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Document 52014AE4694

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Forschung und Innovation: Voraussetzungen für künftiges Wachstum (COM(2014) 339 final — SWD(2014) 181 final)

ABl. C 230 vom 14.7.2015, p. 59–65 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

14.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 230/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Forschung und Innovation: Voraussetzungen für künftiges Wachstum

(COM(2014) 339 final — SWD(2014) 181 final)

(2015/C 230/09)

Berichterstatter:

Gerd WOLF

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Juni 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Forschung und Innovation: Voraussetzungen für künftiges Wachstum

COM(2014) 339 final — SWD(2014) 181 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 19. November 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 503. Plenartagung am 10./11. Dezember 2014 (Sitzung vom 11. Dezember) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1.

Das von der Kommission dargelegte Ziel wird vom Ausschuss nachdrücklich unterstützt, desgleichen die dazu vorgeschlagenen Maßnahmen. Deren Durchführung liegt jedoch primär im Zuständigkeits- und Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten.

1.2.

Angesichts der unzureichenden Hebelwirkung der Kommission auf die diesbezügliche Politik der Mitgliedstaaten appelliert der Ausschuss an den guten Willen, die konstruktive Haltung und die Entscheidungskraft aller beteiligten Akteure, dieser dringenden, aber schwierigen Aufgabe Vorrang einzuräumen und sie hartnäckig und ohne zusätzliche bürokratische Mechanismen zum Erfolg zu führen.

1.3.

Aus Sicht des Ausschusses sind dabei folgende Aufgaben vorrangig:

Exzellente Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sowie Innovationszentren aufbauen und weiter stärken; sich dabei am Beispiel der bisher Erfolgreichsten orientieren. Die universitäre Ausbildung, Ausstattung und Einbindung diesem Ziel anpassen.

Grundlagenforschung als Saatgut für zukünftige Innovationen ausreichend und nachhaltig fördern.

Die gesellschaftliche Grundhaltung auf Förderung, Akzeptanz und Belohnung von Innovationen ausrichten. Dem entgegenstehende administrative, wirtschaftliche und gesellschaftliche Hindernisse identifizieren, bewerten und, soweit angebracht, abschwächen oder ganz beseitigen.

KMU, Firmen-Neugründungen und Unternehmen der Sozialwirtschaft als Hauptpfeiler jeder wirksamen Innovationspolitik ausreichend fördern und schützen.

Den Europäischen Forschungs- und Innovationsraum vollenden.

Einen attraktiven und stabilen europäischen Arbeitsmarkt für Forscherinnen und Forscher schaffen und die spezifischen sozialen Nachteile endlich wirksam beseitigen.

1.4.

Für detaillierte Erläuterungen verweist der Ausschuss auf die nachfolgenden Kapitel.

2.   Inhalt der Mitteilung der Kommission (sehr stark verkürzt)

2.1.

Die Mitteilung gilt dem Bemühen, das Potenzial von Forschung und Innovation (FuI) — des notwendigen Motors für erneutes Wachstum — spürbar zu steigern. Dies soll durch eine höhere Qualität der zur Haushaltskonsolidierung nötigen Investitionen erreichbar werden, welche im Rahmen der wachstumsfördernden Strategien der Mitgliedstaaten zu tätigen sind.

2.2.

Dazu schlägt die Kommission vor:

i)

Dem Konzept der wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung folgend, müssen die Mitgliedstaaten vorrangig wachstumsfördernde Ausgaben, vor allem für FuI, tätigen.

ii)

Diese Investitionen müssen mit Reformen einhergehen, um die Qualität, Effizienz und Wirkung der öffentlichen Ausgaben und Unternehmensinvestitionen in FuI zu erhöhen.

iii)

Hierbei sollen sich die Mitgliedstaaten auf drei wichtige Reformachsen konzentrieren:

die Qualität der Strategieentwicklung und der politischen Entscheidungsfindung;

die Qualität der Programme und Fördermechanismen;

die Qualität der FuI-Einrichtungen.

