EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 17.7.2019
COM(2019) 343 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN EUROPÄISCHEN RAT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN
Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union
Ein Konzept für das weitere Vorgehen
I.
EINLEITUNG
Die Europäische Union stützt sich auf gemeinsame Werte, zu denen die Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören. Sie sind das Fundament unserer Gesellschaften und unserer gemeinsamen Identität. Für eine starke Demokratie sind unabhängige Gerichte, die den Schutz der Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten garantieren, eine aktive Zivilgesellschaft und freie Medien, die Pluralismus gewährleisten, unverzichtbar. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein fest verankerter Grundsatz, der im Kern klar definiert ist. Diese Kernbedeutung ist trotz der unterschiedlichen nationalen Identitäten, Rechtssysteme und -traditionen, die die Union zu achten hat, in allen Mitgliedstaaten gleich.
Sie bedeutet, dass jegliche öffentliche Gewalt in den Grenzen von Recht und Gesetz und im Einklang mit den Werten der Demokratie und den Grundrechten unter der Kontrolle unabhängiger und unparteiischer Richter ausgeübt wird. Diese Rechtsstaatlichkeit wirkt sich unmittelbar auf das Leben aller Bürgerinnen und Bürger aus: Sie ist eine Grundvoraussetzung für die Gewährleistung der Gleichbehandlung vor dem Gesetz und den Schutz individueller Rechte, die Verhinderung von Machtmissbrauch durch Behörden und die Rechenschaftspflicht der Entscheidungsträger. Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist auch unerlässlich, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentlichen Institutionen zu stärken. Ohne solches Vertrauen können demokratische Gesellschaften nicht funktionieren. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, dass Rechtsvorschriften verantwortungsvoll festgelegt und gerecht angewandt werden und dass sie sich als wirksam erweisen. Wie vom Europäischen Gerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt wurde, gehören dazu auch institutionelle Fragen, u. a. die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Gerichten und die Gewaltenteilung
. In den jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs wurde erneut betont, dass die Rechtsstaatlichkeit eine zentrale Rolle für die Rechtsordnung der EU spielt.
Das europäische Projekt beruht auf der grundsätzlichen Achtung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die wirksame Anwendung des EU-Rechts und gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Rechtsstaatlichkeit ist auch von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Europäischen Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie als Binnenmarkt, in dem Gesetze wirksam und einheitlich angewandt und öffentliche Mittel ordnungsgemäß ausgegeben werden. Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit stellen daher auch die rechtliche, politische und wirtschaftliche Grundlage der Arbeitsweise der EU infrage. Deshalb ist die Stärkung und Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ein zentrales Anliegen der Europäischen Kommission als Hüterin der Verträge. Die mangelnde Achtung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat hat Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten und die EU insgesamt, und so ist die Mitwirkung der Union als Ganzes an der Lösung solcher Probleme gefragt, wo immer sie auftreten.
Obschon grundsätzlich vorausgesetzt wird, dass alle Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit jederzeit achten, haben die jüngsten Rechtsstaatlichkeitsprobleme in einigen Mitgliedstaaten gezeigt, dass dies nicht als selbstverständlich angesehen werden kann, und sie haben die Frage aufgeworfen, ob die Union für den Umgang mit solchen Situationen gewappnet ist. Zahlreiche Fälle, die in der jüngsten Vergangenheit Auswirkungen auf EU-Ebene hatten, drehten sich um das zentrale Thema der Unabhängigkeit von Gerichtsverfahren. Andere Fälle betrafen die geschwächten Verfassungsgerichte, den verstärkten Rückgriff auf Eilverordnungen oder wiederholte Angriffe vonseiten einer Staatsgewalt gegen eine andere. Generell lässt sich feststellen, dass Korruption und Amtsmissbrauch auf hoher Ebene häufig im Zusammenhang mit Situationen vorkommen, in denen politische Kräfte den Rechtsstaat auszuhebeln trachten, und Versuche, den Pluralismus zu beschränken und wichtige Kontrollinstanzen wie die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu schwächen, Warnzeichen für eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit darstellen.
In ihrer Mitteilung vom 3. April 2019 hat die Europäische Kommission einen Überblick über das derzeitige Instrumentarium zur Bewältigung von Herausforderungen für die Rechtsstaatlichkeit in der Union vorgelegt und die Debatte über eine mögliche Stärkung angestoßen. Die Organe und Einrichtungen der EU, die Mitgliedstaaten, internationale Organisationen, justizielle Netze, die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft haben an den Gesprächen teilgenommen und wertvolle Beiträge geleistet. Dabei wurde sehr deutlich, dass der Rechtsstaatlichkeit und der notwendigen Stärkung des EU-Instrumentariums für ihren Schutz große Bedeutung beigemessen wird. Dies spiegelt die wachsende Besorgnis über Fragen der Rechtsstaatlichkeit in den Organen der EU wider.
Im Mai 2019 haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in Sibiu einstimmig verpflichtet, „unsere Lebensweise, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit weiter zu schützen“. Der Europäische Rat hat diese Verpflichtung von Sibiu in seiner am 21. Juni 2019 angenommenen strategischen Agenda bekräftigt. Darin wird gefordert, Fragen der Rechtsstaatlichkeit im Europäischen Rat und im Rat höhere Priorität einzuräumen. Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit hat in den Debatten des Europäischen Parlaments in der Wahlperiode 2014-2019 sowie in den Programmen der Ratsvorsitze eine vorrangige Rolle eingenommen. Sie war außerdem ein wichtiges Thema im Wahlkampf zur Europawahl 2019. Die europäischen Parteien haben damit begonnen, einen möglichen Ausschluss von Parteien, die die Rechtsstaatlichkeit und die gemeinsamen Werte der EU in Frage stellen, zu prüfen.
Diese Debatte muss fortgeführt werden. Gleichzeitig werden in dieser Mitteilung jedoch auch konkrete kurz- und mittelfristige Maßnahmen dargelegt. Einige Maßnahmen können sofort in Gang gesetzt werden. Andere müssen als Arbeitsschwerpunkte der neuen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates weiterentwickelt werden. Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union ist und bleibt für alle ein vorrangiges Ziel.
II
RECHTSSTAATLICHKEIT: EIN GEMEINSAMER WERT DER EUROPÄER
Seit der Mitteilung vom April hat sich die Debatte über die Rechtsstaatlichkeit intensiviert, so dass der Kommission eine Vielzahl von Beiträgen und Überlegungen übermittelt wurde. Sie erhielt 60 schriftliche Beiträge von nationalen, EU- und internationalen institutionellen Akteuren sowie von der Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft. Die Kommission nahm zudem an Konferenzen und Debatten auf europäischer Ebene und in den Hauptstädten teil. In den Beiträgen wird die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit hervorgehoben sowie die Notwendigkeit betont, ihre Achtung in der gesamten EU zu gewährleisten. Darüber hinaus haben die Beiträge die Relevanz und den ergänzenden Charakter der drei in der Mitteilung vom April aufgeführten Säulen (Förderung, Vorbeugung und Reaktion) bestätigt. In einigen dieser Beiträge wurde der Stärkung des Instrumentariums Vorrang eingeräumt, während nach der in anderen geäußerten Ansicht bereits die effiziente Durchsetzung der bestehenden Instrumente ausreichen würde, um etwas zu bewirken. In einer geringen Zahl von Beiträgen wurde die europäische Dimension der Angelegenheit in Frage gestellt. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die Funktionsweise der EU von Bürgern und Unternehmen nicht als selbstverständlich anerkannt wird und weiter gefördert und erläutert werden sollte. Ferner wird hervorgehoben, wie wichtig es ist, zu zeigen, dass die Maßnahmen der EU objektiv, verhältnismäßig und nicht diskriminierend sind und dass eine förmliche Reaktion der EU nur dann erfolgt, wenn nationale Kontrollen und Gegenkontrollen nicht funktionieren.
