5.7.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 228/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 228/04)

Berichterstatter: Christian MOOS

Befassung

12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.3.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.3.2019

Plenartagung Nr.

542

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

145/5/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nicht unerhebliche politische Kräfte in Europa, in erster Linie, aber nicht ausschließlich rechtsextreme Bewegungen und Parteien, von denen einige bereits an Regierungen beteiligt sind, untergraben die liberale Demokratie und wollen die Europäische Union zunichtemachen.

1.2.

Die plurale Zivilgesellschaft, durch die sich die liberale Demokratie auszeichnet, beruht auf den bürgerlichen Freiheiten, die durch autoritäre Tendenzen gefährdet sind. Ihr kommt eine zentrale Rolle beim Erhalt der liberalen Demokratie in Europa zu.

1.3.

Die liberale Demokratie erfordert unter anderem die Gewährleistung der Grundrechte, eine unabhängige Justiz, ein funktionierendes System der wechselseitigen Gewaltenkontrolle, einen korruptionsfreien öffentlichen Dienst mit gut funktionierenden Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sowie eine lebendige Zivilgesellschaft.

1.4.

Eine unabhängige Zivilgesellschaft ist eine wichtige demokratische Kontrollinstanz und eine Schule der Demokratie. Sie stärkt zudem den sozialen Zusammenhalt. Allerdings kann sie die genannten Funktionen nur dann erfüllen, wenn die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen dies zulassen. Versuche, staatsunabhängige Finanzierung zu erschweren, beschneiden die Vereinigungsfreiheit und das Funktionieren der Demokratie.

1.5.

Zivilgesellschaft und Demokratie werden in vielen Bereichen infrage gestellt. Rechtspopulisten stellen den emanzipatorischen Fortschritt infrage.

1.6.

Die gesellschaftliche Polarisierung findet ihren Niederschlag auch in der Entstehung einer „uncivil society“(unzivilen Gesellschaft). Populistische Deutungsmuster finden immer mehr Widerhall bei etablierten Akteuren in staatlichen und überstaatlichen Institutionen.

1.7.

Autoritäre Kräfte, auch aus Drittstaaten, unterstützen diese Entwicklung hin zu einer illiberalen Demokratie, die die Freiheit der Medien schwächt und die Korruption in Europa fördert.

1.8.

Bis dato fehlt der EU aber ein geeignetes Instrumentarium, um die Bewahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit effektiv auch in den Mitgliedstaaten durchzusetzen.

1.9.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ruft alle Mitgliedstaaten auf, alle Bestrebungen zu unterlassen, die auf die Errichtung einer illiberalen Demokratie zielen. Wenn sich bestimmte Mitgliedstaaten dem Autoritarismus beugen, muss die EU die Bestimmungen des Vertrags voll ausschöpfen.

1.10.

Parteien, die sich gegen die liberale Demokratie wenden, sollten aus ihren politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihren Fraktionen im Europäischen Parlament ausgeschlossen werden.

1.11.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einem Demokratiesemester und einem EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sowie einem Demokratie-Scoreboard.

1.12.

Der EWSA ist der Auffassung, dass wirtschaftliche Sanktionen erwogen werden sollten, wenn Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) nicht eingehalten wird.

1.13.

Kürzungen, die im Rahmen des Schutzes des EU-Haushalts vor Defiziten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit erfolgen, dürfen nicht zulasten zivilgesellschaftlicher Förderempfänger gehen.

1.14.

Der EWSA regt an, im neuen MFR ausreichend Flexibilität vorzusehen, die eine stärkere Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen erlaubt, wenn nationale Regierungen aus politischen Gründen deren Förderung reduzieren oder einstellen.

1.15.

Der EWSA unterstreicht, dass Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft, die unter dem neuen MFR Förderung durch die EU erhalten, sich klar zu den europäischen Werten bekennen müssen.

1.16.