2.3.

Dabei will die Kommission die Mitgliedstaaten unterstützen und auf die Erfahrungen aus der Leitinitiative (1) der Innovationsunion und des Europäischen Forschungsraums zurückgreifen.

2.4.

Zudem ist es unerlässlich, das Innovationsökosystem im weitesten Sinne zu stärken und dazu geeignete Rahmenbedingungen für die europäischen Unternehmen zu schaffen.

2.5.

Seit dem Start der Innovationsunion wurden zwar deutliche Fortschritte erzielt. Dennoch bedarf es noch weiterer Anstrengungen, um

den Binnenmarkt zu vertiefen,

den Zugang zur Finanzierung zu erleichtern und zu diversifizieren,

die Innovationskapazität des öffentlichen Sektors zu stärken,

krisenfeste Arbeitsplätze in wissensintensiven Bereichen zu schaffen,

eine Humanressourcenbasis mit innovativen Fähigkeiten zu entwickeln,

die Pionierforschung zu fördern,

die externe Dimension der FuI-Politik zu stärken und

Wissenschaft und Innovation in der Gesellschaft stärker zu verankern.

2.6.

Die Kommission ersucht den Rat, dieses Thema im Sinne ihrer Mitteilung und ihrer Vorschläge aufzugreifen.

3.   Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses

3.1.

Verwoben mit dem historischen Prozess der Aufklärung (2), haben Forschung und Innovation innerhalb eines kurzen Zeitraums der Menschheit den größten Zuwachs an Wissen, Gesundheit, technischen Fähigkeiten und Wohlstand beschert, der je erreicht worden ist; sie sind der Motor für weiteres Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt.

3.2.

Dies haben auch die Staaten außerhalb Europas erkannt. Darum verschärft sich der globale Wissens- und Innovationswettbewerb zunehmend. Inzwischen werden vor allem auch in Asien bedeutende wissenschaftlich-technologische Zentren aufgebaut sowie Forschungsausgaben und Innovationskapazitäten mit großer Dynamik weiter verstärkt.

3.3.

Das in der Mitteilung der Kommission dargelegte Ziel und die dazu vorgeschlagenen Maßnahmen werden vom Ausschuss nachdrücklich unterstützt; sie entsprechen seinen stetig wiederholten Empfehlungen (3).

3.4.

Umso dringlicher ist daher die Frage nach der Durchsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen und der dazu verfügbaren Mittel. Wie von der Kommission dargelegt, liegen die betreffenden Probleme und die zu lösenden Aufgaben vor allem in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

3.5.

Um seitens der Kommission finanziell und zielgerichtet auf die Forschungs- und Innovationspolitik der Mitgliedstaaten einzuwirken, stehen primär die Mittel des Programms Horizont 2020 zur Verfügung. Wie vom Ausschuss wiederholt angemahnt, können diese Mittel nur eine schwache Hebelwirkung entfalten.

3.6.

Der Ausschuss appelliert daher an den guten Willen, die konstruktive Haltung und die Entscheidungskraft aller beteiligten Akteure, dieser dringenden Aufgabe Vorrang einzuräumen und sie schrittweise, hartnäckig und ohne zusätzliche bürokratische Mechanismen zum Erfolg zu führen.

3.7.

Dazu ist es notwendig, alle Mitgliedstaaten Europas weiter voranzubringen. Insbesondere geht es darum, in allen Mitgliedstaaten, insbesondere in den auf diesem Gebiet weniger fortgeschrittenen, moderne exzellente Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und Innovationszentren aufzubauen und zu stärken sowie die universitäre Ausbildung und Ausstattung diesem Ziel anzupassen. Europa braucht Universitäten von Weltrang. Darum sind Universitäten und Forschungszentren als Quelle innovativer Personen und Ideen bevorzugt zu fördern.

3.8.