Darüber hinaus hat die Kommission im April 2019 in allen Mitgliedstaaten eine Eurobarometer-Umfrage durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen - mit nur geringfügigen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten - eine überwältigende Unterstützung für die Rechtsstaatlichkeit. Die Bedeutung der wichtigsten Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit wurde von über 80 % der Bürger in allen Mitgliedstaaten anerkannt. Andere wichtige Schlussfolgerungen aus der Umfrage waren eine starke Unterstützung für die Bedeutung, die den Medien und der Zivilgesellschaft zukommt, wenn es darum geht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei halten es mehr als 85 % der Europäer für wichtig, dass Medien, Journalisten und die Zivilgesellschaft frei agieren und Kritik üben können, ohne Einschüchterungen ausgesetzt zu sein.
Die Umfrage hat zudem ergeben, dass der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in der gesamten EU große Bedeutung beigemessen wird und 89 % der Europäer der Meinung sind, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze in allen anderen EU-Mitgliedstaaten eingehalten werden müssen.
Auch haben die Europäer gefordert, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu stärken, wobei sich ebenfalls mehr als 80 % für eine Verbesserung der wichtigsten Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit aussprachen. Die geforderten Verbesserungen betreffen insbesondere den wirksamen Rechtsschutz, die Rechtmäßigkeit und die Vermeidung willkürlicher Entscheidungen sowie die Freiheit der Medien und der Zivilgesellschaft.
Die im Anschluss an die Mitteilung vom April durchgeführte Konsultation hat auch gezeigt, welche wichtige Rolle die Rechtsstaatlichkeit für die Bürger spielt, was sich beispielsweise in der Bereitschaft vieler Organisationen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft zeigt, sich für die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und die Vorbeugung gegen Probleme auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit einzusetzen und als Hinweisgeber zu fungieren, wenn Probleme auftreten. Besonders interessante Initiativen sind beispielsweise die Organisation EU-weiter Bürgerdialoge, die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeits-"Kenntnissen" über öffentlich zugängliche und benutzerfreundliche Informationsquellen und offene Plattformen für den Austausch von Informationen und Warnmeldungen.
III.
EINE GEMEINSAME VERANTWORTUNG ALLER MITGLIEDSTAATEN UND EU-ORGANE
Die Gewährleistung der Achtung der Rechtsstaatlichkeit als gemeinsamer Wert ist in erster Linie Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Staates ist eine nationale verfassungsrechtliche Verantwortung, aber auch eine Verantwortung gegenüber der Union und den anderen Mitgliedstaaten. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Artikel 4 Absatz 3 EUV) haben die Mitgliedstaaten insbesondere die Pflicht, die Erfüllung der Aufgaben der Union zu erleichtern und Maßnahmen zu unterlassen, die die Ziele der Union gefährden könnten. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass die Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, sich gegenseitig zu unterstützen, und damit allen Organen der EU die Verantwortung dafür übertragen wird, den Mitgliedstaaten bei der Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit angemessene Unterstützung zu leisten.
In der Mitteilung vom April wurde festgestellt, dass die Rechtsstaatlichkeit auch einer der maßgeblichen Grundsätze für das auswärtige Handeln der EU ist und nach und nach für den EU-Beitrittsprozess und die Nachbarschaftspolitik immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Die Strategische Agenda des Europäischen Rates bekräftigt, dass die Wahrung der Werte der EU im Mittelpunkt der Außenbeziehungen der EU stehen sollte. Die Kommission unterstützt bereits aktiv Reformen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Drittländern.
Eine weitere zentrale Verpflichtung der Mitgliedstaaten besteht darin, den Bürgern die Wahrnehmung ihrer Rechte zu garantieren, insbesondere durch den Zugang zu Gerichten und fairen Verfahren. Artikel 19 AEUV überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen, zu gewährleisten. Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Anwendung des Unionsrechts ist also von entscheidender Bedeutung, da diese Gerichte in erster Linie für die Anwendung des Unionsrechts und für die Einleitung des in Artikel 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahrens zuständig sind, um Kohärenz und Einheitlichkeit der Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten. In diesem Kontext und wie auch durch die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestätigt wurde, ist die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz ein Kernpunkt der Rechtsstaatlichkeit.
Der durch Artikel 19 Absatz 1 EUV vorgeschriebene wirksame Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte stellt eine konkrete Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips dar. Zahlreiche Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte und von der Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren basieren auf dieser Vorschrift. Bereits 2006 stellte der Gerichtshof fest, dass der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit ein autonomes Konzept des EU-Rechts darstellt und impliziert, dass Richter vor äußeren Einflüssen, die ihr unabhängiges Urteil gefährden könnten, geschützt werden müssen
. In den Jahren 2018 und 2019 sind weitere wichtige Urteile zu diesem Sachverhalt ergangen So hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht verpflichtet sind, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewähren, und dass die Unabhängigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit zur Gewährleistung eines solchen Rechtsschutzes unabdingbar ist
.
In anderen Urteilen hat der Gerichtshof die Anforderungen an die Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ausführlicher dargelegt und ihre entscheidende Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren der gerichtlichen Zusammenarbeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 267 AEUV und für die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhenden Sekundärrechts-Instrumente hervorgehoben
. Ferner hat der Gerichtshof einstweilige Maßnahmen erlassen, mit denen nationale Reformen ausgesetzt wurden, die die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten
. In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in die nationale Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen des EU-Rechts erfüllen müssen und daher vom Gerichtshof überprüft werden können
. Weitere dem Gerichtshof von einzelstaatlichen Gerichten und von der Kommission vorgelegte Rechtssachen sind noch anhängig und könnten wichtige Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Folge haben.
In der Entwicklung begriffen ist ferner die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit systembedingte Probleme im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit spezifische Auswirkungen auf dem Gebiet der Unionsfinanzen haben müssen
.
IV.
MASSNAHMEN ZUR STÄRKUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT
In der April-Mitteilung wird das bestehende Instrumentarium zur Förderung und Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in der EU beschrieben. Bei der Bewertung der bisherigen Erfahrungen hat die Kommission Möglichkeiten zur Stärkung dieses auf drei Säulen beruhenden Instrumentariums ermittelt: Förderung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit, Verhinderung der Entstehung oder Verschlimmerung von Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Möglichkeiten einer wirksamen gemeinsamen Reaktion, wenn ein signifikantes Problem erkannt wurde.
