein unternehmerisches Management der Genossenschaft, knappe Finanzen, sehr große Abhängigkeit von Staatshilfen, starre Rechtsvorschriften und schwieriger Marktzugang. Der Erfolg genossenschaftlicher Bewegungen setzt eine Lösung der genannten Probleme und ein neues, am Kollektiv orientiertes Denken voraus. Allerdings ist die erste Prämisse, die im gesamten Mittelmeerraum zu beachten ist, dass es den Bauern weiterhin möglich sein muss, ihre Landwirtschaft zu betreiben, und sie sich nicht zur Aufgabe dieser Wirtschaftstätigkeit gezwungen sehen.

3.26   Durch Kooperation und Organisation können die Bauern ihre Position verbessern und das wichtigste Handicap, ihre Zersplitterung, überwinden. Der Erfolg der marokkanischen Milchproduktionsgenossenschaft COPAG, die jährlich 170 Millionen Liter erzeugt und einen Anteil von 11 % an der nationalen Produktion hat, ist zu einem Vorbild für andere Sektoren geworden. Diese Genossenschaft erzeugt Mehrwert, verteilt die Beihilfen und garantiert ihren Mitgliedern einen Mindestpreis. Es gibt jedoch auch Länder wie den Libanon, in denen viele Genossenschaften nur deshalb gegründet werden, weil sie eine unumgängliche Voraussetzung für den Zugang zu den von den NGO initiierten Entwicklungsprogrammen sind; bleiben die Finanzspritzen aus, lösen sich die Kooperativen leider wieder auf und verschwinden.

3.27   In den südlichen Mittelmeerländern erfordern der Aufbau von Verbandsstrukturen und die Förderung des Vereinigungswesens die entschlossene Unterstützung vonseiten staatlicher Einrichtungen. Für die Beteiligung an Genossenschaften sind Anreize zu schaffen, damit sie zu einem für den Landwirt hilfreichen und lohnenswerten Instrument werden. Die Gründung einer Genossenschaft ist noch nicht gleichbedeutend mit Erfolg. Sie braucht Dynamik und den unternehmerischen Geist, sich dem Wettbewerb in einem globalisierten Markt zu stellen, so dass sie zur Sicherung der Einkommen ihrer Mitglieder beitragen und ihnen beim Zugang zu Betriebsmitteln, Dienstleistungen und Märkten helfen kann.

4.   Der gesellschaftliche Wandel in der Landwirtschaft im Mittelmeerraum

4.1   Der Freihandel mit Agrarerzeugnissen soll die gesellschaftliche Entwicklung unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten fördern und muss voll und ganz damit vereinbar sein. Der Ausschuss spricht sich für eine detaillierte Analyse der sozialen Kosten der Integration in die weltweiten Handelsströme aus, so dass die Wirkung dieses unaufhaltbaren Prozesses quantifiziert und schutzbedürftige Gruppen darauf vorbereitet werden können. Die nüchternen gesamtwirtschaftlichen Zahlen zeigen zwar, dass die Landwirtschaft im Handel der Mittelmeerländer nur ein relativ geringes Gewicht hat (7 % ihrer gesamten Ausfuhren und 9 % ihrer gesamten Einfuhren), doch ist die politische und soziale Bedeutung dieser Erzeugnisse in der Realität sehr viel größer.

4.2   Die soziale Fragilität in den ländlichen Gebieten des Mittelmeerraums schlägt sich in Armut, Arbeitslosigkeit, Mangel an Infrastrukturen, Landdegradation und einer anhaltenden Landflucht nieder. Ebenso wie es in den EU-Ländern geschah, wird die Anpassung an die Globalisierung in den Mittelmeerländern den Verlust an landwirtschaftlichen Vermögenswerten, die Entvölkerung der am stärksten benachteiligten Landstriche und einen höheren Migrationsdruck mit sich bringen.