Dies erfordert vor allem, dass dort entsprechende Strukturreformen (einschließlich internationaler Qualitätsbewertung) erfolgen und dass auch die Mittel aus dem EU-Strukturfonds und Kohäsionsfonds zielgerichtet für diese Aufgabe vergeben und eingesetzt werden; dies muss von der Kommission gefordert und nachverfolgt werden. Dadurch können Synergien freigesetzt und die Innovationskluft innerhalb Europas verringert werden.

3.9.

Wo ein modernes und erfolgreiches Wissenschafts- und Forschungssystem nicht bereits besteht, muss es im Austausch von Erfahrungen und im Lernprozess der „best practices“ aufgebaut werden. Dazu sind hervorragende und erfahrene Leistungsträger zu berufen, denen Eigenverantwortung, Freiraum und ausreichende, verlässliche Mittelausstattung zugebilligt und zur Verfügung gestellt wird. Hier kann auch das partnerschaftliche Konzept „Twinning of Excellence“ eine fruchtbare Rolle spielen, bei dem bereits existierende Exzellenz-Cluster eine Partnerrolle übernehmen.

3.9.1.

Der Ausschuss warnt jedoch vor einem Übermaß an Vereinheitlichung und dem damit verbundenen Verlust des systemischen Wettbewerbs als dem notwendigen Nährboden für zukünftige Innovationen. Dementsprechend warnt er auch vor zu formalisierten Bewertungskriterien. Demgegenüber ist „International Peer Review“ die beste verfügbare und unverzichtbare Maßnahme, um die erforderliche Qualität von FuE europaweit zu bewerten und zu gewährleisten, trotz möglicher Schwächen bei der Beurteilung revolutionärerer Ideen.

3.10.

Allerdings ist die Zeitspanne von FuI-Investitionen bis zum Erfolg der entstandenen Innovationen zuweilen außerordentlich lang, und der kausale Zusammenhang ist daher besonders schwer vorherseh- und bewertbar.

3.11.

Dennoch hat sich schon seit Langem herausgestellt, dass Wirtschaftskraft und Wohlstand eines Staates, soweit sie nicht primär auf der Verfügbarkeit von Rohstoff-Ressourcen beruhen, besonders mit dessen Investitionen in FuI und seiner resultierenden Innovationskraft korreliert sind.

3.12.

Vor diesem Hintergrund braucht Europa einen leistungsfähigen, offenen und für die besten Talente aus aller Welt attraktiven gemeinsamen Forschungsraum, der seine Einwanderungspolitik danach ausrichtet und in dem die ihn tragenden nationalen Wissenschaftssysteme auf europäischer Ebene effektiver zusammenarbeiten und sich nach außen stärker mit den erfolgreichsten internationalen Einrichtungen vernetzen.

3.13.

Desgleichen benötigt Europa politische Anstrengungen und eine gesellschaftliche Grundhaltung, die auf die Förderung, Akzeptanz und Belohnung von Innovationen ausgerichtet ist und die Voraussetzungen für ein engagiertes Unternehmertum schafft. Dies erfordert unter anderem, dagegenstehende administrative, wirtschaftliche und gesellschaftliche Hindernisse zu identifizieren, zu bewerten und, soweit angebracht, abzuschwächen oder zu beseitigen, also das Innovationsökosystem zu verbessern und zu stärken.

3.14.

Dies erfordert eine Forschungs- und Innovationspolitik der EU-Mitgliedstaaten, die nationale Aktivitäten mit europäischen und internationalen Initiativen verzahnt und zu einem Zusammenwirken von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auch auf europäischer Ebene führt, zugleich aber auch mit lokalen oder regionalen Initiativen vernetzt ist.

3.15.