In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, die wesentlichen Grundsätze des Handelns der EU im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in Erinnerung zu rufen. Erstens besteht ein berechtigtes Interesse der EU und anderer Mitgliedstaaten an einem ordnungsgemäßen Funktionieren des Rechtsstaats auf nationaler Ebene. Zweitens liegt die Hauptverantwortung für die Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit weiterhin bei jedem einzelnen Mitgliedstaat, und als allererstes sollte stets auf die nationalen Rechtsdurchsetzungsinstrumente zurückgegriffen werden. Drittens muss sich die EU in diesem Bereich objektiv verhalten, alle Mitgliedstaaten gleichbehandeln und sich auf die Beiträge stützen, die ihre Organe und Einrichtungen im Rahmen ihrer jeweiligen institutionellen Aufgaben leisten. Schließlich darf es nicht darum gehen, Sanktionen zu verhängen, sondern Ziel muss sein, eine Lösung zu finden, durch die die Rechtsstaatlichkeit geschützt wird und bei der die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung eine zentrale Rolle spielen – wobei jedoch eine effektive, verhältnismäßige und abschreckende Reaktion als letztes Mittel nicht ausgeschlossen werden darf.
Förderung: Aufbau von Wissen und Schaffung einer gemeinsamen Kultur der Rechtsstaatlichkeit
Die beste Garantie für die Wahrung unserer gemeinsamen Werte ist eine robuste politische und rechtliche Kultur, die die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten fördert. Wir können jedoch nicht davon ausgehen, dass dies immer der Fall ist. Politische Entwicklungen in mehreren Mitgliedstaaten haben zu Fällen geführt, in denen etwa die Grundsätze der Gewaltentrennung, der loyalen Zusammenarbeit der Institutionen, der Achtung der Opposition oder der Unabhängigkeit der Justiz unterminiert wurden – mitunter infolge bewusster politischer Entscheidungen. Unzureichende Informationen und wenig Sachkenntnis der breiten Öffentlichkeit hinsichtlich der mit dem Rechtsstaatlichkeitsgebot verbundenen Herausforderungen bilden den Nährboden für derartige Entwicklungen. Aus einer Eurobarometer-Umfrage geht hervor, dass über die Hälfte der Europäerinnen und Europäer das Gefühl haben, nicht ausreichend über die Grundwerte der EU informiert zu sein.
Diese Lücken müssen mit proaktiven Maßnahmen zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU sowohl auf Ebene der Fachleute als auch auf Ebene der breiten Öffentlichkeit beseitigt werden. Derartige Maßnahmen müssten darauf ausgerichtet sein, das Gebot der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene in die politische Debatte einzubeziehen, und zwar durch Verbreitung von Wissen über die Anforderungen und Standards des EU-Rechts und die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen sowie durch Stärkung derjenigen, die ein Interesse an der Förderung des Themenbereichs Rechtsstaatlichkeit haben. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen die Rolle und Bedeutung von Justizsystemen wertschätzen sollen, dann müssen diese modern und zugänglich sein. Entscheidende Bedeutung kommt außerdem dem gegenseitigen Vertrauen in die jeweils anderen Justizsysteme zu, denn dieses Vertrauen ist eine Voraussetzung dafür, dass der Binnenmarkt wirklich funktioniert.
Der Rat beabsichtigt, im Rahmen der finnischen Präsidentschaft im Herbst 2019 über ein eigenes Konzept im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu beraten; dadurch könnte die Förderung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten vorangebracht werden.
Die Zivilgesellschaft, die Medien, die Wissenschaft und die Bildungssysteme der Mitgliedstaaten können dazu beitragen, dass die Rechtsstaatlichkeit ihren Platz in der öffentlichen Debatte und in den Lehrplänen erhält. Insoweit stellt die Förderung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit in der breiten Öffentlichkeit eine entscheidende Herausforderung dar, wie auch der Rat in seiner Empfehlung zur Förderung gemeinsamer Werte anerkannt hat. Bei der Kommission sind Beiträge zivilgesellschaftlicher Organisationen eingegangen, die eine Bereitschaft zu einer vertieften Auseinandersetzung mit diesem Thema zeigen. Die Kommission wird den Gedanken einer alljährlichen Veranstaltung zur Rechtsstaatlichkeit weiter verfolgen, welche die Gelegenheit für einen Dialog mit und unter Organisationen der Zivilgesellschaft und politischen Entscheidungsträgern auf EU-Ebene bietet. Die Kommission wird auch weiterhin Versuche, Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien auszuüben, besonders im Auge behalten und deren Arbeit noch stärker unterstützen. Auch wenn sich diese Programme im Rahmen des neuen mehrjährigen Finanzrahmens nicht konkret auf die Rechtsstaatlichkeit beziehen, hat die Kommission einen stärkeren, kohärenteren Finanzierungsrahmen für die Arbeit zu diesem Thema im Rahmen des künftigen Programms „Rechte und Werte“ und des Programms „Kreatives Europa“ vorgeschlagen. Die Kommission ruft das Europäische Parlament und den Rat auf, diese Programme rasch zu verabschieden, damit sie rechtzeitig anlaufen können. Darüber hinaus sollten weiterhin von der EU finanzierte Forschungsprojekte zur Rechtsstaatlichkeit gefördert und deren Ergebnisse angemessen verbreitet werden.
Transparenz und Zugang zu Informationen sind entscheidende Instrumente, mit denen die Zivilgesellschaft und die Medien ihre Kontrollfunktion auf nationaler Ebene ausüben können. Die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Transparenz und des Zugangs zu Informationen müssen in allen Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene effektiv angewendet werden. Um das Gebot der Rechtsstaatlichkeit bekannter zu machen, beabsichtigt die Kommission, eine spezielle Kommunikationsstrategie zu diesem Thema zu entwickeln; im Rahmen dieser Strategie ist u. a. geplant, Informationen in allen Amtssprachen zugänglich zu machen und die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die Union als Ganzes und für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen klar zu verdeutlichen.
Europäische Netzwerke spielen bereits eine wichtige Rolle für die Förderung und den Austausch von Ideen und vorbildlichen Verfahren.Justiz-Netzwerke wie das Netz der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der EU, die Vereinigung der Staatsräte und der Obersten Verwaltungsgerichte der EU und das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen sowie das europäische Netz für die berufliche Fortbildung von Richtern sollten unterstützt werden, um so die Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Die Kommission sollte alle diese Netzwerke unterstützen, dabei jedoch Projekten Vorrang einräumen, die der Förderung der Rechtsstaatlichkeit dienen und bei denen Mitgliedstaaten im Mittelpunkt stehen, die im Bereich der Rechtsstaatlichkeit mit Herausforderungen konfrontiert sind. Eine umfassendere Zusammenarbeit von mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit betrauten Institutionen sollte ebenfalls ermutigt und unterstützt werden, auch im Hinblick auf die Arbeit der Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte. Auch das europäische Verbindungsnetz der Bürgerbeauftragten könnten seinen Austausch von Erfahrungen und vorbildlichen Verfahren der Förderung einer guten Verwaltungspraxis ausbauen und einen Beitrag zur Erhebung und Verbreitung einschlägiger Daten leisten.
Auch den nationalen Justizbehörden fällt eine wichtige Rolle bei der Förderung rechtsstaatlicher Standards zu. Die Teilnahme nationaler Justizräte, Richter und Staatsanwälte an nationalen Debatten über Justizreformen ist als solche bereits als wichtiger Bestandteil der Gewaltenteilung auf nationaler Ebene zu sehen.