Der EWSA fordert die Unionsgesetzgeber auf, den Verwaltungsaufwand, insbesondere für kleine Initiativen und Organisationen, weiter zu reduzieren.

1.17.

Zur Stärkung der grenzüberschreitenden Vernetzung und um besser über die bestehenden Förderinstrumente zu informieren sollte die Kommission nach Auffassung des EWSA mehr in die zivilgesellschaftliche Kapazitätsbildung investieren. Die Kommission sollte Vorschläge für Mindeststandards zur Vereinbarkeit von Beruf und Ehrenamt im Rahmen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten machen.

1.18.

Der EWSA unterstützt die Forderung des Parlaments nach einem Vorschlag für die Schaffung eines europäischen Statuts für Verbände, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit und Stiftungen, bzw. schlägt als ersten Schritt die Einrichtung eines alternativen Systems für die offizielle interinstitutionelle Akkreditierung vor.

1.19.

Der EWSA hält es für sinnvoll zu untersuchen, warum dieses Dossier nicht weiterverfolgt wird. Gleichzeitig sollte eine interinstitutionelle Zulassung, eine Art Gütezeichen für Nichtregierungsorganisationen ins Auge gefasst werden. Der EWSA sollte diese Möglichkeit prüfen.

1.20.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zur Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft einzuführen, die weder den öffentlichen Dienstleistungen noch der Steuergerechtigkeit schaden.

1.21.

Der EWSA fordert die EU-Organe auf, die partizipative Demokratie weiter zu stärken.

1.22.

Der EWSA erwartet von allen Akteuren, dass sie auf eine europäische Politik hinarbeiten, die konkrete Verbesserungen für das Leben der Menschen bringt.

1.23.

Nationale und EU-Politiker müssen drängende soziale Fragen angehen und eine soziale Nachhaltigkeit gewährleisten, die inklusive Bildungssysteme, inklusives Wachstum, wettbewerbsfähige und innovative Unternehmen, gut funktionierende Arbeitsmärkte, eine gerechte und angemessene Besteuerung und effiziente öffentliche Dienstleistungen sowie Sozialversicherungssysteme umfasst.

1.24.

Zur Verteidigung der grundlegenden europäischen Werte brauchen wir starke Sozialpartner und eine starke Zivilgesellschaft in all ihrer Vielfalt.

2.   Begriffsbestimmungen

2.1.

„Liberale Demokratien“sind Staatssysteme, die Demokratie mit Verfassungsliberalismus verbinden, was die Macht der regierenden Mehrheit durch die Gewährleistung individueller politischer und anderer Freiheiten einschränkt. Es sind repräsentative Demokratien mit Mehrparteiensystemen und pluralen Zivilgesellschaften, mit einem System der wechselseitigen Gewaltenkontrolle einschließlich einer unabhängigen Justiz, das die Aufsicht über die Regierung und die Freiheit der Medien sicherstellt. Jede natürliche und juristische Person unterliegt dabei gleichermaßen der Rechtsstaatlichkeit. In liberalen Demokratien werden Minderheiten geachtet und geschützt und sind die Bürgerrechte (insbesondere das aktive und passive Wahlrecht), die bürgerlichen Freiheiten (z. B. die Vereinigungsfreiheit), die Menschenrechte und die Grundfreiheiten garantiert.

2.2.

Eine gut funktionierende liberale Demokratie ist ein politisches System, in dem die Behörden permanent in der Rechenschaftspflicht stehen und das die Mitwirkung, Partizipation und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Mittlerorganisationen in allen gesellschaftlichen Bereichen fördert.

2.3.

Die „partizipative Demokratie“ergänzt die repräsentative Demokratie und benötigt Mittlerorganisationen (Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Berufsverbände, themenspezifische Vereinigungen usw.), damit die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden und die Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft die Europathemen und die Gestaltung eines gerechteren, inklusiveren und solidarischeren Europas mittragen.

2.4.