4.3   Zur Abmilderung der unerfreulichen Folgen der Liberalisierung für den ländlichen Raum müssen die nationalen und regionalen Behörden eine entschlossene Politik der ländlichen Entwicklung auf den Weg bringen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Kleinbetriebe verbessert, den Bauern, die sich zur Aufgabe ihres Berufes gezwungen sehen, echte Beschäftigungsalternativen bietet und es den ländlichen Gebieten ermöglicht, gesichert die Umstellung eines für ihr sozioökonomisches Gefüge grundlegenden Wirtschaftsbereiches anzugehen. Die besorgniserregende Tendenz der Landflucht wird sich nur umkehren lassen, wenn Frauen und junge Leute erfolgreich in der Landwirtschaft Fuß fassen können.

Die Frauen und die Jugend: Faktoren des Wandels

4.4   Die Frauen und die Jugend werden in wenigen Jahren die wahren Künstler des Wandels in der Landwirtschaft im südlichen Mittelmeerraum sein. In der Mittelmeer-Strategie für eine nachhaltige Entwicklung wird auf die Entwicklung von Programmen gesetzt, durch die die Rolle der Frauen in den Entscheidungsprozessen und bei der Heranbildung neuer Führungspersönlichkeiten in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum gestärkt werden soll, denn mit ihrem Innovationsvermögen und ihrer zupackenden Art können sie Faktoren des Wandels sein.

4.5   Frauen übernehmen in der Landwirtschaft im Mittelmeerraum immer mehr Aufgaben. Schritt für Schritt wird ihre Funktion in der Landwirtschaft immer bedeutsamer, und sie haben noch ein enormes Potenzial, wenn man das beträchtliche Bevölkerungswachstum, die Umweltveränderungen und die Abwanderung der Männer der Region in städtische Zentren oder ertragreichere Landstriche bedenkt (11). Leider sind die amtlichen Statistiken spärlich und zeichnen nur ein unscharfes Bild der tatsächlichen Leistung der Frauen in der Landwirtschaft.

4.6   Im Mittelmeerraum sind interessante Initiativen zur Verbesserung der Situation der Frauen auf dem Lande entstanden. Mit Mitteln aus dem MEDA-Programm konnten Arganöl-Kooperativen von Frauen in Marokko finanziell unterstützt werden; ihr Modell hat sich auf andere Gebiete im Mittelmeerraum übertragen. Im Libanon hat das 2008 gegründete nationale Observatorium der Frauen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum (NOWARA) (12) dazu beigetragen, vielfältige Initiativen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung im Agrarbereich zu entwickeln und Programme und Tätigkeiten zu identifizieren, durch die Frauen einen besseren Zugang zu den Produktionsmitteln erhalten.

4.7   In der Landwirtschaft tätige Frauen werden von Land zu Land sehr unterschiedlich behandelt. Im Libanon arbeiten nur 3,4 % der Frauen in der Landwirtschaft, in Algerien ist die Situation ähnlich, die Beteiligung der Frauen an wirtschaftlichen Tätigkeiten ist sehr gering. In Ägypten hingegen sind 50 % der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte Frauen, wobei es ihnen jedoch nicht erlaubt ist, einen ererbten Hof selbst zu bewirtschaften. Noch schlimmer ist es in Syrien, wo soziale Konventionen sie in der Praxis zwingen, auf ihre Rechte am Land zu verzichten. Ein herausragender Fall ist Marokko, wo Frauen mit einem Anteil von rund 60 % stark in landwirtschaftliche Tätigkeiten eingebunden sind; in der Türkei beträgt dieser Anteil sogar 70 %. In diesen Ländern üben Frauen in erster Linie arbeitsintensive manuelle, nicht-mechanisierte Tätigkeiten aus. Die Frauen sind verantwortlich für die Ernte und die Lagerung von Nahrungsmitteln und beteiligen sich in erheblichem Umfang an Saat, Bewässerung, Schädlingsbekämpfung und Düngung.

4.8   Frauen, die in den südlichen Mittelmeerländern in der Landwirtschaft tätig sind, sehen sich einer Reihe erheblicher Handicaps gegenüber, die sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit behindern: hohe Analphabetenquote, niedriger Bildungsstand, nicht vergütete Arbeit, eingeschränkter Eigentumszugang, keine Beteiligung an der Beschlussfassung, schlechtere Arbeitsbedingungen als Männer, schwieriger Kreditzugang und natürlich religiöse und soziale Konventionen, die den Frauen das Entscheidungsrecht nehmen. Leider ist es bis zur Chancengleichheit von Männern und Frauen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum noch ein weiter Weg. Daher ist es unabdingbar, dass sich die Staaten des Mittelmeerraums dies zu einer vorrangigen Aufgabe machen (13).