Die nationalen Parlamente spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten, und zwar sowohl in ihrer gesetzgeberischen Funktion als auch als Kontrollinstanz der Exekutive. Das Europäische Parlament, die Konferenz der Ausschüsse für Unionsangelegenheiten der Parlamente der EU und die Konferenz der Präsidenten der Parlamente der EU könnten Fragen der Rechtsstaatlichkeit im Rahmen ihres interparlamentarischen Dialogs vorrangig behandeln, beispielsweise auf einer jährlichen Veranstaltung. In nationalen Parlamentsdebatten über EU-Fragen könnte dies ebenfalls thematisiert werden. Die Kommission ist bereit, ihren Beitrag zur Anregung eines solchen Dialogs zu leisten. Sinnvoll wäre es außerdem, wenn sich Parlamente bilateral untereinander austauschen und unterstützen würden, z. B. über vorbildliche Verfahren der besseren Rechtsetzung (wie etwa evidenzbasierte Rechtsetzung oder Transparenz von Verfahren), oder im Rahmen von parteiübergreifenden Parlamentsfraktionen zum Thema Rechtsstaatlichkeit.
In der April-Mitteilung wurde hervorgehoben, welcher Beitrag durch den Ausbau der Zusammenarbeit mit dem Europarat geleistet werden könnte. Die Vereinbarung zwischen dem Europarat und der Europäischen Union von 2007 weist dem Europarat eine besondere Rolle als „Referenz für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa“ zu und die EU hat sich verpflichtet, seiner Arbeit Rechnung zu tragen. Die Kommission beabsichtigt, bei uneingeschränkter Achtung des institutionellen und politischen Aufgabenbereichs beider Institutionen diese Zusammenarbeit auszubauen und die Mitwirkung der EU in den Gremien des Europarats zu verstärken, indem sie die Zusammenarbeit auf Dienststellenebene intensiviert und systematisiert. Die EU arbeitet auf vielen Ebenen bereits aktiv im Europarat mit, u. a. dadurch, dass die Kommission als Beobachterin in der Venedig-Kommission vertreten ist. Für die EU stellt der Erhalt des Beobachterstatus in der Gruppe der Staaten gegen Korruption im Europarat (GRECO) einen wichtigen Schritt dar. Im Einvernehmen mit dem Rat hat die Kommission die erforderlichen Maßnahmen zur Beantragung des Beobachterstatus ergriffen, der im Juli 2019 gewährt wurde. Die EU trägt in erheblichem Maße zur Finanzierung der Arbeit des Europarats bei.
Mit ihrem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention
wird die Europäische Union ein starkes Zeichen dafür setzen, dass sie für die Rechtsstaatlichkeit eintritt und die Konvention sowie deren (insbesondere gerichtliches) Durchsetzungssystem unterstützt. Die Kommission bemüht sich verstärkt um eine erneute Aufnahme der Beitrittsverhandlungen.
Die Kommission wird zudem die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Institutionen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit intensivieren und auf Dienststellenebene systematisieren. Dazu gehören u. a. die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sich im Rahmen ihrer Demokratisierungsarbeit mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit befasst, und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD); Gegenstand der Zusammenarbeit mit der OECD könnten auch die sozioökonomischen Vorteile der Rechtsstaatlichkeit sein.
Im Rahmen der Arbeit des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten und des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, das als Sekretariat des Übereinkommens gegen Korruption fungiert, sowie der Weltbank wurde ebenfalls ein Beitrag zur internationalen Debatte über die Rechtsstaatlichkeit und deren Bedeutung geleistet.
Internationale Organisationen wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung befassen sich mit dieser Frage unter dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Entwicklung und der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für das Geschäfts- und Investitionsklima im Allgemeinen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat gleichermaßen darauf hingewiesen, dass die wirtschaftlichen Aspekte der Rechtsstaatlichkeit stärker berücksichtigt werden müssen. Im Rahmen des Europäischen Semesters zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik wurde der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für das Geschäftsumfeld in dem Bestreben Rechnung getragen, wachstumsfördernde Strukturreformen beispielsweise auf dem Gebiet der effektiven Justizsysteme oder der Korruptionsbekämpfung zu unterstützen – dass hier ein Zusammenhang besteht, wird auch von der Europäischen Zentralbank und den Sozialpartnern auf europäischer Ebene anerkannt, die betonen, welche wichtige Rolle die Rechtsstaatlichkeit als Garantie für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Europa spielt.
Die Kommission sieht in der Bereitschaft all dieser Akteure, sich für eine Förderung der Rechtsstaatlichkeit einzusetzen, eine gute Basis für ihre weitere Arbeit.
Die Kommission wird
·die Finanzierungsmöglichkeiten für Akteure der Zivilgesellschaft und Hochschulen, die sich insbesondere in der breiten Öffentlichkeit für die Stärkung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit einsetzen, in vollem Umfang nutzen und den Gedanken einer alljährlichen Veranstaltung zum Thema Rechtsstaatlichkeit, an der nationale Interessenträger und Organisationen der Zivilgesellschaft teilnehmen können, weiterverfolgen;
·die Zusammenarbeit mit dem Europarat einschließlich der Venedig-Kommission und GRECO ausbauen und prüfen, wie diese hinsichtlich der Prioritäten der EU auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit weiter unterstützt werden können;
·die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung intensivieren;
·auf der Zusammenarbeit mit den europäischen justiziellen und anderen Netzen zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit aufbauen, was auch jede Art der Unterstützung einschließt, die im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit der Verfassungsgerichte angefordert werden sollte;
·eine spezielle Kommunikationsstrategie zur Rechtsstaatlichkeit entwickeln, u. a. durch ein Upgrade der speziellen Website zur Rechtsstaatlichkeit, damit diese zur Fundstelle für alle einschlägigen Informationen werden kann.
Die Kommission ruft
·das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente dazu auf, die interparlamentarische Zusammenarbeit speziell zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit fortzuentwickeln; die Kommission könnte hierzu einen Beitrag leisten;
·den Rat und die Mitgliedstaaten dazu auf, auch im Rahmen der laufenden oder bevorstehenden Diskussionen über dieses Thema Möglichkeiten der Förderung von Rechtsstaatlichkeitsstandards in Erwägung zu ziehen;
·die Mitgliedstaaten dazu auf, die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene auch mithilfe der Bildung und der Zivilgesellschaft verstärkt zu fördern;
·die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner dazu auf, im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs weiterhin die Lage aufmerksam zu beobachten und sich an der Diskussion über die Auswirkungen und konkreten Folgen von Unzulänglichkeiten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu beteiligen.
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Vorbeugung: Zusammenarbeit und Unterstützung bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auf nationaler Ebene
Für die Einhaltung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips auf nationaler Ebene sind in erster Linie die einzelnen Mitgliedstaaten verantwortlich. Die Justiz der Mitgliedstaaten bildet zusammen mit anderen Kontrollen und Gegenkontrollen auf nationaler Ebene wie Verfassungsgerichten und Ombudsleuten die erste entscheidende Verteidigungslinie gegen Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit durch irgendeine Staatsgewalt. Gleichwohl kann die EU eine legitime Rolle spielen, indem sie die nationalen Behörden unterstützt und dafür sorgt, dass bei negativen Entwicklungen frühzeitig gegengesteuert wird. Die Organe der EU sollten dabei die Zusammenarbeit und den Dialog erleichtern, um zu verhindern, dass die Probleme ein Ausmaß annehmen, das eine förmliche Reaktion gemäß dem EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips in Form von Vertragsverletzungsverfahren oder Maßnahmen gemäß Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union erfordert.