Denn neben der mit öffentlichen Mitteln finanzierten FuI sind es vor allem jene Unternehmen, die ihrerseits maßgeblich in Forschung und Entwicklung investieren, die dann auch mit neuen Produkten, Dienstleistungen und Verfahren im Markt erfolgreich sind. Diese Unternehmen, einschließlich der Unternehmen der Sozialwirtschaft, tragen entscheidend dazu bei, Europas Stellung auf den Weltmärkten durch Innovationen zu sichern und in Europa Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu erhalten.

3.16.

Dies trifft leider nicht für alle großen Firmen zu. Eine Ursache kann eine systembedingte Scheu des Managements gegenüber den mit sog. „disruptive technologies“ verbundenen Marktrisiken (4) sein. Das Flugzeug wurde eben nicht von der Schiffs- oder Eisenbahnindustrie erfunden und weiterentwickelt, und die von Microsoft und Apple entwickelten Innovationen wurden eben nicht von den zuvor den Markt beherrschenden Elektro- und Elektronik-Konzernen getätigt.

3.17.

Darum kommen neue Ideen häufig von unternehmerischen Persönlichkeiten und interdisziplinären Teams oder gar von Außenseitern oder werden von diesen vermarktet. Daher nehmen die KMU, Firmen-Neugründungen und Unternehmen der Sozialwirtschaft eine besonders wichtige Rolle ein. Diese ausreichend zu fördern und zu schützen muss daher ein Hauptpfeiler jeder wirksamen Innovationspolitik sein.

3.18.

Wie bereits ausführlich in der Stellungnahme zur Innovations-Union (5) dargelegt, liegt zudem ein großes Potenzial für Innovationen in der gesamten Bandbreite der zwischenmenschlichen Beziehungen und Organisationsformen einschließlich der Unternehmen der Sozialwirtschaft. Diese umfassen den gesamten Bereich wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Handelns, wie er in den übrigen Kapiteln angesprochen wird. Dabei müssen Innovationen nicht notwendig das Produkt systematischer Forschung und Entwicklung sein, sondern können sich aus der Feldarbeit und den dortigen Erfahrungen entwickeln. Sie betreffen unter anderem:

innovative Arbeitsplätze;

Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern und den Vertretern der Zivilgesellschaft;

soziale Innovationen, welche jenen Bedürfnissen Rechnung tragen, die vom Markt oder dem öffentlichen Sektor nicht angemessen berücksichtigt werden;

Rolle der Arbeitnehmer als Wissens- und Ideenquelle.

Der Ausschuss befürwortete erneut (6) das Ziel der Europäischen Kommission, derartige Innovationen in umfassender Breite zu fördern.

4.   Besondere Bemerkungen des Ausschusses

4.1.

Der Ausschuss wiederholt, dass zwischen Forschung und Innovation zwar starke wechselseitige Verknüpfungen bestehen, dass aber dennoch Forschung und Innovation unterschiedliche Charakteristika aufweisen und in unterschiedlichen Arbeitsbedingungen (7) gedeihen. Es geht darum, diese verschiedenen Arbeitsbedingungen in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen, aber gleichzeitig bestmöglich zu vernetzen.

4.2.

Bezüglich des Einsatzes öffentlicher Mittel — also jener Finanzmittel, welche aus den Steuergeldern der Bürger und Wirtschaft stammen und durch demokratische Prozesse gelenkt werden — hat der Ausschuss kürzlich (8) klargestellt, dass sich jedwede Förderung seitens der Kommission (welche ja aus öffentlichen Mitteln stammt) auf jene Aufgaben konzentrieren sollte, die für eine Förderung aus privaten Mitteln weniger in Frage kommen. Typische Gründe dafür können sein:

Es besteht ein hohes Entwicklungsrisiko, dem bei Erfolg auch ein großer Nutzen gegenübersteht.

Die entstehenden Kosten sind sehr hoch und können nur gebündelt aus vielen öffentlichen Quellen getragen werden.

Die Zeitspanne, bis daraus ein verwertbarer Nutzen entstehen kann, ist zu lang.

Es handelt sich um Querschnitts- oder Schlüsseltechnologien (z. B. neuartige Materialien).