5.   Die mediterrane Landwirtschaft angesichts des Klimawandels

5.1   Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien zeigen übereinstimmend, dass der Mittelmeerraum am stärksten vom Klimawandel betroffen sein wird. Die geografischen und klimatischen Bedingungen, unter denen die Landwirtschaft in diesen Gebieten betrieben wird, machen die mediterrane Landwirtschaft besonders anfällig für die schädlichen Folgen des Klimawandels, insbesondere in Anbetracht des Bevölkerungswachstums im Mittelmeerraum und der von der FAO hervorgehobenen Notwendigkeit einer Erhöhung der Lebensmittelproduktion. Die Folgen sind u.a.:

Verschwinden von Kulturen und Verlust an Artenvielfalt

Fortschreitende Desertifikation und Ausdehnung arider Gebiete

Auftreten neuer Schädlinge und Krankheiten

Sinkende Erträge und starke Produktionsschwankungen

Abnahme der Wasserressourcen.

5.2   Die Anpassung an den Klimawandel erfordert dringende Maßnahmen und wirkungsvolle Instrumente, die ein besseres Risikomanagement in der Landwirtschaft, die Entwicklung neuer, widerstandsfähiger Sorten, die fachliche Beratung in der bäuerlichen Alltagsarbeit und vorrangig die Unterstützung der Agrarwirtschaft durch Forschung und neue Technologien ermöglichen.

Die Wechselbeziehung Wasser-Landwirtschaft

5.3   Das vom Klimawandel am stärksten betroffene Element und der für die Entwicklung der Landwirtschaft im Mittelmeerraum ausschlaggebende Faktor wird ohne Zweifel das Wasser sein. Der EWSA hat sich mehrfach mit den Folgen einer Abnahme der Wasserressourcen in der Landwirtschaft beschäftigt (14) und wird nicht nachlassen darauf hinzuweisen, dass die staatliche Politik auf eine nachhaltigere Nutzung dieser Ressource gerichtet sein muss. Die Herausforderung besteht darin, weiterhin Wohlstand in Form von landwirtschaftlicher Produktion, Mehrwert, Beschäftigung usw. zu erzeugen und dabei mit weniger Wasser auszukommen.

5.4   Berechnungen von „Plan Bleu“ (15) zufolge wird die Wassernachfrage im Süden und Osten des Mittelmeers bis 2025 um 25 % steigen. Diese steigende Nachfrage wird in einer Situation befriedigt werden müssen, die durch die Knappheit und geringere Verfügbarkeit dieses kostbaren Guts gekennzeichnet ist. Nach Auffassung des EWSA darf sich die nachhaltige Bewirtschaftung des Wassers nicht allein auf eine Verringerung der Bewässerung stützen, sondern erfordert auch bessere Kontroll- und Modernisierungsmaßnahmen.

5.5   Für die mediterrane Landwirtschaft ist die Bewässerung von strategischer Wichtigkeit. In Ägypten wird die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche bewässert, Marokko will die bewässerte Fläche bis 2025 auf 450 000 Hektar erhöhen, Israel besitzt weltweit die größte technische Kapazität der Wasserbewirtschaftung für die Landwirtschaft und Tunesien konnte erfolgreich ein Programm für Bewässerungsmanagement durchführen, das bei der FAO und der Weltbank auf lobende Anerkennung stieß.

5.6   Die tunesische Regierung hat sich zur Umsetzung ihres strategischen Plans vorwiegend der öffentlich-privaten Partnerschaft bedient. Die Strategie umfasst die Vergabe von Nutzungsverträgen mit Anreizen für die Bauern, Programme zur besseren Nutzung der bewässerten Flächen, die die Umstellung auf Kulturen mit hohem Mehrwert und geringerem Wasserbedarf erleichtern, und die Zuteilung von Quoten für ein Einzugsgebiet oder ein Gebührensystem zur Kostendeckung. Die spanische Region Andalusien ist ein Beispiel für die Modernisierung der Bewässerung, denn in nur 30 Jahren ist es gelungen, den Wasserbedarf pro Hektar um 50 % zu senken.