Damit die EU diese Rolle voll wahrnehmen kann, müssen ihre Organe durch ein spezifisches Monitoring eine größere Sensibilität und ein besseres Verständnis der Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten entwickeln, um Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit erkennen, mögliche Lösungen entwickeln und frühzeitig zielgerichtete Unterstützung bieten zu können. Ein solches Monitoring sollte Entwicklungen und Reformen in den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit abdecken und dazu beitragen, die Dauerhaftigkeit und Unumkehrbarkeit von Reformen sicherzustellen, die infolge des Eingreifens der EU, etwa durch Vertragsverletzungsverfahren oder mittels des Kooperations- und Kontrollverfahrens, angenommen wurden.
Um die entsprechenden Kapazitäten der EU zu verstärken, beabsichtigt die Kommission daher, ihr Monitoring der Entwicklungen in den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit zu vertiefen. Dies geschieht, wenn nötig in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und den anderen Organen der EU, in Form eines Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit mit folgenden Merkmalen:
(I)Erfassungsbereich
Der Überprüfungszyklus würde sämtliche verschiedenen Aspekte der Rechtsstaatlichkeit abdecken, darunter etwa systembedingte Probleme in Gesetzgebungsverfahren, das Fehlen eines wirksamen Rechtsschutzes durch unabhängige und unparteiische Gerichte oder die Nichteinhaltung der Gewaltenteilung. Im Rahmen der Überprüfung würden auch die Kapazitäten der Mitgliedstaaten zur Korruptionsbekämpfung sowie, falls ein Zusammenhang mit der Anwendung des EU-Rechts besteht, Probleme im Zusammenhang mit dem Medienpluralismus und Wahlen untersucht. Es besteht auch eine Verbindung zum Monitoring der wirksamen Durchsetzung des EU-Rechts, insbesondere der Fähigkeit aller dabei mitwirkenden Akteure – Gerichte, Staatsanwaltschaften, Strafverfolgungsbehörden, unabhängige Behörden, öffentliche Verwaltungen mit Aufsichtsfunktion, Ombudsleute sowie Menschenrechtsinstitutionen und -verteidiger –ihre Aufgaben zu erfüllen.
Das Monitoring würde sich auf sämtliche Mitgliedstaaten erstrecken, müsste jedoch in Mitgliedstaaten, bei denen die Gefahr von Rückschritten oder besondere Mängel festgestellt wurden, mit verstärkter Intensität betrieben werden.
(II)Informationsquellen
Der Überprüfungszyklus würde sich auf die kohärente Nutzung vorhandener Informationsquellen stützen. Dadurch würde eine Reihe für die Rechtsstaatlichkeit relevanter Bereiche stärker in den Blick geraten. Alle – institutionellen ebenso wie zivilgesellschaftlichen – Akteure müssen Informationen miteinander teilen und ihren Standpunkt deutlich machen. Es existiert eine Vielzahl von Informationsquellen, darunter die Einrichtungen des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie EU-Einrichtungen wie die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.
Diese Agentur, deren Aufgabenbereich für die Rechtsstaatlichkeit maßgebliche Rechte wie das Recht auf wirksame Rechtsbehelfe abdeckt, hat das Europäische Informationssystem für Grundrechte (EFRIS) entwickelt, um den Zugang zu vorhandenen einschlägigen Informationen und Berichten über die Lage in den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Die vielfältigen Informationsquellen könnten besser genutzt, zusammengeführt und ergänzt werden, als es derzeit geschieht. Die konkreten Formen, die ein solches intensiviertes Monitoring annehmen könnte, werden – auch in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden und den anderen Organen der EU – noch zu entwickeln sein; enthalten sein sollte ein Verfahren der ständigen Informationserhebung und des Dialogs mit den nationalen Behörden und Interessenträgern.
(III)Einbeziehung der Mitgliedstaaten und Interessenträger
Die Kommission wird sich nicht nur auf relevante Quellen stützen, sondern auch alle Mitgliedstaaten auffordern, einen intensiveren Informationsaustausch und Dialog über Themen im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit zu pflegen; darin könnte es etwa um Justizreformen, Korruptionsbekämpfung und den Rechtsetzungsprozess oder um Maßnahmen gehen, mit denen die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien als Akteure der Rechtsstaatlichkeit unterstützt werden sollen. Eine Reihe dieser Fragen wird bereits im Rahmen des Europäischen Semesters erörtert, sofern sie mit den entscheidenden Faktoren in Verbindung stehen, die Wachstum ermöglichen. Dieser Dialog wird durch einen stärker auf Rechtsstaatlichkeit zugeschnittenen Ansatz ergänzt, der zusätzliche, hierfür bedeutsame Aspekte einschließt. In Mitgliedstaaten, in denen Herausforderungen an die Rechtsstaatlichkeit deutlicher sichtbar sind, müsste die Zusammenarbeit regelmäßiger und intensiver betrieben werden, wobei das Ziel auch hier darin besteht, kooperative Lösungen zu finden, bevor die Probleme eskalieren.
Auf dieser Grundlage sollte für den Dialog über Fragen der Rechtsstaatlichkeit ein Netzwerk nationaler Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten eingerichtet werden. Dieses Netzwerk würde auf bereits bestehenden Kontakten auf den für die Rechtsstaatlichkeit maßgeblichen Gebieten wie den Netzwerken nationaler Kontaktstellen in den Bereichen der Justiz und der Korruptionsbekämpfung aufbauen und könnte diese integrieren.
Es würde als Forum zur Erörterung von Querschnittsthemen, darunter gegebenenfalls auch mögliche Entwicklungen des Instrumentariums der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, und zum Austausch von Informationen und bewährten Verfahren dienen. Die Kontaktpersonen würden als Ansprechpartner für den bilateralen Dialog mit jedem Mitgliedstaat fungieren und Unterstützung bei der Vorbereitung des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit (siehe weiter unten) sowie bei der Erhebung dafür relevanter Informationen leisten. Das Netzwerk nationaler Kontaktstellen könnte ein Forum zur Früherkennung der Auswirkungen von Reformen auf die Rechtsstaatlichkeit und für Gespräche zwischen den Mitgliedstaaten bilden.
Einschlägige Einrichtungen des Europarats, der OSZE und der OECD sowie justizielle Netze, darunter das Netz der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der EU, die Vereinigung der Staatsräte und der obersten Verwaltungsgerichte der EU und das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen, könnten ebenfalls aufgefordert werden, ihr Fachwissen zu teilen und ihre Standpunkte vorzustellen.
Dieser Dialog spielt eine besondere Rolle bei der Früherkennung möglicher Probleme in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit, da ein festgelegter und regelmäßiger Rahmen dazu beiträgt, ein besseres Verständnis zu gewinnen und das Risiko einer Konfrontation so gering wie möglich zu halten. Der Dialog kann auch eine Gelegenheit für Mitgliedstaaten sein, Reformen mit Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit in der Vorbereitungsphase zu erörtern und dabei auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen. Die vom Gerichtshof entwickelten Standards können dabei als Richtschnur dienen, um zu bestimmen, bei welchen Reformen vorsichtig vorzugehen ist (etwa Reformen, die sich – möglicherweise unbeabsichtigt – auf die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten oder Regulierungsbehörden auswirken können). Der Dialog wird dabei helfen, möglichen Bedarf an externer Unterstützung oder an externem Fachwissen über besondere nationale Entwicklungen zu ermitteln.