„Illiberale Demokratien“sind politische Systeme, in denen zwar Wahlen stattfinden, aber der Verfassungsliberalismus nicht etabliert ist. Demokratisch gewählte Führer schränken bürgerliche Rechte und Freiheiten und den Minderheitenschutz ein. Die wechselseitige Gewaltenkontrolle und die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien werden untergraben, um die uneingeschränkte Herrschaft der Regierungsmehrheit von verfassungsrechtlichen Einschränkungen und Kontrollen zu befreien.

2.5.

Eine plurale „Zivilgesellschaft“, die die Grundsätze der Demokratie und des Verfassungsliberalismus achtet, ist ein zentrales Element der liberalen Demokratie. Die Zivilgesellschaft besteht aus einzelnen Bürgern, die sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder über informellen Formen der Partizipation engagieren, und fungiert als Mittler zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern. Die Zivilgesellschaft artikuliert nicht nur die Interessen der Bürger, begleitet mit ihrer Fachkenntnis das Gesetzgebungsverfahren und fordert die Rechenschaftspflicht der Entscheidungsträger ein, sie stärkt auch den sozialen Zusammenhalt, schafft eine Identität und wirkt so gemeinschaftsstiftend und integrativ. Darüber hinaus widmet sich ein breit gefächertes Spektrum zivilgesellschaftlicher Organisationen, insbesondere die Sozialpartner, der praktischen nichtkommerziellen Arbeit und karitativen und anderen gemeinwohlorientierten Zielen, einschließlich Formen der gegenseitigen Selbsthilfe.

2.6.

Eine lebendige Zivilgesellschaft ist ein zentrales Element einer funktionierenden liberalen Demokratie. Allerdings engagieren sich auch ihre Gegner politisch in offiziellen Organisationen oder informellen Formen der Partizipation. Eine solche „uncivil society“(unzivile Gesellschaft) achtet weder die Grundsätze der Demokratie noch den Verfassungsliberalismus, sondern fördert vielmehr das Konzept der „illiberalen Demokratie“. Sie missbraucht politische Teilhaberechte, um das bestehende System der wechselseitigen Gewaltenkontrolle, die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz auszuhebeln und die Freiheit der Medien einzuschränken. Sie strebt eine Einschränkung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten und des Minderheitenschutzes an. Die „unzivile Gesellschaft“wirkt nicht gesellschaftlich integrierend und stärkt nicht den sozialen Zusammenhalt, sondern fördert ein ausgrenzendes nationalistisches Verständnis von Gesellschaft, das viele Bürger, insbesondere Minderheiten, ausschließt.

2.7.

„Populismus“ist eine recht dürftige Ideologie, die behauptet, dass es ein homogenes Volk mit einem einheitlichen Willen gibt. Populisten behaupten von sich, die einzigen und wahren Vertreter dieses Willens zu sein. Der Populismus kennt zwar keine klare Definition für „das Volk“, aber er erklärt z. B. die „Eliten“zu Feinden und Gegnern des Volkes, die dem wahren Willen des Volkes im Wege stünden. Populisten entsachlichen die politische Debatte, um Ängste zu schüren.

3.   Hintergrund

3.1.

Die Demokratie wird durch den Populismus infrage gestellt, gegenwärtig insbesondere durch rechtsextreme Parteien und Bewegungen. Sie unterminieren die liberale Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit, darunter auch den Minderheitenschutz, die wechselseitige Gewaltenkontrolle sowie klare Machtbegrenzungen.

3.2.

In einigen Mitgliedstaaten sind diese Kräfte bereits an Regierungen beteiligt. Überall behaupten sie, den „wahren“Willen des „Volkes gegen die Eliten“zu vertreten. Sie machen falsche Versprechen, leugnen politische Herausforderungen wie den Klimawandel und wollen das europäische Projekt und seine Errungenschaften zunichtemachen.