Das Ergebnis ist nicht ohne Weiteres vermarktbar, aber es handelt sich um eine allgemeine soziale oder umweltbedingte Notwendigkeit.

4.3.

Bezüglich der Förderung von Forschung und Entwicklung fasst der Ausschuss seine Position wie folgt zusammen. Sie sollte:

Grundlagenforschung ausreichend fördern, und zwar sowohl für weitere und vertiefte Naturerkenntnis als auch als Nährboden für neue Ideen und grundlegende Innovationen. Dies darf keinesfalls auf den vom ERC betreuten Programmteil in Horizont 2020 beschränkt werden, sondern ist auch in allen übrigen Programmteilen ausreichend zu gewichten;

die Freiheit von Wissenschaft und Forschung respektieren und schützen;

Exzellenz wie bisher als oberstes Bewertungskriterium bei der Vergabe von Forschungsaufträgen anwenden;

länderübergreifend zusammenarbeiten und Kapazitäten bündeln;

einen offenen und attraktiven europäischen Arbeitsmarkt für Forscherinnen und Forscher schaffen — die durch zu viele Zeitverträge und staatenübergreifende Mobilität verursachten sozialen Nachteile endlich wirksam beseitigen oder kompensieren;

Rahmenbedingungen und administrative Regeln nach den Bedürfnissen einer leistungsfähigen Wissenschaft ausrichten;

für einen optimalen Austausch von, Zugang zu und Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen sorgen (9);

die internationale Dimension des Europäischen Forschungsraums stärken.

4.3.1.

Der Ausschuss wiederholt seine Mahnungen (10), jene sozialen Risiken und Nachteile von Forschern endlich wirksam zu beseitigen, welche sich aus der notwendigen und erwünschten staatenübergreifenden Mobilität sowie aus dem Mangel an stabilen Arbeitsplätzen ergeben. Darum begrüßt er die jüngste Initiative (RESAVER) der Kommission (11), die Mobilität der Forscher in Europa durch eine neue, gesamteuropäische Rentenregelung zu erleichtern. Sie soll den Forschenden die Möglichkeit bieten, von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu wechseln, ohne sich Sorgen über die Wahrung ihrer Rentenansprüche machen zu müssen. Der Ausschuss sieht hierin einen Schritt in die richtige Richtung, ohne hier bereits die Eignung des gewählten Ansatzes beurteilen zu können.

4.3.2.

Der Ausschuss geht in dieser Stellungnahme nicht auf die spezifischen Forschungsthemen ein, da Letztere in seiner Stellungnahme zum Programm Horizont 2020 ausführlich behandelt wurden. Er wiederholt, dass auch diesbezüglich eine ausreichende Hebelwirkung auf die Programmziele der Mitgliedstaaten vonnöten ist.

4.4.

Bezüglich der Förderung von Innovationen fasst der Ausschuss seine Position wie folgt zusammen. Innovationen entstehen in der Regel:

zur Lösung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Herausforderungen oder zur Beseitigung von Mängeln — seien sie mehr technischer oder mehr sozialer Art;

im Zuge der Produkt-Entwicklung oder -Verbesserung mit dem Ziel einer Qualitäts- oder Absatzsteigerung;

aus neuen Erkenntnissen der Grundlagenforschung, um bereits bekannte Probleme besser lösen zu können;

als Ergebnis neuer Ideen, um völlig neue Möglichkeiten z. B. der Fortbewegung (Flugzeug), der Navigation (GPS) oder der Kommunikation und Arbeitserleichterung (Internet) zu schaffen;

um vordem gar nicht erkannte Bedürfnisse zu befriedigen;

als Werkzeug für oder als Nebenprodukt der Forschung. Dabei kann es sich z. B. um neue Schlüsseltechnologien handeln. Ein markantes Beispiel ist das „World Wide Web“, welches von CERN (12), einem der Leuchttürme europäischer Forschung und Forschungsinitiativen, entwickelt wurde, um die mit dem Zentrum in Genf kooperierenden Universitäten und Forschungseinrichtungen an die Forschungsdaten heranzuführen und mit dem Forschungsprogramm zu vernetzen. Dessen enormes wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial wurde innerhalb Europas leider nicht schnell genug erkannt und genutzt. Es ist in seinem Umfang bis heute nicht vollständig abzuschätzen.