(IV)Jährlicher Bericht über die Rechtsstaatlichkeit
Um die notwendige Transparenz und das notwendige Bewusstsein zu schaffen und damit die Rechtsstaatlichkeit auf der politischen Agenda der EU bleibt, beabsichtigt die Kommission die Veröffentlichung eines jährlichen Berichts über die Rechtsstaatlichkeit, in dem die Lage in den Mitgliedstaaten zusammengefasst wird. Der Bericht würde, auf der Grundlage der oben beschriebenen vielfältigen Quellen, eine Synthese wichtiger Entwicklungen in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene liefern, wozu auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und sonstige relevante Informationen wie die einschlägigen Teile des EU-Justizbarometers und der Länderberichte im Rahmen des Europäischen Semesters zählen würden. Er böte eine Gelegenheit, über den aktuellen Stand förmlicher Rechtsstaatlichkeitsverfahren sowie über die Arbeit der EU-Organe für die Förderung von Rechtsstaatlichkeitsstandards und die Entwicklung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit zu berichten. In dem Bericht könnten bewährte Verfahren hervorgehoben und wiederkehrende Probleme aufgezeigt werden. Die Überprüfung wäre auf Angelegenheiten beschränkt, die für die Rechtsstaatlichkeit in der EU direkt relevant sind.
Das EU-Justizbarometer, das vergleichende Daten zur Unabhängigkeit, Qualität und Leistungsfähigkeit der Justiz in den Mitgliedstaaten bereitstellt, könnte selbst weiterentwickelt und verbessert werden, auch um Bereiche, die für die Rechtsstaatlichkeit von Bedeutung sind, etwa in der Straf- und Verwaltungsjustiz, besser zu erfassen.
Der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit könnte überdies als Grundlage für den Dialog mit dem Europäischen Parlament und dem Rat sowie innerhalb des Parlaments und des Rates dienen.
(V)Interinstitutionelle Dialoge über die Rechtsstaatlichkeit
Der Überprüfungszyklus könnte dazu beitragen, eine dynamische Debatte in Gang zu halten und die Instrumente zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit laufend zu verbessern. Er könnte, idealerweise im Rahmen einer interinstitutionellen Zusammenarbeit nach einem regelmäßigen und zusammenhängenden Zeitplan, einen wichtigen Beitrag zur Arbeit des Europäischen Parlaments und des Rates darstellen.
Das Europäische Parlament und der Rat könnten in ihren eigenen Gesprächen und Debatten aus dem jährlichen Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit schöpfen. Was den Rat betrifft, so könnte die Überprüfung beispielsweise als Grundlage für Beschlüsse des Rates zur Rechtsstaatlichkeit dienen oder in Schlussfolgerungen des Rates münden. In diesem Zusammenhang begrüßt die Kommission die Beratungen über den Ansatz des Rates bei der Rechtsstaatlichkeit, die unter dem finnischen Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 stattfinden dürften und in denen, ebenso wie in den laufenden Gesprächen über einen Mechanismus der gegenseitigen Begutachtung (Peer-Review), einschlägige Synergien behandelt werden könnten. Der jährliche Bericht über die Rechtsstaatlichkeit könnte auch die Grundlage von Debatten im Europäischen Parlament und im Rat bilden. Die Arbeit der Organe wird am wirksamsten sein, wenn es sich um einen integrierten Prozess handelt, an den sich auch verschiedene Arbeiten der einzelnen Organe anschließen können. Andere Organe der EU wie der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen könnten ebenfalls dazu beitragen.
Die Kommission sieht der Vertiefung der Arbeit mit dem Europäischen Parlament, dem Rat und den Mitgliedstaaten in den kommenden Monaten mit Interesse entgegen und schließt keine in den Verträgen vorgesehene Möglichkeit zur Verbesserung der gegenseitigen Kenntnis der nationalen Systeme aus. Als Hüterin der Verträge muss die Kommission jedoch bei ihren eigenen Bewertungen sowohl im Hinblick auf den Inhalt als auch auf den Zeitplan ihre Autonomie wahren. Eine in der Debatte über die Rechtsstaatlichkeit häufig vorgebrachte Idee war, außerhalb der Kommission oder der EU-Organe ein Panel unabhängiger Experten einzurichten, das Herausforderungen der Rechtsstaatlichkeit sachkundig und objektiv bewerten soll, während andere Vorschläge die Schaffung einer neuen Agentur für Rechtsstaatlichkeit vorsehen. Solche Ansätze sind jedoch mit einer Reihe von Problemen in Bezug auf die Legitimität, die Ausgewogenheit der Beiträge und die Rechenschaftspflicht hinsichtlich der Ergebnisse behaftet. Die Kommission schöpft zwar bereits aus allen rechtmäßigen Quellen für Informationen und Fachwissen, gleicht die verschiedenen Informationsquellen miteinander ab und wird dies auch weiterhin tun, doch kann externes Expertenwissen eine Bewertung durch die Kommission selbst nicht ersetzen - schon gar nicht, wenn auf Grundlage der Schlussfolgerungen der Kommission Rechtsakte erlassen werden könnten, die rechtliche und finanzielle Folgen mit sich bringen und vor dem Gerichtshof angefochten werden könnten. Ebenso wenig können das Europäische Parlament und der Rat die Entscheidungsfindung an externe Einrichtungen delegieren. Die in dem institutionellen Gleichgewicht gemäß den Verträgen verankerte Autorität und Rechenschaftspflicht der Organe müssen gewahrt bleiben.
Schließlich ruft die Kommission auch die europäischen politischen Parteien auf sicherzustellen, dass ihre Mitglieder in den Mitgliedstaaten der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit die gebührende Beachtung widmen und entsprechend der Betonung der Rechtsstaatlichkeit in ihren europaweiten Programmen handeln. Nach der Verordnung Nr. 1141/2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen
müssen insbesondere deren Programm und Tätigkeiten im Einklang mit den Werten stehen, auf die sich die Union gemäß Artikel 2 EUV gründet.
Hat die Kommission begründete Zweifel an der Einhaltung dieser Werte, könnte sie die Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen auffordern, zu prüfen, ob die in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.
Stellt die Behörde einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen diese Voraussetzungen fest, kann sie entscheiden, eine politische Partei oder Stiftung aus dem Register zu löschen.
Die Kommission wird Folgendes unternehmen:
·Sie wird einen Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit einrichten, um die Lage in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit zu beobachten. Zur Unterstützung dieses Prozesses wird sie einen jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit erstellen, das EU-Justizbarometer weiterentwickeln und den Dialog mit anderen Organen der EU, den Mitgliedstaaten und Interessenträgern verstärken.
·Sie wird einen Dialog mit allen Mitgliedern über Themen mit Bezug zur Rechtsstaatlichkeit einrichten und hierfür auch auf ein Netz von Kontaktpersonen zurückgreifen.
Die Kommission spricht folgende Aufforderungen aus:
·Sie fordert die Mitgliedstaaten auf, ihre nationalen Kontaktstellen für den Dialog und den Informationsaustausch zu Fragen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu benennen.
·Sie ersucht das Europäische Parlament und den Rat, eigene Folgemaßnahmen im Anschluss an den jährlichen Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit zu organisieren und zusammen mit der Kommission einen integrierten Ansatz auszuarbeiten, um die Arbeit der Organe zur Früherkennung und Behebung von Problemen im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit auf kohärente Weise zusammenzuführen.
·Sie fordert die europäischen politischen Parteien auf sicherzustellen, dass ihre Mitglieder in den Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit tatsächlich einhalten.
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Antwort der EU: Bei Versagen der nationalen Mechanismen Durchsetzung auf EU-Ebene
Eine stärkere Verlagerung auf Förderung und Prävention dürfte die EU sehr viel robuster machen und dabei helfen, sie künftig gegen schwere und hartnäckige Herausforderungen für die Rechtsstaatlichkeit zu wappnen. Ziel ist es, die Notwendigkeit eines Tätigwerdens auf EU-Ebene deutlich zu verringern. Sind die Vorkehrungen eines Mitgliedstaats zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit aber offenbar ungeeignet, um eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit abzuwenden, haben die EU-Organe und die Mitgliedstaaten gemeinsam die Aufgabe, geeignete Abhilfemaßnahmen zu treffen. Dies wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union bestätigt.
In jüngeren Urteilen in Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren hat der Gerichtshof weiter klargestellt, welche Anforderungen sich aus dem EU-Recht für die Rechtsstaatlichkeit und insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz ergeben.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof erneut bekräftigt, wie wichtig eine unabhängige Justiz und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit für eine reibungslos funktionierende EU sind: Er hat die Aussetzung nationaler Gesetze angeordnet, die nach Einschätzung der Kommission die Unabhängigkeit der Justiz gefährden, und festgestellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Organisation ihrer Justiz an das EU-Recht gebunden sind. Diese Entscheidungen verleihen den derzeitigen Rechtsstaatlichkeitsverfahren auf EU-Ebene eine neue Tragweite und spielen bei der Lösung solcher Konflikte eine wichtige Rolle. Auch unterstreicht der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zunehmend, wie systematische Probleme bei der Rechtsstaatlichkeit sich auch auf den Bereich der Unionsfinanzen auswirken können.
Auf dieser Rechtsprechung wird die Kommission weiter aufbauen: Sie ist entschlossen, Probleme im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit, die die Anwendung des EU-Rechts beeinträchtigen, immer dann vor den Gerichtshof zu bringen, wenn diese Probleme nicht durch die nationalen Mechanismen von Kontrolle und Gegenkontrolle gelöst werden können. Ausgehend von ihrem aktuellen Ansatz bei der Durchsetzung
und von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird die Kommission bei Vertragsverletzungsverfahren, die die Rechtsstaatlichkeit betreffen, einen strategischen Ansatz verfolgen und wann immer notwendig auf ein beschleunigtes Verfahren und auf Interimsmaßnahmen hinwirken. Auch wird sie die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Standards aktiv fördern und zu diesem Zweck u. a. die einschlägigen Feststellungen des Gerichtshofs zusammenstellen.
Wie in der Mitteilung vom April und in den nachfolgenden Beiträgen hervorgehoben, ist bei der Bewältigung einer möglichen Rechtsstaatlichkeitskrise rasches Handeln entscheidend. In vielen Fällen spielt der Zeitfaktor eine wichtige Rolle: Je länger es dauert, das Problem zu lösen, desto größer ist die Gefahr einer Zuspitzung und umso schwieriger wird es sowohl für den Mitgliedstaat als auch für die EU, die negativen Folgen einzudämmen. Es ist daher wichtig, dass die EU-Organe zügig tätig werden, kohärenter vorgehen und sich besser abstimmen und dass insbesondere für die förmlichen Prozesse beim Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips und bei Artikel 7 EUV klarere Verfahren und Fristen festgelegt werden.
In Bezug auf Artikel 7 EUV sollten die Organe gemeinsam darauf hinarbeiten, den kollektiven Charakter ihrer Entscheidungsfindung zu verstärken. Die Kommission begrüßt die Absicht des Rates, für Anhörungen nach Artikel 7 neue Verfahren zu vereinbaren. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Gewährleistung effizienterer Verfahren. Besonders nützlich wäre es, wenn der Rat prüfen würde, ob sich die Diskussionen im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ durch fachliche Vorbereitung durch eine Arbeitsgruppe des Rates verbessern ließen. Auch könnte es hilfreich sein, den Entscheidungsprozess über die institutionellen Schritte durch klare Verfahrensregeln zu verbessern. Um das institutionelle Gleichgewicht zu gewährleisten, sollte das Europäische Parlament Gelegenheit erhalten, in von ihm eingeleiteten Verfahren seinen Standpunkt darzulegen. Auch die Teilnahme von Gremien des Europarates oder anderer externer Sachverständiger auf Ad-hoc-Basis könnte in Betracht gezogen werden.
Die Kommission wird außerdem darüber nachdenken, wie sie die anderen Organe auf einer frühzeitigen Stufe des Verfahrens noch weiter in den Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips des Jahres 2014 einbinden kann, ohne dass dies der Notwendigkeit eines vertraulichen Dialogs mit dem betreffenden Mitgliedstaat zu Beginn des Verfahrens abträglich wäre. Das Hauptziel sollte stets darin bestehen, so früh wie möglich eine Lösung zu finden. Sollte dies nicht gelingen, muss gewährleistet sein, dass das Europäische Parlament und der Rat umfassend auf dem Laufenden gehalten werden und vor Erreichen eines kritischen Stadiums ihren Standpunkt zum Ausdruck bringen und so zur Beilegung des Konflikts beitragen können. Dies steht mit einer kollektiveren Vorgehensweise der Organe im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in Einklang.
Ein kritischer Punkt ist die kontinuierliche objektive Bewertung der Lage, die auf fundierter Sachkenntnis und einschlägigen Informationen beruhen muss. Der Prozess muss sich kontinuierlich an anerkannten, öffentlichen Rechtsstaatlichkeitsstandards orientieren. Für die Bewertung und den Dialog sollten alle verfügbaren fachlichen Quellen herangezogen werden, wobei die Kommission entsprechend ihrer Rolle als Hüterin der Verträge stets autonom bleibt und ihre Bewertung unabhängig durchführt.
Um den Konflikt beizulegen, darüber hinaus aber auch seinen guten Willen zu demonstrieren und einen konstruktiven Dialog zu erleichtern, kann ein Mitgliedstaat, gegen den ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren eingeleitet wurde, auf die Expertise von Europarat-Gremien oder anderen unabhängigen Stellen zurückgreifen. Solche Stellen können auch ohne klar definierte Parameter um Stellungnahme zu einer bestimmten Frage ersucht werden.
Für ein wirkungsvolles Vorgehen der EU im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und für echten Kooperationsgeist ist es von zentraler Bedeutung, eine zügige Deeskalation zu gewährleisten oder die Aussicht auf rasche Einstellung des förmlichen Rechtsstaatlichkeitsverfahrens zu eröffnen, sobald der betreffende Mitgliedstaat die für die Rückkehr zur Rechtstaatlichkeit erforderlichen Schritte eingeleitet hat. Die EU und die anderen Mitgliedstaaten müssen ausreichende Gewähr dafür haben, dass die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit von Dauer ist. Um sicherzustellen, dass Zusagen dauerhaft eingehalten werden, könnte die Ankündigung der beabsichtigten Einstellung eines Verfahrens an Unterstützung der Kommission für den betreffenden Mitgliedstaat geknüpft werden, wie beispielsweise ein spezielles Follow-up-Monitoring. Die gleiche Art von Monitoring könnte auch nach Abschluss bestimmter Verfahren wie dem Kooperations- und Kontrollverfahren zum Einsatz kommen.
Neben den förmlichen Verfahren im Bereich der Rechtsstaatlichkeit könnten sich auch in bestimmten EU-Tätigkeitsbereichen, die durch Rechtsstaatlichkeitsdefizite in den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden könnten, Maßnahmen als notwendig erweisen. So wurde in jüngeren Urteilen des Gerichtshofs beispielsweise hervorgehoben, wie sich generelle Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz auf das gegenseitige Vertrauen auswirken, das für die Instrumente im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts unabdingbar ist.
Dieser Ansatz, mit dem die Funktionsweise der EU geschützt werden soll, liegt auch der von der Kommission im Jahr 2018 vorgeschlagenen Verordnung zugrunde, die den Schutz des EU-Haushalts im Falle genereller Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten bezweckt. Ein solcher Ansatz könnte über den Schutz der finanziellen Interessen der EU hinaus auch in anderen Politikbereichen der EU erforderlich sein, um spezielle Risiken für die Umsetzung des EU-Rechts oder der EU-Politik zu umgehen oder auszuräumen. Die Kommission wird prüfen, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind, um den möglichen Auswirkungen anhaltender Rechtsstaatlichkeitsprobleme auf andere Politikbereiche der EU entgegenzuwirken.
Schon operative Verbesserungen könnten zu einem größeren Schutz der finanziellen Interessen der EU beitragen. Ausgehend von den in der neuen Betrugsbekämpfungsstrategie der Kommission geplanten Maßnahmen wird die Kommission Optionen für die Schaffung einer Datenanalysefunktion prüfen, mit der Daten, die die Systeme der Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der EU betreffen, aus verschiedenen Quellen zusammengeführt werden. Dies könnte die Ermittlung etwaiger Probleme bei der Steuerung von Risiken im Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der EU ermöglichen und dazu genutzt werden, Warnungen auszusprechen, wenn erste Anzeichen für problematische Verhaltensmuster erkennbar werden, also beispielsweise den Berichten des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) nur zögerlich und eingeschränkt Maßnahmen folgen und danach nur langsam und nicht vollumfänglich mit der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) zusammengearbeitet wird oder die Kontrollstrukturen auf nationaler Ebene unzureichend sind. Ziel ist es, hier sehr frühzeitig einzugreifen und festzustellen, ob es sich um ein punktuelles Problem handelt oder ein Muster erkennbar ist. Dieses System könnte den im Kommissionsvorschlag zu generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip vorgesehenen Mechanismus oder andere Verfahren zum Schutz der finanziellen Interessen der EU unterstützen.
Die Kommission wird
·ihre Befugnisse als Hüterin der Verträge voll und ganz ausschöpfen, um die Einhaltung des EU-Rechts im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten,
·bei Vertragsverletzungsverfahren ausgehend von der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen strategischen Ansatz verfolgen und die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Standards u. a. durch Zusammenstellung der einschlägigen Feststellungen des Gerichtshofs fördern,
·prüfen, wie die anderen EU-Organe bei der Umsetzung des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips aus dem Jahr 2014 regelmäßiger einbezogen werden können,
·die Mitgliedstaaten bei der Deeskalation unterstützen oder die Aussicht auf Einstellung des förmlichen Rechtsstaatlichkeitsverfahrens eröffnen und zu diesem Zweck u. a. auf ein Follow-up-Monitoring zurückgreifen,
·bis Ende 2020 prüfen, ob die Auswirkungen anhaltender Probleme bei der Rechtsstaatlichkeit auf die Umsetzung der EU-Politik über die vorgeschlagene Verordnung zum Schutz des Unionshaushalts hinaus weitere Mechanismen erfordern,
·ausgehend von ihrer Betrugsbekämpfungsstrategie die Möglichkeit einer Datenanalysefunktion prüfen, die dazu beitragen könnte, Probleme bei der Steuerung von Risiken im Zusammenhang mit dem Schutz der finanziellen Interessen der EU zu ermitteln. Sie wird zudem die Möglichkeit prüfen, erforderlichenfalls Warnungen auszusprechen, wenn problematische Verhaltensmuster erkennbar sind.
Die Kommission ruft
·das Europäische Parlament und den Rat auf, Überlegungen über eine Intensivierung des gemeinsamen Vorgehens der Organe bei Verfahren nach Artikel 7 AEUV anzustellen;
·den Rat auf, seine begrüßenswerte Absicht weiterzuverfolgen, für den in Artikel 7 vorgesehenen Prozess klarere und stabilere Verfahrensregeln festzulegen;
·das Europäische Parlament und den Rat auf, die Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten rasch zu erlassen.
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V.
SCHLUSSFOLGERUNGEN UND NÄCHSTE SCHRITTE
Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist gemeinsame Aufgabe aller EU-Organe und aller Mitgliedstaaten. Alle Parteien müssen dieser Verantwortung gerecht werden und ihren Teil dazu beitragen. Zusätzlich zu den im Rahmen dieser Mitteilung zu ergreifenden Maßnahmen wird die Kommission die Debatte entschlossen fortsetzen und gegebenenfalls innerhalb ihres eigenen Zuständigkeitsbereichs zusätzliche Maßnahmen treffen. Gemeinsames Ziel muss es sein, einen koordinierten und kohärenten strategischen Ansatz für die Union zu entwickeln, der alle maßgeblichen Akteure einbezieht. Zentrale Elemente eines solchen strategischen Ansatzes sind u. a. die Förderung einer gemeinsamen Rechtsstaatlichkeitskultur, die Möglichkeit, Problemen frühzeitig durch Präventivmaßnahmen zu begegnen, und die Entschlossenheit zu wirkungsvollem gemeinsamem Handeln, wo immer dies zur Eindämmung von Problemen erforderlich ist, wenn Präventivmaßnahmen nicht ausreichen.
Als Teil des von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmenkonzepts enthält die vorliegende Mitteilung eine Reihe von Selbstverpflichtungen und möglichen Denkansätzen. Diese werden in den kommenden Monaten in Zusammenarbeit mit den anderen EU-Organen, den Mitgliedstaaten und Interessenträgern kontinuierlich aktualisiert werden müssen. Bei der Debatte wurden zahlreiche gute Ideen geäußert, die eine weitergehende Prüfung verdienen und die neben den im Rahmen dieser Mitteilung eingeleiteten Schritten künftig in konkrete Maßnahmen einfließen werden. Die Kommission fordert alle Beteiligten auf, sich an der Debatte zu beteiligen, und sieht dem Dialog mit dem neu gewählten Parlament und dem Rat über ein abgestimmtes Vorgehen erwartungsvoll entgegen.
In der Zwischenzeit wird die Kommission ihrer Rolle als Hüterin der Verträge auch weiterhin voll und ganz gerecht werden und zu diesem Zweck angemessene und verhältnismäßige Maßnahmen zur Einhaltung des EU-Rechts ergreifen und in die Stärkung der diesbezüglichen Kapazitäten der EU investieren. Im Ergebnis sollte die Rechtsstaatlichkeit in der EU gestärkt und der zentralen Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für alle EU-Bürger und für die EU als Ganzes in vollem Umfang Rechnung getragen werden.