3.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich einige Bürger auch aus Enttäuschung Populisten und Extremisten zuwenden, ohne deren Programme in Gänze zu teilen. Das wachsende Wohlstands- und Einkommensgefälle sowie die Armut bieten rechten Gruppierungen einen Nährboden für den Ruf nach mehr Nationalismus als Reaktion auf die Globalisierung.

3.4.

Trotz autoritärer Tendenzen und wirtschaftlicher Probleme wie der Ungleichheit ist Europa nach wie vor ein Leuchtturm der liberalen Demokratie in der Welt und wird von vielen Menschen in autokratischen Regimes bewundert.

3.5.

Eine plurale Zivilgesellschaft ist eines der Kennzeichen einer liberalen Demokratie und konstitutiv für jede Grundordnung, die auf bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit beruht. Zum Schutz dieser Prinzipien hat der EWSA eine Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit eingerichtet, da er eine offene Zivilgesellschaft und die bürgerlichen Freiheiten gegenwärtig durch autoritäre Tendenzen bedroht sieht. Denn Freiheit und eine offene Zivilgesellschaft sind unvereinbar mit der Idee einer illiberalen oder gelenkten Demokratie.

3.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle beim Erhalt der liberalen Demokratie in Europa zukommt. Nur eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft kann Demokratie und Freiheit verteidigen, Europa vor der autoritären Versuchung bewahren.

3.7.

Eine starke und plurale unabhängige Zivilgesellschaft ist in allen Demokratien von Wert. Die Organisationen der Zivilgesellschaft bieten Unterstützung bei der Organisierung und Mobilisierung der Bürger für das Gemeinwohl und tragen damit entscheidend zur Förderung der europäischen Werte bei.

3.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Vertrauen in die EU in ganz Europa abnimmt, was in einigen Ländern mit wachsenden Spannungen mit Minderheiten, Fremdenfeindlichkeit, zunehmender Korruption, Vetternwirtschaft und schwachen demokratischen Institutionen einhergeht. In diesen Situationen sind die Nichtregierungsorganisationen oft die einzigen Akteure, die sich für die zentralen Werte des europäischen Projekts wie die Achtung der Menschenrechte, Freiheit, Toleranz und Solidarität starkmachen und diese fördern.

3.9.

In Artikel 11 EUV werden die EU-Organe dazu aufgerufen, die Beziehungen zu den Akteuren der Zivilgesellschaft, insbesondere zu den Verbänden, zu pflegen.

3.10.

Die Dichte der Verbandslandschaft und ihre Bedeutung für den zivilen Dialog sind Indikatoren für die Qualität des demokratischen Lebens eines Landes. Die sozialen und bürgerschaftlichen Aufgaben der Verbände sind von grundlegender Bedeutung für eine voll funktionsfähige Demokratie, insbesondere in diesen Zeiten der Politikverdrossenheit.

3.11.

Der EWSA hebt hervor, dass Formen des Engagements, die politische Teilhaberechte dazu missbrauchen, Demokratie, rechtsstaatliche Garantien und eine unabhängige Justiz abzuschaffen, nicht zur Zivilgesellschaft zählen.

4.   Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Demokratie

4.1.

Die Unionsbürger können ihr Recht zur demokratischen Teilhabe nicht nur durch ihr aktives und passives Wahlrecht, sondern auch durch zivilgesellschaftliches Engagement ausüben. Die Mittlerorganisationen im EWSA sowie auch die europäischen Netze zivilgesellschaftlicher Organisationen wie z. B. „Civil Society Europe“sind die wichtigsten Orte ihrer Vertretung auf EU-Ebene.

4.2.

Erst die Garantie der persönlichen Freiheitsrechte, insbesondere der Freiheit der Meinungsäußerung, der Informationsfreiheit sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, und ihre Durchsetzung schaffen die Basis für eine plurale Demokratie und individuelle politische Teilhabe.

4.3.

Eine unabhängige Justiz ist die Garantin von Rechtsstaatlichkeit, Grund- und Menschenrechten sowie politischer Teilhaberechte. Die Unabhängigkeit der Justiz ist aber in Teilen Europas in Gefahr. Gegen Polen und Ungarn laufen Rechtsstaatsverfahren (1).