5.7   Der EWSA sieht die dringende Notwendigkeit, moderne Techniken einzusetzen, die nicht nur der Wassereinsparung dienen, sondern einen bestmöglichen Gebrauch dieses Guts erlauben. Für die Wasserbewirtschaftung in der Landwirtschaft sind verschiedene Methoden zu prüfen, wie Anlagen zur lokalen Bewässerung, Wasserreinigung und –entsalzung, neue Infrastrukturen, dem Hydrostress genetisch besser angepasste Sorten, Nutzung nichtkonventioneller Wasserressourcen u.a.

Brüssel, den 18. Februar 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Heute umfasst die Union für den Mittelmeerraum neben den 27 EU-Mitgliedstaaten folgende Mittelmeerländer: Algerien, Marokko, Tunesien, Türkei, Ägypten, Israel, Palästinensische Gebiete, Syrien, Libanon, Jordanien, Kroatien, Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Monaco, Mauretanien sowie Libyen als Beobachter.

(2)  Eine der Aufgaben der regelmäßigen Konferenzen der Handelsminister des Europa-Mittelmeer-Raums ist es, den Handelsaspekten des Liberalisierungsprozesses einen politischen Impuls zu geben. Die letzte Ministerkonferenz fand im November 2009 im EWSA in Brüssel statt.

(3)  Der Sektor Obst und Gemüse steht für 16 % der landwirtschaftlichen Enderzeugung in der EU, wohingegen die Summe der Beihilfen bei unter 4,5 % der EAGFL-Ausgaben liegt.

(4)  Stellungnahme des EWSA „Die Gesundheitssicherstellung bei der Einfuhr von Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln“ (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 60).

(5)  Sustainability impact assessment, EU-Med Ag Pol.

(6)  Diese Angaben stammen aus der Studie „Defining a trade strategy for Southern Mediterranean Countries“. Antoine Bouet, International Food Policy Research Institute, 2006.

(7)  Von den gesamten MEDA-Mitteln, die den Mittelmeer-Partnerländern gewährt wurden, waren nur 5 % für die Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung bestimmt.

(8)  Stellungnahme des EWSA „Die EU und das weltweite Nahrungsmittelproblem“ (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 44).

(9)  In den kommenden zehn Jahren wird Marokko über die Agentur für landwirtschaftliche Entwicklung rund 150 Mio. Dirham für die Umsetzung der im Grünen Plan vorgesehenen Maßnahmen aufwenden.

(10)  Untersuchung über die Wirkung der Handelsliberalisierung zwischen der EU und den Mittelmeerländern, EU-MED AGPOL, ausgearbeitet von CIHEAM-IAM Montpellier.

(11)  Der Beitrag der Frau zur landwirtschaftlichen Erzeugung tritt insbesondere in den Gebieten deutlich hervor, die durch eine starke Migration in die städtischen Gebiete gekennzeichnet sind.

(12)  National Observatory for Women in Agriculture and Rural Areas, siehe auch www.nowaralebanon.org.

(13)  Siehe EWSA-Stellungnahme vom 12.6.2007 zur „Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeer-Raum“, CESE 1004/2007. Die Frage wurde auch auf der Zweiten Ministerkonferenz zur Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft am 11./12. November 2009 in Marrakesch erörtert.

(14)  Siehe dazu die EWSA-Stellungnahmen „Die Beziehungen zwischen dem Klimawandel und der Landwirtschaft in Europa“ (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 59), „Antworten auf die Herausforderung von Wasserknappheit und Dürre in der Europäischen Union“ (ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 67).

(15)  „Plan Bleu“ ist ein Zentrum für Zusammenarbeit im Bereich der Umwelt und der Entwicklung im Mittelmeerraum im Rahmen des Mittelmeer-Programms der Vereinten Nationen (UNEP/MAP).


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