4.5.

Dabei können diese Ideen häufig erst durch Gründung neuer Firmen in Innovationen und innovative Produkte umgesetzt werden. Darum ist es eine der wichtigsten politischen Maßnahmen der Innovationsförderung, die Gründung solcher junger Firmen und deren Bestand während der kritischen ersten z. B. fünf bis zehn Jahre zu unterstützen und zu erleichtern.

4.6.

Obwohl Innovationen der menschlichen Gemeinschaft im Ganzen bisher immer genützt und so entscheidend zu Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit beigetragen haben, stehen ihnen manchmal starke gesellschaftliche und wirtschaftliche Hindernisse entgegen. Denn das Neue wird in Wirtschaft, Handel, Gesellschaft und Politik zunächst häufig auch als Bedrohung empfunden.

4.7.

In der Tat können Innovationen zu wirtschaftlichen oder auch gesellschaftlichen Umbrüchen führen, die einzelne Branchen und Firmen verdrängen, zunächst Arbeitsplätze vernichten oder herrschende gesellschaftliche Klassen schwächen, und die erst längerfristig ihr für die Gesamtheit nützliches und fruchtbares Potenzial voll entfalten. Beispiele sind der mechanische Webstuhl, die Einführung der Sozialpartnerschaft, Gentechnik, Google, Amazon oder die Einführung von Techniken zur Nutzung erneuerbarer Energie. Zudem kann die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft (Amortisations-Zyklen) durch zu schnelle, innovationsbedingte Umbrüche überfordert werden.

4.8.

Die daraus resultierende Besorgnis einzelner gesellschaftlicher Gruppen hat die Kommission veranlasst, den Begriff „Responsible Research and Innovation“ (13) einzuführen (14). Angesichts der entscheidenden Leistungen von Forschung und Innovation als Motor und Basis des heutigen Lebens- und Wissensstandards sowie als maßgeblicher Nährboden des historischen Prozesses der Aufklärung, aus welchem die entscheidenden Gedanken und Ideen der Menschenrechte und der staatlichen Gewaltenteilung hervorgegangen sind, hält der Ausschuss diesen Begriff jedoch für irreführend und einseitig. Er empfiehlt daher, seine Auswirkung auf die gesellschaftliche Wertschätzung von Forschung und Innovation zu überdenken.

4.8.1.

Selbstverständlich müssen Forschung und Innovation den herrschenden Gesetzen sowie ethischen Grundsätzen folgen.

4.8.2.

Obige Forderung gilt aber auch für alle anderen Tätigkeiten gesellschaftlichen Handelns, sei es in Medizin, Wirtschaft, Journalistik, Gesetzgebung, Politik oder Rechtsprechung. Der Ausschuss hält es daher nicht für angebracht, den Begriff des verantwortlichen Handelns ausschließlich und explizit bei FuI zu verankern.

4.9.

Neben diesen mehr grundsätzlichen Hindernissen ist es aber auch die heute von Unternehmen geforderte Beachtung der vollen und innerhalb Europas zudem fragmentierten Regelungsdichte, die innovativen Firmengründern neben der kritischen Finanzierungsfrage die meisten Schwierigkeiten bereitet.

4.9.1.

Darum wiederholt der Ausschuss seine Empfehlung (15), für Firmen-Neugründungen, soweit sie dabei unterhalb einer kritischen Größe liegen, während einer angemessenen Frist eine Karenzzeit und einen Freiraum zu schaffen. Dies könnte durch eine Ausnahmeklausel erfolgen, welche diese Firmen während dieses Zeitraums von den meisten der sonst üblichen jeweiligen administrativen Auflagen und Vorschriften aller Arten befreit, um zunächst ihre wirtschaftlich-technische Erfolgschance zu demonstrieren.