4.4.

Eine unabhängige Justiz ist Teil der Gewaltenkontrolle, die jede dauerhafte Majorisierung eines Teils der Gesellschaft durch eine politische Kraft unterbindet. Insbesondere dürfen politische Entscheidungsregeln nicht so verändert werden, dass einzelne Akteure dauerhaft von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden.

4.5.

Ebenso ist ein korruptionsfreier öffentlicher Dienst mit gut funktionierenden Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, der die Grundrechte achtet und einhält und in dem die Beamten ein Recht auf Remonstration haben, zentral für jede freiheitlich-rechtsstaatliche Grundordnung.

4.6.

Eine funktionierende liberale Demokratie benötigt zudem Bürger, die durch ihr Engagement zu einer Gesellschaft der Toleranz, Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit und Solidarität beitragen. Dazu bedarf es einer lebendigen Zivilgesellschaft, in der sich die Bürger freiwillig und ehrenamtlich im öffentlichen Raum engagieren. Ihre Freiwilligentätigkeit stützt sich auf die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechte. Gleichzeitig sind sie Garanten für die in der Charta verankerten Werte.

4.7.

In liberalen Demokratien ist eine unabhängige Zivilgesellschaft eine wichtige Kontrollinstanz, die die politischen Organe verantwortlich hält und die Politik zwingt, ihre Entscheidungen ausreichend zu begründen. Durch die kritische Begleitung von Entscheidungsprozessen und die Bewertung der Umsetzung politischer Beschlüsse und der Politik im Allgemeinen schafft Zivilgesellschaft Transparenz und leistet durch ihr Fachwissen einen Beitrag zu besserem Regierungshandeln.

4.8.

Die Zivilgesellschaft ist eine Schule der Demokratie, die zur politischen Teilhabe befähigt und der politischen Bildung dient, die die öffentliche Bildung ergänzt.

4.9.

Parallel dazu kommt der öffentlichen Bildung auch eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung demokratischer Werte und der politischen Bildung zu, denn sie ermöglicht jungen Bürgerinnen und Bürgern die Teilhabe an der Zivilgesellschaft und die Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten.

4.10.

Die Zivilgesellschaft hat eine gemeinschaftsbildende und integrative Funktion, indem sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und Identität stiftet. Insbesondere muss sie die Bürger dazu befähigen, sich ihrer Rechte zu bedienen und so einen Beitrag für eine europäische Bürgergemeinschaft zu leisten.

4.11.

Der EWSA hebt hervor, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen die genannten Funktionen nur dann erfüllen können, wenn die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen dies zulassen.

5.   Aktuelle Gefährdungen

5.1.

Nach Auffassung des EWSA stellen extremistische politische Gruppierungen die europäische Zivilgesellschaft in vielen Bereichen derzeit infrage. Die Wahlergebnisse in praktisch allen Mitgliedstaaten zeigen eindrücklich, dass diese Bewegungen wachsenden Zuspruch finden und dass einige Bürger das Vertrauen in demokratische Institutionen verlieren.

5.2.

Am rechten äußeren Rand des politischen Spektrums erstarken populistische und extremistische Kräfte, die mit wachsendem Erfolg versuchen, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa salonfähig zu machen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören.

5.3.

Rechtspopulisten und Rechtsextremisten stellen mit ihrem reaktionären Familienbild den emanzipatorischen Fortschritt infrage. Sie wenden sich gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter und propagieren Homophobie.

5.4.

Die gesellschaftliche Polarisierung findet ihren Niederschlag auch in der Entstehung einer „uncivil society“(unzivilen Gesellschaft). Eine wachsende Zahl von NGO und Formen des Engagements propagieren die Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft. Sie teilen nicht die in Artikel 2 EUV niedergelegten europäischen Werte, insbesondere Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, sondern setzen sich stattdessen für eine alternative demokratiefeindliche politische Ordnung ein.

5.5.

Befördert durch die Anonymität im Internet und in den sozialen Medien und geschürt durch Desinformationskampagnen wandelt sich die politische und gesellschaftliche Debattenkultur, die in wachsendem Maße von Verrohung Aggressivität und Polarisierung gekennzeichnet ist. Angesichts dessen konnte die Kommunikationskrise in Bezug auf das europäische Projekt trotz der Bemühungen proeuropäischer Akteure um die Vermittlung europäischer Werte in der Öffentlichkeit nicht grundsätzlich behoben werden.

5.6.

Moderate Politiker übernehmen zunehmend populistische Denkweisen, wie der Brexit gezeigt hat. Vertreter der illiberalen Demokratie finden zunehmend Zugang zu staatlichen und überstaatlichen Institutionen. Von dort können sie den Einfluss ihrer Ideen immer weiter ausbauen.

5.7.

Autoritäre Regierungen aus Drittstaaten unterstützen das Aufkommen populistischer und extremistischer Akteure in Europa und befördern durch Gelder und gezielte Desinformation den Wandel der Debattenkultur in den traditionellen Medien und über das Internet, um die Stabilität der EU zu untergraben.

5.8.

Der EWSA zeigt sich zutiefst besorgt, dass eine Transformation politischer Systeme in Europa hin zur illiberalen Demokratie begonnen hat. Reformen in einigen Mitgliedstaaten sind geeignet, die effektive Teilhabe aller Bürger an politischen Entscheidungen zu erschweren, und gesetzlich verankerte Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement werden ausgehöhlt.

5.9.

Damit die Zivilgesellschaft ihre Funktion als Kontrollinstanz politischer Organe wahrnehmen kann, bedarf sie der dafür notwendigen Ressourcen. Versuche, staatsunabhängige Finanzierung zu erschweren, beschneiden die Vereinigungsfreiheit und das Funktionieren der Demokratie.

5.10.

Besonders besorgniserregend ist der für Europa in den letzten fünf Jahren feststellbare negative Trend hin zu weniger Freiheit der Medien. Die schwache wirtschaftliche Basis unabhängiger Medien, die Beseitigung der institutionellen Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder ein Monopol privater Medien, insbesondere solche kontrolliert von regierenden Politikern, gefährden die vierte Gewalt.

5.11.

Gerade die Verquickung politischer und wirtschaftlicher Interessen erhöht die von Korruption ausgehende Gefahr für Demokratie. Entsprechend kritisch sind fehlende Fortschritte bei der Bekämpfung der Korruption in Europa zu bewerten. Erschwerend kommen deutliche Verschlechterungen in einigen Mitgliedstaaten hinzu.

5.12.

Der Wert der EU für die liberale Demokratie ist unverkennbar. Im vereinten Europa ist die Herrschaft des Rechts an die Stelle des Rechts des Stärkeren getreten. Bis dato fehlt der EU aber ein geeignetes Instrumentarium, die Bewahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit effektiv auch in ihren Mitgliedstaaten durchzusetzen. Trotz oder gerade wegen dieser Schwäche gilt: Die EU ist die vorderste Verteidigungslinie der liberalen Demokratie in Europa.

6.   Handlungsempfehlungen zur Stärkung der resilienten Zivilgesellschaft in Europa

Der EWSA ruft alle Mitgliedstaaten dazu auf, die Werte der EU gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zu achten und alle Bestrebungen zu unterlassen, die auf die Errichtung einer illiberalen Demokratie zielen. Nur wenn die Bürger durch ihr politisches Engagement nicht gefährdet sind, kann eine plurale und resiliente Zivilgesellschaft bestehen und ihrerseits die Demokratie schützen. Wenn Mitgliedstaaten dennoch dem Autoritarismus erliegen, muss die EU die aktuell verfügbaren Rechtsinstrumente voll ausschöpfen, etwa das Vertragsverletzungsverfahren und den EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips von 2014.