4.10.

Wie in früheren Stellungnahmen betont, auf die er bezüglich weiterer ausführlicher Empfehlungen — z. B. auch zu sozialen Innovationen — explizit verweist, unterstützt der Ausschuss daher ausdrücklich das Ziel der Kommission, „das Innovationsökosystem im weitesten Sinne zu stärken und geeignete Rahmenbedingungen als Innovationsanreiz zu schaffen“. Dies bedeutet insbesondere, Innovationshindernisse zu erkennen und zu beseitigen.

4.10.1.

So können sich zu detaillierte technische Vorschriften und Einschränkungen als einengendes Korsett und Innovationshindernis entpuppen. Dies sollte z. B. bei den ins Einzelne gehenden Vorschriften der Energieeffizienz-Initiative der Kommission bedacht werden.

4.10.2.

Diese dahingehenden Bemühungen müssen dem Ziel gelten, den Wohlstand, die Gesundheit und die Sicherheit der Bürger und Verbraucher auch in Zukunft bestmöglich und nachhaltig zu gewährleisten.

4.10.3.

Auch sollte anhand historischer Beispiele geprüft werden, ob eine zu strikte Auslegung des Vorsorgeprinzips, z. B. im Verbraucherschutz oder bei der Entwicklung neuer medizinischer Verfahren, den Wagemut nach neuen, wirksamen Lösungen beeinträchtigen kann.

4.11.

Nach Meinung des Ausschusses erfordert dies — trotz unbestreitbarer europäischer Erfolge in Forschung und Entwicklung sowie in vielen Wirtschaftszweigen — allerdings nicht nur die Vollendung des Binnenmarkts und des Europäischen Forschungsraums, sondern auch eine Analyse der tieferen Gründe, warum in Europa eine im Vergleich z. B. zu den USA oder einigen asiatischen Staaten weniger innovationsfreundliche Grundhaltung vorherrscht. Warum sind Google, Microsoft, Facebook oder Monsanto keine europäischen Firmen? Oder gar ein „besseres“ Google oder Monsanto, eines, das den Besorgnissen der Bürger besser entspräche und im Einflussbereich europäischer Politik gewachsen wäre?

4.12.

Es geht also um eine gesellschaftliche Grundeinstellung, die Innovationen nicht primär als Risiko oder gar Bedrohung sieht, sondern als Chance für weiteren Fortschritt, für zusätzliche Arbeitsplätze, für die europäische Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit, für die Gestaltung des europäischen Gesellschaftsmodells. Wir benötigen eine neue, bessere Balance zwischen Vorsicht und Wagnis, zwischen kleinen Risiken und großen Gefahren, zwischen Regulierung und Freiraum.

Brüssel, den 11. Dezember 2014

Der Präsidentdes Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  KOM(2010) 546 endgültig.

(2)  Science as Public Culture — Jan Golinski — Cambridge University Press.

(3)  Z. B. ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39. ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111. ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 88. ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 31. ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 43. ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 35. ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 132.

(4)  Siehe z. B. Clayton M. Christensen, „The Innovator's Dilemma“, Harper Business.

(5)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39.

(6)  Fußnote 3.

(7)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8.

(8)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 132.

(9)  Siehe ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8.

(10)  Siehe dazu ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 3, und erneut ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 31.

(11)  Pressemitteilung der Kommission vom 1. Oktober 2014.

(12)  http://home.web.cern.ch/topics/birth-web

(13)  COM: Towards Responsible Research and Innovation in the Information and Communication Technologies and Security Technologies Fields-ISBN 978-92-79-20404-3.

(14)  Z. B. www.consider-project.eu.

(15)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39.


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