6.1.

Den Mitgliedstaaten muss unmissverständlich klargemacht werden, dass eine Abkehr von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU inakzeptabel ist.

6.2.

Der EWSA erinnert an das Verfahren gemäß Artikel 7 EUV, das es dem Rat erlaubt, im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Werte gemäß Artikel 2 EUV durch einen Mitgliedstaat diesem das Stimmrecht im Rat zu entziehen.

6.3.

Der EWSA bekräftigt seine analog zum Europäischen Parlament erhobene Forderung nach einem Demokratiesemester und einem EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte (2). Er schlägt die Schaffung eines Demokratie-Scoreboards vor, das u. a. die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement erfasst und zu konkreten Reformempfehlungen führt.

6.4.

Parteien, die sich gegen die Demokratie wenden, sollten aus ihrer politischen Partei auf europäischer Ebene und ihrer Fraktion im Europäischen Parlament ausgeschlossen werden.

6.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein Mechanismus erwogen werden sollte, in dessen Rahmen bei Nichtumsetzung der Reformempfehlungen korrigierende wirtschaftliche Maßnahmen beschlossen werden können.

6.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, „den EU-Haushalt besser vor den finanziellen Risiken zu schützen, die von generellen Rechtsstaatlichkeitsdefiziten in den Mitgliedstaaten ausgehen“als Schritt in die richtige Richtung (3).

6.7.

Die im Rahmen des neuen Mechanismus beschlossenen Kürzungen dürfen nicht zulasten zivilgesellschaftlicher Förderempfänger gehen, die direkte Unterstützung von der EU-Ebene erhalten sollten.

6.8.

Der EWSA kritisiert jedoch den ausschließlichen Bezug des Mechanismus zur soliden Haushaltsführung. Er fordert, dass auch Defizite im Bereich der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die keinen unmittelbaren Bezug zur soliden Haushaltsführung haben, Gegenstand eines entsprechenden Verfahrens sein können.

6.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, im nächsten MFR ein neues Cluster „In die Menschen investieren, sozialer Zusammenhalt und Werte“zu schaffen, als Beitrag zur Stärkung der Resilienz der europäischen Zivilgesellschaft. Besonders begrüßenswert ist die Einrichtung eines neuen „Fonds für Justiz, Rechte und Werte“, zu dem der EWSA Stellung genommen (4) hat.

6.10.

Der EWSA regt darüber hinaus an, im neuen MFR ausreichend Flexibilität vorzusehen, die es der Kommission erlaubt, die Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen zu erhöhen, wenn nationale Regierungen aus politischen Gründen deren Förderung reduzieren oder einstellen. Diese zusätzliche Förderung sollte nicht zum dauerhaften Ersatz nationaler Fördermittel führen, sondern nach Möglichkeit mit einer kompensatorischen Reduzierung der Förderung für den jeweiligen Mitgliedstaat in anderen Bereichen einhergehen.

6.11.

Der EWSA unterstreicht weiter, dass Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft, die unter dem neuen MFR Förderung durch die EU erhalten, sich klar zu den europäischen Werten gemäß Artikel 2 EUV bekennen müssen. Organisationen, die sich für die Abschaffung von Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, für Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit einsetzen, sollen von der Förderung ausgeschlossen werden.

6.12.

Angesichts des sich ändernden Partizipationsverhaltens der Bürger, einer wachsenden Anzahl an informellen und spontanen Initiativen fordert der EWSA den Unionsgesetzgeber dazu auf, den mit der Beantragung, Durchführung und Abrechnung von EU-geförderten Projekten verbundenen Verwaltungsaufwand weiter zu reduzieren und Förderinstrumente speziell für kleine Initiativen und Organisationen vorzusehen.

6.13.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, besser über die bestehenden Förderinstrumente für die Zivilgesellschaft zu informieren. Dabei sollten insbesondere auch Akteure in abgelegenen Regionen der Mitgliedstaaten angesprochen werden.

6.14.

Um die Einhaltung der Förderbedingungen sowie Grundsätze einer soliden Haushaltsführung durch zivilgesellschaftliche Akteure zu verbessern, fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, verstärkt in die zivilgesellschaftliche Kapazitätsbildung zu investieren.

6.15.

Der EWSA schlägt vor, Instrumente zur grenzüberschreitenden Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure zu schaffen oder auszubauen.

6.16.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zur Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft einzuführen, die weder den öffentlichen Dienstleistungen noch der Steuergerechtigkeit schaden. Zum Beispiel könnte unter Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit von Nichtregierungsorganisationen eine begrenzte steuerliche Absetzbarkeit von Mitglieds- und Förderbeiträgen ins Auge gefasst werden.

6.17.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Vorschläge für eine bessere Umsetzung der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige (5) vorzulegen, um Freiwilligentätigkeit und gesellschaftliches Engagement im Berufsleben aufzuwerten.

6.18.

Der EWSA unterstützt die an die Kommission gerichtete Aufforderung des Parlaments (6), einen Vorschlag für die Schaffung eines europäischen Statuts für Verbände, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit und Stiftungen vorzulegen. Eine ergänzende europäische Rechtsform bzw. ein alternatives System der offiziellen interinstitutionellen Akkreditierung wäre ein erster Schritt, um zivilgesellschaftlichen Organisationen zu helfen, die in ihren Mitgliedstaaten rechtlich nicht mehr ausreichend geschützt sind.

6.19.

Der EWSA hält es für sinnvoll zu untersuchen, warum dieses Dossier nicht weiterverfolgt wird. Gleichzeitig sollte eine interinstitutionelle Zulassung, eine Art Gütezeichen für Nichtregierungsorganisationen ins Auge gefasst werden. Der EWSA sollte diese Möglichkeit prüfen.

6.20.

Der EWSA fordert die EU-Organe auf, die Bestimmungen des Artikel 11 EUV umzusetzen und die partizipative Demokratie auf Unionsebene durch die Einbeziehung repräsentativer Verbände und der Zivilgesellschaft weiter zu stärken und von der Konsultation zu einem echten Dialog überzugehen.

6.21.

Um zu verhindern, dass die Bürger das Vertrauen in die europäischen Institutionen verlieren, ist es wichtig, dass die europäische Politik konkrete Verbesserungen für deren Alltag bringt und diese auch deutlich werden.

6.22.

Eine resiliente Zivilgesellschaft braucht stabile soziale Rahmenbedingungen. Die nationale und die EU-Politik muss dieses Problem angehen und soziale Nachhaltigkeit gewährleisten, die inklusive Bildungssysteme, inklusives Wachstum, wettbewerbsfähige und innovative Unternehmen sowie gut funktionierende Arbeitsmärkte, eine gerechte und angemessene Besteuerung und effiziente öffentliche Dienstleistungen sowie Sozialversicherungssysteme umfasst. Andernfalls werden Unruhen, sinkende Wahlbeteiligung oder zunehmender Extremismus die liberale Demokratie in ihren Grundfesten erschüttern. Die sozialen und wirtschaftlichen Rechte sind untrennbar mit den bürgerlichen und politischen Rechten verbunden.

6.23.

Als Grundpfeiler der Zivilgesellschaft sind starke Sozialpartner von entscheidender Bedeutung für die Stabilisierung der europäischen Demokratien. Zur Verteidigung der grundlegenden europäischen Werte brauchen wir jedoch eine starke Zivilgesellschaft in all ihrer Vielfalt.

Brüssel, den 20. März 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Z. B. Rechtssache C-619/18, Kommission/Polen; laufendes Verfahren C-78/18 Kommission/Ungarn.

(2)  ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 8.

(3)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 173.

(4)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 178.

(5)  COM(2017) 253 final; ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44.

(6)  Erklärung des EP, 10. März 2011.


  翻译: