EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 30.9.2020
COM(2020) 580 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN
Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020
Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union
{SWD(2020) 300-326}
Der Rechtsstaat schützt die Menschen vor dem Recht des Stärkeren.
Er ist jeden Tag Garant für unsere fundamentalen Rechte und Freiheiten.
Er garantiert Meinungsfreiheit und Pressefreiheit.
Präsidentin von der Leyen, Rede zur Lage der Union 2020
1.Einleitung
Die Europäische Union stützt sich auf gemeinsame Werte, zu denen die Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören. Sie sind das Fundament unserer Gesellschaften und unserer gemeinsamen Identität. Für eine starke Demokratie sind unabhängige Gerichte, die den Schutz der Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten garantieren, eine aktive Zivilgesellschaft sowie freie und pluralistische Medien unverzichtbar. Weltweit wird anerkannt, dass die EU über sehr hohe Standards in diesen Bereichen verfügt. Dennoch werden diese hohen Standards nicht immer gleichermaßen angewendet, Verbesserungen sind möglich und es besteht stets das Risiko von Rückschritten. Das Einstehen für unsere Grundwerte ist eine gemeinsame Verantwortung aller EU-Organe und Mitgliedstaaten, zu der alle ihren Beitrag leisten sollten.
Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit?
Die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankerte Rechtsstaatlichkeit ist einer der Werte, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Nach dem Rechtsstaatsprinzip muss jegliche Staatsgewalt in den Grenzen von Recht und Gesetz und im Einklang mit den Werten der Demokratie und den Grundrechten unter der Kontrolle unabhängiger und unparteiischer Gerichte ausgeübt werden. Die Rechtsstaatlichkeit umfasst unter anderem folgende Grundsätze: Rechtmäßigkeit, hierzu zählen transparente, auf der Rechenschaftspflicht beruhende, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung exekutiver Gewalt, wirksamer Rechts- und Grundrechtsschutz sowie gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen der Exekutive durch unabhängige und unparteiische Gerichte, Gewaltenteilung und die Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Grundsätze wurden vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Darüber hinaus hat der Europarat Standards erarbeitet sowie Stellungnahmen und Empfehlungen herausgegeben, die etablierte Leitlinien zur Förderung und Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bieten.
Bei der Rechtsstaatlichkeit handelt es sich um einen allgemein anerkannten Grundsatz. Zwar haben die Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Identitäten, Rechtssysteme und Traditionen, die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit ist im Kern jedoch in der gesamten EU gleich. Die Achtung des Rechtsstaatsprinzips ist für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen in öffentliche Einrichtungen von wesentlicher Bedeutung, und seine zentralen Grundsätze werden von den Bürgern aller Mitgliedstaaten befürwortet. Die Rechtsstaatlichkeit hat direkten Einfluss auf das Leben aller Bürger. Sie ist eine Voraussetzung, um die Gleichbehandlung vor dem Gesetz sicherzustellen und die Rechte der Unionsbürger zu verteidigen. Sie ist wesentlich für die Umsetzung der EU-Vorschriften und -Leitlinien und steht im Mittelpunkt einer Union der Gleichstellung, Chancengleichheit und sozialen Gerechtigkeit. Die besonderen Umstände im Jahr 2020 haben zusätzliche Herausforderungen für die Rechte der Bürger mit sich gebracht, und zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie mussten bestimmte Einschränkungen unserer Freiheiten, wie der Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit oder unternehmerischen Freiheit, vorgenommen werden. Ein wirksames nationales System von Kontrolle und Gegenkontrolle unter Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist entscheidend, damit sichergestellt ist, dass solche Einschränkungen unserer Rechte auf das notwendige Maß beschränkt und verhältnismäßig sowie zeitlich befristet sind und der Aufsicht der nationalen Parlamente und Gerichte unterstehen.
Stärkung der Rechtsstaatlichkeit: Eine Priorität für ein wirksames Funktionieren der Union
Grundlage der EU bildet die Rechtsstaatlichkeit. Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit erschüttern sie ihren rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Grundfesten. Schwachstellen in einem Mitgliedstaat haben Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten und die EU insgesamt. Die Einhaltung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips liegt in der primären Verantwortung jedes Mitgliedstaats, doch die Union hat einen gemeinsamen Anteil und spielt eine Rolle bei der Lösung von Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, wann immer diese auftreten. Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist auch das wesentliche Element für das Funktionieren des Binnenmarkts, die Zusammenarbeit im Bereich Justiz auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und Anerkennung und den Schutz der finanziellen Interessen der Union, wie vor Kurzem vom Europäischen Rat betont wurde.
Wenn die EU die Aufgabe einer nachhaltigen und stabilen Erholung erfolgreich meistern soll, ist es von zentraler Bedeutung, dass ihre Werkzeuge und Instrumente in einem Umfeld wirken können, das auf Rechtsstaatlichkeit basiert.
Die Rechtsstaatlichkeit ist für die EU auch über ihre Grenzen hinaus ein wichtiges Thema. Die EU wird bei ihren internen Strategien für die Rechtsstaatlichkeit und der Art und Weise, wie die Rechtsstaatlichkeit in die Maßnahmen mit Beitritts- und Nachbarländern sowie in ihre Außenpolitik auf bi- und multilateraler und auf regionaler Ebene eingebettet wird, weiterhin ein stimmiges und wirkungsstarkes Konzept verfolgen.
Die EU orientiert sich an den universellen Werten und Grundsätzen der UN-Charta und des Völkerrechts und tritt weltweit nachdrücklich für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein, wie es den UN-Zielen für die nachhaltige Entwicklung entspricht. Das wird auch an ihrem Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020-2024 deutlich. Zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auf globaler Ebene gehört die Intensivierung der Zusammenarbeit in Fragen der Rechtsstaatlichkeit mit internationalen und regionalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Europarat und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Im vergangenen Jahrzehnt hat die EU eine Reihe von Instrumenten geschaffen und erprobt, um zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit beizutragen. Die in manchen Mitgliedstaaten zu beobachtenden großen Herausforderungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit führten zu weiteren Debatten auf EU- und nationaler Ebene über die Frage, wie die EU für den Umgang mit solchen Situationen besser aufgestellt werden kann. In ihrer Mitteilung von Juli 2019 schlug die Kommission vor, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die Anstrengungen zur Förderung einer stabilen politischen und rechtlichen Kultur für die Stützung der Rechtsstaatlichkeit steigern sowie Instrumente entwickeln sollten, mit denen verhindert wird, dass Probleme im Bereich der Rechtsstaatlichkeit entstehen oder sich vertiefen.
Der europäische Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit
In den politischen Leitlinien von Präsidentin von der Leyen wird die Absicht zur Einrichtung eines zusätzlichen und umfassenden Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit als wichtiger Baustein des gemeinsamen Engagements der EU und der Mitgliedstaaten zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit dargelegt. Der Mechanismus ist als jährlicher Zyklus konzipiert, um die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und zu verhindern, dass Probleme entstehen oder sich verschärfen. Sein Schwerpunkt liegt auf einer Verbesserung des Verständnisses und einer Sensibilisierung für Probleme und wesentliche Entwicklungen in Bereichen, die sich direkt auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auswirken – Justizsystem, Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus und Medienfreiheit sowie weitere institutionelle Aspekte in Zusammenhang mit dem System von Kontrolle und Gegenkontrolle. Durch das Erkennen von Herausforderungen werden die Mitgliedstaaten dabei unterstützt, gemeinsam und mit gegenseitiger Unterstützung der Kommission, anderer Mitgliedstaaten und Interessenträger wie der Venedig-Kommission Lösungen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit zu finden.
Das Konzept beruht auf einem engen Dialog mit den nationalen Behörden und Interessenträgern, wodurch Transparenz erreicht wird und alle Mitgliedstaaten objektiv und unparteiisch einbezogen werden. Dies wird jährlich in einem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit zusammengefasst, der auch eine Bewertung der einzelnen Mitgliedstaaten in 27 Länderkapiteln umfasst. Durch diesen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit werden andere EU-Instrumente gestärkt und ergänzt, mit denen die Mitgliedstaaten ermutigt werden, Strukturreformen in den in seinen Anwendungsbereich fallenden Bereichen durchzuführen, wozu das EU-Justizbarometer und das Europäische Semester sowie jetzt das Instrument „Next Generation EU“ zählen. Die in dem Jahresbericht enthaltenen Bewertungen dienen als Referenzpunkt für diese Instrumente. Weitere Elemente des Instrumentariums der EU in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit werden bei Bedarf nach wie vor eine wirksame und verhältnismäßige Reaktion auf Herausforderungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ermöglichen.
Neben der Vertiefung des gemeinsamen Verständnisses durch Dialog setzt der Mechanismus für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit den Rahmen für die Unterstützung der Mitgliedstaaten und nationalen Interessenträger durch die Kommission bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Mehrere Instrumente und Finanzmittel tragen zur Unterstützung von Strukturreformen mittels technischer Hilfe und der Finanzierung von Projekten im Bereich öffentliche Verwaltung, Justiz, Korruptionsbekämpfung und Medienpluralismus bei. Zudem sind für Projekte mit einer europäischen Dimension spezifische und direkte Finanzhilfen für die Zivilgesellschaft und einschlägige Netzwerke (wie Richter, Journalisten) verfügbar. Reformen profitieren von den Fachkenntnissen anerkannter internationaler Stellen, insbesondere des Europarats, sowie vom Austausch mit in der Praxis tätigen Fachkräften aus anderen Mitgliedstaaten.
Um die Arbeit der EU im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu vertiefen, ist eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen den Organen der Union und den Mitgliedstaaten erforderlich. Ein zentrales Ziel des europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit besteht in der Förderung einer interinstitutionellen Zusammenarbeit und der Bestärkung aller Organe der Union, gemäß ihren jeweiligen institutionellen Funktionen einen Beitrag zu leisten. Dies ist ein zentraler Aspekt des europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, der ein seit Langem bestehendes Interesse sowohl des Europäischen Parlaments als auch des Rates widerspiegelt. Seine allgemeine und objektive Grundlage, die Mitgliedstaaten gleichermaßen zu berücksichtigen, ist zur Erreichung dieses Ziels konzipiert. Die Kommission freut sich, die derzeit von beiden Organen durchgeführten Arbeiten zu unterstützen, was auch die Folgemaßnahmen zu der sich derzeit in Vorbereitung befindlichen Entschließung des Europäischen Parlaments einschließt. Der europäische Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit wird dazu beitragen, die Diskussionen zur Rechtsstaatlichkeit auf EU-Ebene zu fokussieren und die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu stärken, sodass ein jährlicher Rhythmus bei der Arbeit des Europäischen Parlaments und des Rates, eine strukturierte und gezielte Nachverfolgung sowie eine Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten ermöglicht wird.
Der Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist ein Element eines breiteren Bemühens auf EU-Ebene, die Werte Demokratie, Gleichheit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, zu stärken. Er wird ergänzt durch eine Reihe von bevorstehenden Initiativen, darunter der Aktionsplan für Demokratie in Europa, die erneuerte Strategie zur Umsetzung der Charta der Grundrechte sowie gezielte Strategien, um den Bedürfnissen der gefährdetsten Gruppen in unseren Gesellschaften Rechnung zu tragen und eine Gesellschaft zu fördern, die von Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit geprägt ist.
Der erste Bericht über die Rechtsstaatlichkeit
Mit diesem Bericht und den 27 Länderkapiteln, in denen die spezifischen Bewertungen der einzelnen Mitgliedstaaten erläutert werden, will die Kommission zunächst die für die Lage in den Mitgliedstaaten kennzeichnenden Schlüsselelemente darlegen, auf denen der neue Zyklus des Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und künftige Berichte aufbauen werden.
Die in den 27 Länderkapiteln enthaltene Bewertung, die Bestandteil des vorliegenden Berichts über die Rechtsstaatlichkeit bildet, wurde in Übereinstimmung mit dem mit den Mitgliedstaaten erörterten Anwendungsbereich und unter Zugrundelegung der entsprechenden Methodik durchgeführt.
Die Arbeit konzentrierte sich auf vier wesentliche Pfeiler: das Justizsystem, den Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus sowie weitere Aspekte der institutionellen Kontrolle und Gegenkontrolle. Für jeden Pfeiler wurden bei der Methodik den für die Bewertung maßgeblichen Bestimmungen des EU-Rechts Rechnung getragen. Des Weiteren wird auf Stellungnahmen und Empfehlungen des Europarats Bezug genommen, die nützliche Orientierungshilfen bieten. Diese vier Bereiche wurden im Zuge der Vorbereitungen als wesentliche miteinander verflochtene Pfeiler für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ermittelt. Wirksame Justizsysteme und solide institutionelle Kontrollen und Gegenkontrollen sind für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in unseren Demokratien von zentraler Bedeutung. Gesetze und starke Institutionen reichen jedoch nicht aus. Für Rechtsstaatlichkeit ist ein förderliches Umfeld notwendig, das auf der Achtung der Unabhängigkeit der Justiz, wirksamen Strategien zur Korruptionsbekämpfung, freien und pluralistischen Medien, einem transparenten und leistungsstarken Staatsapparat sowie einer freien und aktiven Zivilgesellschaft beruht. Durch präventive Strategien und Basiskampagnen wird das Bewusstsein der Bürger geschärft und bleibt die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit weiterhin ein wichtiges Thema. Investigative Journalisten, unabhängige Medien und die Kontrolle durch die Zivilgesellschaft sind mit Blick auf die Rechenschaftspflicht der Entscheidungsträger von wesentlicher Bedeutung.
Der Bericht ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, sowohl auf politischer Ebene im Rat als auch durch politische und fachliche Sitzungen auf bilateraler Ebene, und er stützt sich auf eine Vielzahl an Quellen. Diese Methodik wird als Teil des jährlichen Prozesses für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit etabliert. Es wurde ein Netzwerk von nationalen Kontaktstellen für den Bereich Rechtsstaatlichkeit eingerichtet, das dazu beiträgt, den Mechanismus und seine Methodik einzuführen, und als ständiger Kommunikationskanal fungiert. Das Netzwerk ist zweimal zusammengetroffen. Alle Mitgliedstaaten beteiligten sich am Prozess zur Ausarbeitung des Berichts: Sie legten Anfang Mai schriftliche Beiträge vor und nahmen an speziellen virtuellen Länderbesuchen teil, die von Mai bis Juli stattfanden. Im Zuge dieser Länderbesuche erörterte die Kommission Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit mit den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich Justizbehörden, unabhängiger Stellen und Strafverfolgungsbehörden, sowie mit weiteren Interessenträgern wie Journalistenverbände und die Zivilgesellschaft. Vor der Annahme dieses Berichts wurde den Mitgliedstaaten Gelegenheit geboten, aktualisierte sachliche Daten zu ihren Länderkapiteln vorzulegen.
Zudem wurde eine gezielte Konsultation der Interessenträger durchgeführt, in deren Rahmen wertvolle horizontale und länderspezifische Beiträge von einer Vielzahl von EU-Agenturen, europäischen Netzwerken, nationalen und europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft und Berufsverbänden sowie internationalen und europäischen Akteuren vorgelegt wurden.
Dazu zählen die Agentur für Grundrechte, das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen, das Netz der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der Europäischen Union, das Europäische Netzwerk nationaler Menschenrechtsinstitutionen (ENNHRI), der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union (CCBE), der Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie nationale und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft und Journalistenverbände.
Die Länderkapitel stützen sich auf eine von der Kommission durchgeführte qualitative Bewertung, deren Schwerpunkt auf einer Synthese der wesentlichen Entwicklungen seit Januar 2019 liegt, wobei jeweils eine kurze Beschreibung des für die einzelnen Pfeiler relevanten rechtlichen und institutionellen Rahmens vorangestellt ist. In der Bewertung werden Herausforderungen und positive Aspekte, einschließlich bewährter Verfahren, dargestellt. Die Kommission hat durch die Anwendung derselben Methodik und die Überprüfung der gleichen Themen in allen Mitgliedstaaten unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf die Lage und Entwicklungen für einen kohärenten und gleichwertigen Ansatz Sorge getragen. Die Länderkapitel zielen nicht darauf ab, eine umfassende Beschreibung aller einschlägigen Elemente der Situation im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu vermitteln, sondern es sollen wichtige Entwicklungen vorgestellt werden. Gestützt auf diese ersten Erfahrungen und auf Grundlage der Entwicklung der Lage in den Mitgliedstaaten können in künftigen Jahren weitere maßgebliche Aspekte aufgenommen oder weiterentwickelt werden.
Die Bewertung nimmt auch auf die Anforderungen des EU-Rechts Bezug, einschließlich der Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Darüber hinaus bieten Empfehlungen und Stellungnahmen des Europarats einen wertvollen Referenzrahmen für Standards und bewährte Verfahren. Durch die Vorlage einer Übersicht über seine jüngsten Stellungnahmen und Berichte bezüglich der EU-Mitgliedstaaten leistete der Europarat einen weiteren Beitrag zu der Bewertung in den Länderkapiteln.
Die im Bericht über die Rechtsstaatlichkeit enthaltene Bewertung stützt sich auf diesen Dialogprozess, Konsultationen und Beiträge von Sachverständigen. Er bietet eine solide und fundierte Grundlage für Diskussionen und weitere Arbeiten des Europäischen Parlaments und des Rates. Der europäische Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit soll im Zuge interinstitutioneller Diskussionen und eines Dialogs mit den Mitgliedstaaten als gemeinsamer Lernprozess und Auslöser für eine EU-Unterstützung weiter ausgebaut und verbessert werden.
Die COVID-19-Pandemie: Ein Stresstest für die Resilienz der Rechtsstaatlichkeit
Neben den unmittelbaren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen entstand durch die COVID-19-Krise ein breites Spektrum an Herausforderungen für die Gesellschaft und insbesondere für die öffentlichen Verwaltungen sowie die Rechts- und Verfassungssysteme. Die Krise hat sich als realer Stresstest für die Resilienz der nationalen Systeme in Krisenzeiten erwiesen. Alle Mitgliedstaaten haben außerordentliche Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergriffen und die meisten haben eine Art öffentlichen Notstand erklärt oder besondere Notstandskompetenzen gemäß den verfassungsrechtlichen Bestimmungen oder Gesetzen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährt. Eine Änderung oder Aussetzung der üblichen nationalen Kontrollen und Gegenkontrollen kann mit besonderen Herausforderungen für die Rechtsstaatlichkeit verbunden sein und diese Entwicklungen wurden in bestimmten Mitgliedstaaten zu einem wichtigen Thema der öffentlichen Debatte. Daher hat die Kommission die Anwendung von Notstandsmaßnahmen genau verfolgt, was gegebenenfalls in den Länderkapiteln wiedergegeben wird.
Die Kommission hat betont, dass bei der Reaktion auf die Krise unsere Grundprinzipien und Werte nach den Verträgen zu achten sind. Als wichtige Gradmesser für die Notstandsmaßnahmen wurde überprüft, ob die Maßnahmen zeitlich begrenzt waren, ob Garantien vorhanden waren, mit denen sichergestellt wurde, dass die Maßnahmen unbedingt notwendig und verhältnismäßig waren, sowie ob die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle sowie eine Prüfung durch Medien und die Zivilgesellschaft aufrechterhalten werden konnten. Nach der ganz akuten Phase der Krise bestand ein weiterer wichtiger Aspekt in der Art und Weise, in der diese Befugnisse zurückgenommen wurden bzw. ausliefen. Angesichts der anhaltenden Pandemie sind in einer Reihe von Mitgliedstaaten nach wie vor Notfallregelungen und Krisenmaßnahmen in Kraft. Die Kommission muss diese daher weiter überwachen. Die Lage wird auch von internationalen Organisationen überprüft und das Europäische Parlament hat die Venedig-Kommission um eine Stellungnahme zu den in den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen und ihren Auswirkungen auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte gebeten.
Die Reaktionen auf die Krise ließen überall eine große Resilienz der nationalen Systeme erkennen. In zahlreichen Mitgliedstaaten haben Gerichte die Notmaßnahmen geprüft und es fanden politische und rechtliche Debatten statt, ob die angewandten Notfallregelungen gerechtfertigt und verhältnismäßig waren, ob Entscheidungen rechtmäßig waren und ob die richtigen Verfahren und Instrumente genutzt wurden. Die laufende Beobachtung der Kommission und die Debatten in den Mitgliedstaaten weisen bereits auf eine Reihe von Feststellungen und Überlegungen hin, die weiter in nationale Debatten einfließen und die rechtliche und politische Reaktion verbessern können.
Erste Überlegungen betreffen die Kultur der Rechtsstaatlichkeit und das Maß an Vertrauen in das System von Kontrolle und Gegenkontrolle in den Mitgliedstaaten. Dies betrifft insbesondere das Zusammenspiel der nationalen Institutionen und ihre loyale Zusammenarbeit, die Rolle der parlamentarischen Kontrolle und die Möglichkeiten, Konsultationen und Transparenzregeln für die Bürger aufrechtzuerhalten. Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sicherzustellen, dass eine für den Schutz der öffentlichen Gesundheit erforderliche dringende und wirksame Entscheidungsfindung nicht bedeutet, dass etablierte Kontrollen und Gegenkontrollen – einschließlich der Parlamente – umgangen werden, insbesondere wenn die Maßnahmen die Grundfreiheiten und -rechte der gesamten Bevölkerung betreffen.
An zweiter Stelle sind die Auswirkungen auf die Arbeit der Medien und die Zivilgesellschaft bei der Ausübung einer demokratischen Kontrolle zu berücksichtigen. Wenn aufgrund von Notstandskompetenzen die institutionellen Kontrollen der Entscheidungsträger verringert sind, ist die Prüfung von öffentlichen Entscheidungen durch die Medien und die Zivilgesellschaft umso wichtiger. In bestimmten Mitgliedstaaten sind die Medien und die Zivilgesellschaft jedoch mit neuen Hindernissen konfrontiert. Solche Situationen trugen unter anderem zur Verbreitung von Desinformationen und einem geringeren Vertrauen in die Behörden bei, was der Rechtsstaatlichkeit schadet.
Ein dritter Punkt betrifft die Resilienz des Justizsystems. Der Zugang zu einer unabhängigen Überprüfung durch die Gerichte ist ein Grundelement der Rechtsstaatlichkeit. Die teilweise Schließung nationaler Gerichte – die bei Anwendung von EU-Recht auch als Gerichte der EU fungieren – zeigte eine wichtige Schwachstelle. Eine Reihe von Mitgliedstaaten hat Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen der Pandemie abzumildern, und war in der Lage, mündliche Verhandlungen unter Anwendung von Vorschriften zur räumlichen Distanzierung oder Videokonferenztechniken wiederaufzunehmen. Darüber hinaus wurde durch die Pandemie in vielen Mitgliedstaaten die Digitalisierung von Verfahren vorangetrieben.
Diese Überlegungen spiegeln allgemeine Debatten über die Rechtsstaatlichkeit wider, die in einigen Mitgliedstaaten zur Widerstandsfähigkeit ihrer nationalen Systeme stattgefunden haben. In diesem Sinne hat die COVID-19-Pandemie hervorgehoben, wie die Rechtsstaatlichkeit direkte Auswirkungen auf den Alltag der Menschen hat.
2. Schlüsselaspekte der Lage im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten
Die Verfassungssysteme, Rechtsordnungen und politischen Systeme der Mitgliedstaaten spiegeln im Allgemeinen hohe Standards im Bereich der Rechtsstaatlichkeit wider. Die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit – Rechtmäßigkeit, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung exekutiver Gewalt, wirksamer Rechts- und Grundrechtsschutz sowie gerichtliche Überprüfung exekutiver Maßnahmen durch unabhängige und unparteiische Gerichte, Gewaltenteilung und die Gleichheit vor dem Gesetz – sind in den nationalen Verfassungen verankert und in den Rechtsvorschriften umgesetzt. Es gibt jedoch auch ernste Herausforderungen, Fälle, in denen die Garantien für die Resilienz der Rechtsstaatlichkeit auf die Probe gestellt werden und in denen Schwachstellen deutlicher zutage treten.
Mit Blick auf die vier für den Mechanismus ermittelten Pfeiler werden in den vier folgenden Abschnitten einige wichtige gemeinsame Themen und Trends, spezifische Herausforderungen und positive Entwicklungen beleuchtet. Es werden Beispiele für sich besonders abhebende Entwicklungen in Mitgliedstaaten angeführt, die aus der in den Länderkapiteln dargelegten Bewertung für alle 27 Mitgliedstaaten entnommen werden
. Ziel ist es, eine konstruktive Debatte über eine Konsolidierung der Rechtsstaatlichkeit zu führen, wobei alle Mitgliedstaaten aufgefordert werden, zu überprüfen, wie Herausforderungen angegangen werden können, aus den Erfahrungen der jeweils anderen zu lernen und aufzuzeigen, wie die Rechtsstaatlichkeit unter vollständiger Achtung der nationalen Traditionen und nationalen Besonderheiten weiter gestärkt werden kann.
2.1 Justizsysteme
Wirksame Justizsysteme sind wesentlich für die Achtung der Rechtsstaatlichkeit. Unabhängigkeit, Qualität und Wirksamkeit sind die für ein wirksames Justizsystem definierten Parameter, und zwar unabhängig vom Modell des nationalen Rechtssystems und der Tradition, in dem es verankert ist. Zwar fällt die Organisation des Justizwesens in den Mitgliedstaaten in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch sicherstellen, dass ihre nationalen Justizsysteme einen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten. Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ist für einen solchen Rechtsschutz fundamental
. Nationale Gerichte stellen sicher, dass die Rechte und Pflichten nach dem EU-Recht wirksam durchgesetzt werden. Wie vom Europäischen Gerichtshof bekräftigt, ist schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, einem Rechtsstaat inhärent.
Wirksame Justizsysteme sind auch die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen, das das Fundament für den gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet, ein investitionsfreundliches Umfeld, die Nachhaltigkeit eines langfristigen Wachstums und den Schutz der finanziellen Interessen der EU. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat ferner die auf das EU-Recht zurückgehenden Anforderungen bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz geklärt. Auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind Schlüsselstandards festgelegt, die zum Schutz der Unabhängigkeit der Justiz einzuhalten sind.
Die Funktionsweise des Justizsystems steht auf den nationalen politischen Agenden weit oben, wie durch den Umstand belegt wird, dass in fast allen Mitgliedstaaten Justizreformen eingeleitet wurden, auch wenn deren Ziele, Umfang, Form und Stand der Umsetzung unterschiedlich sind. Die Reformbereiche reichen von strukturellen konstitutionellen Änderungen, wie der Einsetzung eines Rats für das Justizwesen oder die Einrichtung neuer Gerichte bis zu konkreten operativen Maßnahmen, z. B. bezüglich der Digitalisierung der Fallverwaltung in Gerichten. Der Dialog hat gezeigt, dass die Mitgliedstaaten Reformen und Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in anderen Mitgliedstaaten sowie die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genau beobachten.
Wahrgenommene Unabhängigkeit der Justiz in der EU
In den 2020 durchgeführten Eurobarometer-Befragungen von Unternehmen und der Öffentlichkeit ist bei denselben Mitgliedstaaten ein Trend zur Gruppierung am oberen und am unteren Ende der Skala festzustellen. Die letzte Eurobarometer-Erhebung zeigt, dass die in der Öffentlichkeit wahrgenommene Unabhängigkeit in sechs Mitgliedstaaten sehr hoch (über 75 %) ist. Diese Bewertungen sind in den vergangenen vier Jahren weitgehend stabil geblieben. Gleichzeitig ist im vergangenen Jahr die wahrgenommene Unabhängigkeit in neun Mitgliedstaaten gesunken und in einigen Mitgliedstaaten ist die wahrgenommene Unabhängigkeit nach wie vor sehr gering (unter 30 %).
Es finden Bemühungen zur Stärkung der strukturellen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz statt
In einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt es Bemühungen, die auf eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz und eine Verringerung des Einflusses der Exekutive bzw. der Legislative auf die Justiz abzielen. Dazu zählt die Einrichtung oder Stärkung eines unabhängigen nationalen Rates für das Justizwesen. Das Verfahren für die Benennung von Richtern ist eines der Elemente, die Einfluss auf die Unabhängigkeit der Justiz und die öffentliche Wahrnehmung ihrer Unabhängigkeit haben können. In einigen Mitgliedstaaten sind Reformen geplant oder wurden bereits angenommen, die auf eine Stärkung der Beteiligung der Justiz an dem Verfahren oder die Definition klarer Kriterien bzw. eines Mechanismus für die gerichtliche Kontrolle ausgerichtet sind. Auch Reformen der Disziplinarverfahren für Richter und Staatsanwälte können Ausdruck einer gesteigerten Aufmerksamkeit für ein notwendiges Gleichgewicht sein, wobei unerlässliche Garantien vorgesehen sind und zugleich die Rechenschaftspflicht gewahrt bleibt.
In
Malta
wurde beispielsweise in jüngster Zeit eine Reihe von Reformen des Justizsystems zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz vom Parlament angenommen. In der
Tschechischen Republik
zielen die derzeit ausgearbeiteten Reformen auf eine Steigerung der Transparenz bei der Ernennung, Beförderung und Entlassung von Richtern. In
Zypern
gelten seit Juli 2019 für die Ernennung von Richtern neue detaillierte Kriterien und weitere Änderungen werden derzeit erörtert. In
Lettland
wurden dem Rat für das Justizwesen neue Befugnisse gewährt, die auf eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz abzielen.
Debatten, Überlegungen und Reformpläne zur Stärkung der rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz gibt es auch in den Mitgliedstaaten, in denen traditionell die Unabhängigkeit der Justiz als hoch oder sogar sehr hoch gilt. Die Mitgliedstaaten, in denen die Gewaltenteilung und die Achtung der Unabhängigkeit der Justiz stärker von der politischen Tradition als von detaillierten rechtlichen Garantien abhängt, gaben an, dass Entwicklungen in anderen Mitgliedstaaten ein Grund für die Anwendung formalerer Systeme gewesen seien.
In
Irland
wurde beispielsweise Ende 2019 ein unabhängiger Justizrat zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz eingerichtet. In
Luxemburg
zielt eine geplante Überarbeitung der Verfassung auf die Einführung neuer Elemente zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. In
Finnland
hat im Januar 2020 eine unabhängige für die Gerichtsverwaltung zuständige Agentur – die nationale Gerichtsverwaltung – Funktionen übernommen, die zuvor vom Justizministerium wahrgenommen wurden. In den
Niederlanden
sind Reformen geplant, die auf eine Begrenzung des Einflusses der Exekutive und der Legislative auf die Benennung von Richtern am Obersten Gericht und Mitgliedern des Justizrates abzielen. In
Schweden
wurde im Februar 2020 eine Untersuchungskommission zur Stärkung des Schutzes der Demokratie und der Unabhängigkeit des Justizwesens eingesetzt, die Vorschläge für legislative und konstitutionelle Reformen vorlegen soll.
Die Unabhängigkeit der Strafverfolgung von der Exekutive wird zunehmend diskutiert, da sie wichtige Auswirkungen auf die Kapazitäten zur Bekämpfung von Kriminalität und Korruption hat
Zwar gibt es kein einheitliches Modell in der EU für die institutionellen Strukturen der Staatsanwaltschaft oder für die Ernennungs-, Entlassung- oder Disziplinarverfahren für Staatsanwälte auf verschiedenen Ebenen, doch können institutionelle Garantien dazu beitragen, dass die Strafverfolgung ausreichend unabhängig und ohne unzulässigen politischen Druck tätig sein kann. In einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde vor Kurzem bestätigt, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwälte ein zentrales Element für die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Justiz darstellt.
In
Malta
werden derzeit Reformen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft umgesetzt, in deren Rahmen eine uneingeschränkt unabhängige Staatsanwaltschaft geschaffen wird, wobei die angestammte Rolle des Generalstaatsanwalts als Rechtsberater der Regierung aufgegeben würde. Auch in
Zypern
werden gesetzliche Änderungen vorbereitet, die auf eine Umstrukturierung des „Law Office“ der Republik und die Einrichtung gesonderter eigenständiger Direktionen innerhalb des „Law Office“ abzielen.
Das Recht der Exekutive, der Staatsanwaltschaft formelle Anweisungen zu erteilen, auch in einzelnen Fällen, ist in manchen Mitgliedstaaten wie
Deutschland
und
Österreich
, ein besonderes Diskussionsthema, insbesondere nach der Rechtsprechung des Europäischer Gerichtshofs zum Europäischen Haftbefehl. In
Polen
ist die Doppelfunktion des Justizministers, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, besonders bedenklich, da dadurch die Anfälligkeit für eine politische Einflussnahme hinsichtlich der Organisation der Staatsanwaltschaft und der Untersuchung von Fällen zunimmt. Die Rolle des Generalstaatsanwalts gegenüber rangniedrigeren Staatsanwälten gibt in bestimmten Mitgliedstaaten ebenfalls Anlass zu Bedenken. Beispielsweise wurden in
Bulgarien
Gesetzgebungsverfahren, mit denen seit Langem bestehende Bedenken hinsichtlich einer wirksamen Regelung für die Rechenschaftspflicht des Generalstaatsanwalts Rechnung getragen werden soll, nach wie vor nicht zum Abschluss gebracht.
Die Unabhängigkeit der Justiz gibt in manchen Mitgliedstaaten nach wie vor Anlass zur Sorge
Trotz der Reformbemühungen zur Verbesserung der Unabhängigkeit der Justiz in einer Reihe von Mitgliedstaaten geben die Entwicklungen in manchen Mitgliedstaaten Anlass zur Sorge. Diese Bedenken betreffen unterschiedliche Arten von Maßnahmen und unterscheiden sich in ihrer Intensität und in ihrem Umfang. Sie reichen von Bedenken hinsichtlich der Kapazität von Justizräten für die Ausübung ihrer Funktionen bis zu stärker strukturell geprägten Bedenken hinsichtlich eines zunehmenden Einflusses der Exekutive und der Legislative auf die Funktionsweise der Justizsysteme, einschließlich der Verfassungsgerichte und obersten Gerichte. Manche dieser Entwicklungen haben die Kommission veranlasst, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder Bedenken im Rahmen der Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 EUV zum Ausdruck zu bringen.
In einigen Mitgliedstaaten gibt die Richtung der Änderung Anlass zu großer Sorge im Hinblick auf die Auswirkungen von Reformen auf die Unabhängigkeit der Justiz. Dies war einer der Punkte, der im Rahmen des vom Europäischen Parlament hinsichtlich
Ungarns
eingeleiteten Verfahrens gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV aufgeworfen wurde. Insbesondere steht der unabhängige Landesrichterrat vor Herausforderungen, ein Gegengewicht zu den Befugnissen des Präsidenten des Landesgerichtsamts, der für die Verwaltung der Gerichte zuständig ist, zu bilden; die Wahl eines neuen Präsidenten kann den Weg für eine verstärkte Zusammenarbeit ebnen. Andere Bedenken betrafen die neuen Vorschriften, nach denen die vom Parlament gewählten Mitglieder des Verfassungsgerichts außerhalb des normalen Benennungsverfahrens für den obersten Gerichtshof benannt werden können. Die seit 2015 in
Polen
durchgeführten Reformen des Justizwesens werden innerhalb des Landes und auf EU-Ebene sehr kontrovers diskutiert und gaben Anlass zu ernsthaften Bedenken, von denen manche noch immer bestehen. Dies veranlasste die Kommission, 2017 das Verfahren gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV einzuleiten, das vom Rat noch geprüft wird. 2019 und 2020 leitete die Kommission zwei Vertragsverletzungsverfahren ein, um die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen, und der Gerichtshof hat vorläufige Maßnahmen genehmigt, um die Befugnisse der Disziplinarkammer des obersten Gerichts hinsichtlich disziplinarischer Untersuchungen gegen Richter auszusetzen.
Auch in bestimmten anderen Mitgliedstaaten bestehen noch Herausforderungen. In
Bulgarien
gaben die Zusammensetzung und die Funktionsweise des obersten Justizrates und die Inspektion des obersten Justizrates Anlass zu Bedenken, die noch nicht ausgeräumt sind. In
Rumänien
finden die in den Jahren 2017-2019 beschlossenen umstrittenen Reformen, die mit negativen Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz einhergehen, weiterhin Anwendung. 2020 brachte die Regierung ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, nach den Rückschritten in den Vorjahren die Justizreform wieder fortzusetzen, wodurch sich die Spannungen im Justizwesen erheblich verringert haben. In
Kroatien
führt die geringe Verwaltungskapazität des staatlichen Justizrates und des Staatsanwaltsrats bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu Schwierigkeiten, da ihre Rolle bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten geschwächt wurde und ein aufgerüstetes IT-System für die Prüfung von Vermögenserklärungen nicht vorhanden ist. In der
Slowakei
bestehen seit Langem Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Integrität des Justizsystems. Im April 2020 kündigte die Regierung wichtige Reformpläne zur Stärkung der Unabhängigkeit und Integrität der Justiz sowie des Ernennungsverfahrens für das Verfassungsgericht an.
In einigen Mitgliedstaaten wird häufig von politischen Angriffen und Medienkampagnen gegen Richter und Staatsanwälte berichtet. Es wurden Maßnahmen, darunter auch Disziplinarmaßnahmen ergriffen, die sich auf die Freiheit der Richter, dem Gerichtshof der Europäischen Union Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, auswirken. Solche Angriffe und Maßnahmen können eine abschreckende Wirkung und negative Folgen für das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Justizwesen haben und somit seine Unabhängigkeit beeinträchtigen. In einer Reihe von Fällen zielen die Angriffe auf Richter und Staatsanwälte, die öffentlich Stellung beziehen und Entwicklungen anprangern, die dem Justizwesen insgesamt schaden könnten. In seinem aktuellen Urteil vom 5. Mai 2020 bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf freie Meinungsäußerung von Staatsanwälten und Richtern, sich an öffentlichen Debatten über das Justizwesen betreffende legislative Reformen und generell über die Unabhängigkeit der Justiz betreffende Themen zu beteiligen.
Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gezeigt, wie wichtig die Digitalisierung der Justizsysteme ist
Seit einigen Jahren bemühen sich die Mitgliedstaaten darum, IKT-Instrumente bestmöglich zu nutzen, um die Kommunikation mit Parteien und Anwälten zu erleichtern, sodass eine wirksame Verwaltung der Arbeitsbelastung und eine Steigerung der Transparenz erreicht werden, was auch einen Online-Zugang zu Gerichtsentscheidungen einschließt. In den Mitgliedstaaten gibt es zahlreiche Initiativen, die auf tatsächliche Verbesserungen für die Nutzer der Justizsysteme abzielen. Die COVID-19-Pandemie hat diesen Bemühungen zusätzliche Impulse verliehen und aufgezeigt, wie wichtig es ist, die Reformen zur Digitalisierung des Umgangs mit Fällen durch Justizeinrichtungen, den Austausch von Informationen und Dokumenten mit Parteien und Anwälten sowie den fortgesetzten und einfachen Zugang zur Justiz für alle zu beschleunigen. Es gibt eine Reihe von Initiativen, bei denen es beispielsweise den Nutzern von Gerichten ermöglicht wird, online die Verfahrensphasen zu beobachten, oder Urteile gemäß einem Standard verfasst werden, der ihre maschinelle Lesbarkeit ermöglicht.
In einigen Mitgliedstaaten ist die Einführung solcher Systeme bereits weit fortgeschritten. Beispielsweise zeichnen sich in
Estland
und
Lettland
die Justizsysteme durch einige der fortschrittlichsten Informations- und Kommunikationstechnologien, die in Gerichten zum Einsatz kommen, aus. Sie bieten für die Anwendungen bei Gericht ein hohes Maß an Zugänglichkeit und Flexibilität und haben zudem wesentlich dazu beigetragen, dass die Gerichte während der COVID-19-Pandemie mit relativ wenigen Unterbrechungen weiterhin arbeiten konnten. In
Slowenien
ist die Digitalisierung des Justizsystems für die Fallverwaltung gut entwickelt und weitere Entwicklungen kommen hinzu, die auf eine Verbesserung der elektronischen Kommunikation zwischen Gerichten und Parteien abzielen. Auch in
Ungarn
ist die Digitalisierung der Justiz weit fortgeschritten und das Justizsystem zeichnet sich durch eine hohe Verfügbarkeit von elektronischen Mitteln hinsichtlich des Online-Zugangs zu veröffentlichten Urteilen aus. In
Portugal
wurde mit einer Änderung der Zivilprozessordnung der Grundsatz „standardmäßig digital“ für alle Zivilverfahren eingeführt. In
Italien
soll nach einem Entwurf für eine Reform des Zivilverfahrens ausschließlich eine Online-Einreichung und ein breiteres Spektrum an elektronischen Mitteln, darunter die Online-Zahlung von Gerichtsgebühren, eingeführt werden. Die Kommission hat im Zusammenhang mit dem Aufbauplan betont, wie wichtig die Digitalisierung der Justizsysteme ist. Diese Bemühungen könnten durch das künftige Programm „Digitales Europa“ und das EU-Instrument „Next Generation“ gefördert werden.
Investitionen in die Justiz sind wichtiger denn je, um Herausforderungen im Bereich Effizienz anzugehen
Wirksame Justizsysteme stützen sich auf angemessene personelle und finanzielle Mittel. Zwar ist generell ein Anstieg der öffentlichen Ausgaben für das Justizsystem zu verzeichnen, doch in einer Reihe von Mitgliedstaaten muss die Justiz mit begrenzten Ressourcen zurechtkommen. Investitionen in die Justizsysteme sind auch unerlässlich, um den Herausforderungen hinsichtlich der Effizienz, mit denen manche Mitgliedstaaten nach wie vor zu kämpfen haben, Rechnung zu tragen. Die übermäßige Dauer der Verfahren und Arbeitsrückstände in den Justizsystemen müssen durch geeignete Maßnahmen angegangen werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Krise haben gezeigt, dass die Resilienz des Justizsystems gestärkt werden muss, insbesondere da angenommen werden kann, dass die Arbeitsbelastung voraussichtlich zunimmt. Ineffizienz kann zu Misstrauen in die Justizsysteme führen, was als Vorwand für unangemessene Reformen des Justizsystems genutzt werden kann, mit denen die Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt wird. Geplante Investitionen in die Effizienz und Qualität der Justizsysteme, durch die die Rahmenbedingungen für Unternehmen verbessert werden, können durch die EU-Programme im Rahmen von „Next Generation“ und die Aufbau- und Resilienzfazilität erleichtert werden. In manchen Mitgliedstaaten wurde die Notwendigkeit zusätzlicher Mittel in den Regierungsprogrammen offiziell anerkannt. Beispielsweise wird in
Deutschland
derzeit der „Pakt für den Rechtsstaat“ umgesetzt, in dessen Rahmen zusätzliche Mittel auf Bundes- und Landesebene vorgesehen sind. Auch in
Österreich
und
Frankreich
gibt es Initiativen, die auf eine Erhöhung der Mittel für das Justizsystem ausgerichtet sind.
2.2 Rahmen zur Korruptionsbekämpfung
Die Korruptionsbekämpfung ist von wesentlicher Bedeutung zur Aufrechterhaltung von Rechtsstaatlichkeit. Korruption untergräbt das Funktionieren des Staates und der Behörden auf allen Ebenen und ist ein entscheidender Faktor für organisierte Kriminalität. Wirksame Rahmen für die Korruptionsbekämpfung sowie Transparenz und Integrität bei der Ausübung staatlicher Befugnisse können die Rechtssysteme und das Vertrauen in die Behörden stärken. Die Korruptionsbekämpfung muss den länderspezifischen Besonderheiten der Korruption im Hinblick auf ihre Ausprägung und Form, den Bedingungen, die sie ermöglichen, sowie den rechtlichen, institutionellen und sonstigen Anreizen Rechnung tragen, mit deren Hilfe sie verhindert, aufgedeckt und sanktioniert werden kann.
Sie kann nicht auf eine einheitliche Reihe von Standardmaßnahmen beschränkt werden. Es müssen auch spezifische Risikofaktoren berücksichtigt werden, die sich zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten unterscheiden können. Dennoch brauchen alle Mitgliedstaaten Instrumente für die Prävention, Aufdeckung, Eindämmung und Sanktionierung von Korruption. Das Erfordernis umfassender Präventionsstrategien, mit denen die Transparenz und Integrität in allen Bereichen der Gesellschaft erhöht wird und deren Schwerpunkt auf den zugrunde liegenden Ursachen liegt, wird seit Langem von der EU anerkannt.
Solche Strategien sollten auf einer Bewertung der Gefahren, Schwachstellen und Risikofaktoren basieren. Zum Korruptionsbekämpfungs-Konzept der EU gehören aber auch die notwendigen zuverlässigen und wirkungsvollen Maßnahmen zur Förderung und zum Schutz von Integrität, eine funktionierende, systematische Korruptionsprävention und ein auf allen Ebenen leistungsstarker, rechenschaftspflichtiger und transparenter Staatsapparat.
Ein umfassendes Konzept für die Korruptionsbekämpfung muss präventive und repressive Maßnahmen kombinieren. Dafür bedarf es einer unabhängigen und unparteiischen Justiz, die Rechtsvorschriften zur Korruptionsbekämpfung wirksam durchsetzt, die Korruptionsdelikte unparteiisch ermittelt und verfolgt und wirkungsvolle, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängt, wozu auch die wirksame Einziehung von Einnahmen aus Korruption gehört.
Dies erfordert wiederum einen stabilen rechtlichen und institutionellen Rahmen, ausreichende Kapazitäten in Verwaltung und Justiz sowie den politischen Willen für die Durchsetzungsmaßnahmen. Unabhängige und pluralistische Medien, insbesondere investigativer Journalismus, und eine aktive Zivilgesellschaft spielen eine wichtige Rolle bei der Kontrolle staatlichen Handelns, der Aufdeckung möglicher Fälle von Korruption und Integritätsverletzungen sowie der Sensibilisierung und der Förderung von Integrität. Die Korruptionsbekämpfung hat auch eine wichtige EU-Dimension, da sie mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Union verbunden ist. Die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. In den vergangenen Jahren wurden EU-Rechtsvorschriften verabschiedet, mit denen die Korruptionsbekämpfung verbessert werden sollte. So wurden beispielsweise Normen für den Schutz von Hinweisgebern vor allen Formen von Vergeltungsmaßnahmen eingeführt. Zu einer verbesserten Korruptionsbekämpfung tragen auch die überarbeiteten Vorschriften gegen Geldwäsche, insbesondere die Einrichtung von Registern über das wirtschaftliche Eigentum von Unternehmen, sowie weitere Schritte zur Förderung des Austausches von Finanzinformationen und zur Beschleunigung von Finanzermittlungen bei.
Korruptionswahrnehmung in der EU
Die Ergebnisse des Korruptionswahrnehmungsindex zeigen, dass zehn Mitgliedstaaten zu den zwanzig Ländern zählen, die weltweit als am wenigsten korrupt wahrgenommen werden, und das Durchschnittsergebnis der EU insgesamt gut ist. Das Ergebnis mancher Mitgliedstaaten hat sich im Vergleich zu den Vorjahren verbessert, andere erzielen nach wie vor ein Ergebnis, das deutlich unter dem anderer europäischer Länder liegt.
Die letzten Eurobarometer-Erhebungen zur Korruptionswahrnehmung zeigen, dass Korruption nach wie vor Anlass zu großer Besorgnis für die Unionsbürger und Unternehmen in der EU ist. Mehr als sieben von zehn Unionsbürgern (71 %) sind der Ansicht, dass Korruption in ihrem Land weit verbreitet ist, und nach Auffassung von mehr als vier von zehn Europäern (42 %) hat die Korruption in ihrem Land zugenommen. Allerdings sind nur 34 % der Befragten der Meinung, dass die Maßnahmen ihrer Regierung zur Korruptionsbekämpfung wirksam sind. Darüber hinaus ist der Auffassung von mehr als sechs von zehn europäischen Unternehmen (63 %) zufolge das Problem der Korruption in ihrem Land weit verbreitet und eine Mehrheit der Unternehmen (51 %) ist der Ansicht, es sei unwahrscheinlich, dass korrupte Personen oder Unternehmen in ihrem Land gefasst oder der Polizei oder Staatsanwaltschaft gemeldet werden.
Nationale Strategien zur Korruptionsbekämpfung
Ein nationaler Rahmen zur Korruptionsbekämpfung bietet die Möglichkeit, politisches Engagement und eine politische Vision in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Durch nationale Strategien zur Korruptionsbekämpfung kann sichergestellt werden, dass einzelne legislative oder institutionelle Lücken nicht isoliert angegangen werden und Bestimmungen zur Korruptionsbekämpfung in allen einschlägigen Politikbereichen durchgängig berücksichtigt werden, um Wirkung vor Ort zu entfalten. Mehrere Mitgliedstaaten haben umfassende neue oder überarbeitete Strategien zur Korruptionsbekämpfung mit konkreten und messbaren Zielen, eindeutig zugewiesenen Haushaltsmitteln und klar definierten Zuständigkeiten der spezialisierten Einrichtungen sowie einer intensiven Mitwirkung der relevanten Beteiligten angenommen.
So wurde beispielsweise im Januar 2020 in
Frankreich
ein mehrjähriger nationaler Plan zur Korruptionsbekämpfung (2020-2022) angenommen, der sowohl die präventiven als auch die repressiven Dimensionen von Korruption abdeckt. In anderen Mitgliedstaaten wie
Bulgarien
,
Kroatien
,
der Tschechischen Republik
,
Estland
,
Griechenland
,
Italien
,
Litauen
,
Rumänien
und der
Slowakei
gibt es schon seit mehreren Jahren umfassende nationale Strategien zur Korruptionsbekämpfung. Zwar ist die Erarbeitung von Plänen und Strategien für die Korruptionsbekämpfung wichtig, doch ist ihre wirksame Umsetzung und Überwachung entscheidend, um Fortschritte zu erzielen.
Andere Mitgliedstaaten sind derzeit mit der Ausarbeitung einer nationalen Strategie zur Korruptionsbekämpfung befasst. In
Irland
hat die Regierung ihre Absicht bekannt gegeben, Korruption durch Folgemaßnahmen zu der laufenden umfassenden Bewertung der verschiedenen an präventiven und repressiven Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung beteiligten staatlichen Stellen und der strafrechtlichen Verfahren wirksamer zu bekämpfen. Debatten finden auch in
Portugal
statt, wo eine Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung einer nationalen Strategie zur Korruptionsbekämpfung eingerichtet wurde.
Finnland
und
Schweden
, die sich weniger auf ein strategisches Konzept und mehr auf Verfahren, Traditionen und hohe Standards im Bereich Integrität und Transparenz zur Verhinderung von Korruption stützen, sind derzeit mit der Ausarbeitung nationaler Pläne für die Korruptionsbekämpfung befasst.
Ausbau der Kapazitäten zur Bekämpfung von Korruption
Manche Mitgliedstaaten haben ferner Reformen zur Angleichung ihres Strafrechts an internationale Standards der Korruptionsbekämpfung durchgeführt.
Lettland
hat beispielsweise vor Kurzem sein Strafrecht mit Blick auf die Definition verschiedener Korruptionsdelikte geändert, wobei bestimmte den Anwendungsbereich von Bestechung und missbräuchliche Einflussnahme betreffende Einschränkungen abgeschafft wurden.
Des Weiteren ist es von zentraler Bedeutung, dass die mit der Durchsetzung des Strafrechts betrauten Stellen wirksam und unparteiisch arbeiten. Es ist es fundamental, dass Justiz- und Strafverfolgungsbehörden mit angemessenen Finanzmitteln, personellen Ressourcen und technischen Kapazitäten ausgestattet sind und über spezialisierte Sachkenntnisse verfügen. In manchen Mitgliedstaaten wurden Maßnahmen zur Stärkung der Kapazitäten des institutionellen Rahmens für die Korruptionsbekämpfung und zum Abbau von Hindernissen für eine wirksame Strafverfolgung eingeführt. So wurde beispielsweise im Januar 2019 in
Italien
ein Korruptionsbekämpfungsgesetz angenommen, mit dem die Sanktionierung von Korruptionsdelikten verschärft und Verjährungsfristen nach den erstinstanzlichen Urteilen ausgesetzt wurden. Darüber hinaus wird im Parlament derzeit eine umfassende Reform zur Vereinfachung von Strafverfahren diskutiert, da die abschreckende Wirkung von Strafen durch die übermäßige Dauer von Strafverfahren abgeschwächt wird. Auch
Spanien
bemüht sich, die Strafverfolgungskapazitäten zu erhöhen, indem zusätzliche Mittel zugewiesen werden und das Strafrecht aktualisiert wird, um die Verjährungsfrist von schweren Straftaten zu verlängern und höhere Strafen für korruptionsbezogene Straftaten einzuführen. Ebenso hat
Frankreich
vor Kurzem Maßnahmen für eine Umstrukturierung der Finanzpolizei ergriffen und ein Bericht aus dem Jahr 2020 zeigt, dass der Anteil korruptionsbezogener Fälle an allen Fällen zugenommen hat.
Den goldenen Mittelweg zu finden zwischen den Vorrechten und Immunitäten von Beamten und der Sicherstellung, dass diese nicht als Hindernisse für eine wirkungsvolle Ermittlung und Strafverfolgung von Korruptionsvorwürfen eingesetzt werden, ist ebenfalls wichtig.
Griechenland
hat im Wege einer Verfassungsreform im Jahr 2019 Maßnahmen auf den Weg gebracht, um einige wichtige Hindernisse für die Strafverfolgung von hochrangiger Korruption in Zusammenhang mit Immunitäten und besonderen Verjährungsfristen zu beseitigen.
Auch in anderen Mitgliedstaaten werden erhebliche Bemühungen unternommen, häufig als Reaktion auf spezielle Herausforderungen oder gesellschaftlichen Druck. Als Beispiel ist
Malta
zu nennen, wo im Zuge der laufenden Ermittlungen und einer gesonderten öffentlichen Untersuchung des Mordes an der investigativen Journalisten Daphne Caruana Galizia tiefgreifende systematische Korruption aufgedeckt wurde und die Öffentlichkeit mit Nachdruck eine deutliche Stärkung der Kapazitäten zur Korruptionsbekämpfung und weitergehende Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gefordert hat. Ein umfassendes Reformprojekt wurde jetzt auf den Weg gebracht, mit dem Lücken behoben und der institutionelle Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, auch mit Blick auf den Gesetzesvollzug und die Strafverfolgung gestärkt werden sollen. Ebenso kündigte die Regierung der
Slowakei
eine Reihe von Reformen als Reaktion auf die öffentliche Empörung angesichts der Enthüllungen an, die im Rahmen der Untersuchungen des Mordes an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová gemacht wurden. Die Gerichtsverfahren laufen noch.
In manchen Fällen sind laufende Reformen auch auf eine Reaktion auf spezifische Probleme in Bereichen wie Korruption oder Geldwäsche zurückzuführen. Nach einigen hochrangigen Korruptionsfällen beabsichtigt beispielsweise die Regierung in
Österreich
mögliche Reformen zur weiteren Stärkung der Kontrolle der Parteienfinanzierung durch den Rechnungshof. Auch in den
Niederlanden
gibt es mehrere Initiativen, die auf eine weitere Stärkung des Rahmens für die Feststellung, Untersuchung und Strafverfolgung von Korruption ausgerichtet sind, insbesondere im Zusammenhang mit dem Finanzsektor. Die gemeinsame Analyse von Vorgängen durch das Zentrum für Korruptionsbekämpfung und das Referat Finanzinformationen in den Niederlanden zur Sicherstellung eines Austausches von Wissen und einer effizienteren und umfassenderen Analyse von ungewöhnlichen Transaktionen in Zusammenhang mit Korruption stellt ein gutes Beispiel dar, wie die Ermittlung von Schwachstellen angegangen werden kann.
Bei strafrechtlichen Ermittlungen und der Verhängung von Strafen für Korruption bestehen noch Herausforderungen
Aufgrund des Fehlens einer einheitlichen, aktuellen und konsolidierten Statistik in allen Mitgliedstaaten gestaltet es sich schwierig, den relativen Erfolg der Ermittlungen und Strafverfolgung von Korruptionsdelikten zu verfolgen. Zwei Pilotprojekte der Europäischen Kommission zur Datenerhebung von offiziellen Statistiken über die strafrechtliche Behandlung von Korruptionsfällen in den Mitgliedstaaten haben aufgezeigt, dass nach wie vor Hindernisse für die Erfassung vergleichbarer Daten in der EU über die Behandlung von Korruptionsfällen in den verschiedenen Phasen des Strafverfahrens in den Mitgliedstaaten bestehen. Die von den teilnehmenden Mitgliedstaaten übermittelten Erhebungsdaten zeigen, dass deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den Definitionen von Straftaten, der Verfügbarkeit von Daten und der Methodik für die Erfassung von Daten bestehen.
Die Beobachtung zeigt, dass mit Blick auf die Wirksamkeit der Ermittlungen, Strafverfolgung und Verurteilung in Korruptionsfällen, auch was hochrangige Korruptionsfälle betrifft, in mehreren Ländern Probleme bestehen. Als Beispiel ist
Bulgarien
zu nennen, wo eine Reform des rechtlichen und institutionellen Rahmens für die Korruptionsbekämpfung zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen den maßgeblichen Behörden geführt hat, obwohl noch wichtige Herausforderungen zu meistern sind, bevor sich diese Einrichtungen einen soliden Ruf hinsichtlich Unparteilichkeit, Objektivität und Unabhängigkeit aufbauen können. Es bleibt noch eine solide Erfolgsbilanz hinsichtlich rechtskräftiger Urteile in hochrangigen Korruptionsfällen zu etablieren. In
Kroatien
werden die Bemühungen der spezialisierten Dienste zur Korruptionsbekämpfung durch das Fehlen spezialisierter Ermittler und die Ineffizienz des Justizsystems beeinträchtigt, da langwierige Gerichts- und Berufungsverfahren häufig den Abschluss von Fällen behindern, auch was Fälle gegen hochrangige Beamte betrifft. Ebenso wurden in der
Slowakei
in den letzten Jahren nur sehr wenige hochrangige Korruptionsfälle untersucht oder strafrechtlich verfolgt, wobei als wichtige Herausforderung zu nennen ist, dass nur ein schwacher Schutz von Hinweisgebern besteht und die spezialisierten Stellen für die Korruptionsbekämpfung nur über begrenzte Kapazitäten für Ermittlungen und Strafverfolgung verfügen.
Auch mit Blick auf die
Tschechische Republik
bestehen Bedenken, dass hochrangige Korruptionsfälle nicht systematisch verfolgt werden, wobei derzeit Untersuchungen und Prüfungen auf nationaler und europäischer Ebene bezüglich potenzieller Interessenkonflikte und der Verwendung von EU-Mitteln laufen. In
Ungarn
wird Korruption auf hoher Ebene zwar in einigen Fällen strafrechtlich verfolgt, aber nur in sehr begrenztem Umfang, und wenn schwerwiegende Vorwürfe erhoben werden, fehlt es offenbar durchweg an entschlossenem Handeln, um strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung in Korruptionsfällen einzuleiten, an denen hochrangige Beamte oder ihr unmittelbarer Kreis beteiligt sind. Beim Umgang mit hochrangigen Korruptionsfällen sind auch in
Malta
Mängel zu verzeichnen, wobei Strafakten gegen Inhaber wichtiger Führungspositionen Berichten zufolge nach der Anfangsphase des Strafverfahrens nicht weiterbearbeitet werden, allerdings zielen die jüngsten Reformen darauf ab, Herausforderungen bei Ermittlungen und Strafverfolgung Rechnung zu tragen.
Maßnahmen zur Stärkung der Korruptionsprävention und Integritätsrahmen
Strategien zur Korruptionsprävention betreffen zahlreiche Bereiche, in der Regel unter Einbeziehung ethischer Grundsätze, von Sensibilisierungsmaßnahmen, Bestimmungen zur Offenlegung von Vermögenswerten, Unvereinbarkeiten und Interessenkonflikten, internen Kontrollmaßnahmen, Vorschriften für Lobbying und Drehtüreffekt. Transparenz, Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen, der Schutz von Hinweisgebern und eine allgemeine Kultur der Integrität im öffentlichen Leben sind Schlüsselelemente, die die Prävention und Aufdeckung von Korruption ermöglichen. Zahlreiche Mitgliedstaaten haben Maßnahmen zur Stärkung der Prävention und des Integritätsrahmens ergriffen oder planen solche. Als Beispiele sind
Bulgarien
,
Irland
,
Griechenland
,
Malta
,
die Tschechische Republik
,
Polen
und
Portugal
zu nennen. Die derzeit ausgearbeiteten Vorschriften umfassen Bereiche wie die Pflicht zu Vermögenserklärungen, Regeln für Interessenkonflikte für alle Träger öffentlicher Ämter (einschließlich Parlamentsabgeordneter), Transparenz im öffentlichen Amt oder die Einrichtung spezieller Transparenzstellen und -ämter, die mit der Überwachung und Prüfung von Vermögenserklärungen und Erklärungen zu Interessenkonflikten beauftragt sind. In bestimmten anderen Mitgliedstaaten, wie
Dänemark
,
Finnland
und
Schweden
, stützt sich die Korruptionsprävention im Wesentlichen auf eine starke Integritätskultur mit wenigen formellen Regeln und Kontrollen.
Um wirksam zu sein, müssen solche Maßnahmen auf einer sorgfältigen Diagnose der Risiken und Schwachstellen beruhen und Mechanismen beinhalten, mit denen die angemessene Durchsetzung und Weiterverfolgung von Integritätsverletzungen sichergestellt werden. Präventionsmaßnahmen führen zu sichtbaren Ergebnissen, wenn sie Teil eines umfassenden Konzepts bilden und einheitlich in allen einschlägigen Politikbereichen geregelt sind. In mehreren Ländern bestehen nach wie vor Herausforderungen, was die Durchsetzung oder die Kontrollmechanismen zur Prüfung und möglicherweise Sanktionierung von Integritätsverletzungen in Zusammenhang mit Vermögenserklärungen, Lobbying, Interessenkonflikten und Drehtüreffekten betrifft.
2.3 Medienpluralismus und Medienfreiheit
In allen Mitgliedstaaten gibt es einen Rechtsrahmen zum Schutz der Medienfreiheit und des Medienpluralismus und die Unionsbürger erfreuen sich im Allgemeinen hoher Standards, was Medienfreiheit und Medienpluralismus anbelangt. Die freie Meinungsäußerung, Medienfreiheit und Medienpluralismus sowie das Recht auf Zugang zu Informationen sind im Allgemeinen in der Verfassung oder im Sekundärrecht verankert. Medienpluralismus und Medienfreiheit sind zentrale Faktoren für die Rechtsstaatlichkeit, demokratische Rechenschaftspflicht und die Bekämpfung von Korruption. Die Ermordung von Journalisten, die Recherchen im Bereich Korruption auf hoher Ebene und mutmaßliche organisierte Kriminalität anstellten, waren ein Weckruf, der die Mitgliedstaaten an ihre Pflicht erinnerte, ein förderliches Umfeld für Journalisten zu garantieren, ihre Sicherheit zu schützen und proaktiv die Medienfreiheit und den Medienpluralismus zu fördern.
Die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Entwicklungen haben weiter bestätigt, dass freie und pluralistische Medien und der wesentliche Dienst, den sie für die Gesellschaft durch die Bereitstellung sachlich geprüfter Informationen – wodurch sie zur Bekämpfung von Desinformation beitragen – sowie die Aufrechterhaltung der demokratischen Rechenschaftspflicht erbringen, eine Schlüsselrolle innehaben. Des Weiteren wurden die potenziellen Risiken betont, die durch die Einschränkungen der freien Meinungsäußerung und des Zugangs zu Informationen entstehen. Die Krise hat aufgezeigt, dass die für die Bekämpfung der „Infodemie“ konzipierten Maßnahmen als Vorwand zur Aushöhlung von Grundrechten und Freiheiten genutzt oder für politische Zwecke missbraucht werden können. Sie hat zudem die bereits schwierige Wirtschaftslage des Sektors verschärft, da trotz der größeren Nutzergruppen die Werbeeinnahmen dramatisch eingebrochen sind. Die Lage ist für gefährdete kleinere Akteure sowie lokale und regionale Medienkanäle besonders schwierig. In der Folge werden Stärke und Diversität des Mediensektors innerhalb der EU geschwächt.
Die Überwachung im ersten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit konzentriert sich auf bestimmte grundlegende Elemente der Medienfreiheit und des Pluralismus, wobei insbesondere die Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt steht, wie die Unabhängigkeit der Medienaufsichtsbehörden, die Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich, staatliche Werbung, die Sicherheit von Journalisten und der Zugang zu Informationen. Weitere Aspekte der Medienlandschaft, die im ersten Bericht noch nicht berücksichtigt werden, wie beispielsweise die Rolle und Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien, sind ebenfalls kritisch im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit und werden in künftigen Jahren weiterentwickelt. Die Überwachung im Rahmen des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit wird überdies durch Maßnahmen ergänzt, die im Zuge des geplanten Aktionsplans für Demokratie in Europa sowie des Aktionsplans für Medien und audiovisuelle Medien vorgeschlagen werden.
Media Pluralism Monitor
Mit dem Media Pluralism Monitor werden die Risiken für die Medienfreiheit und den Medienpluralismus in allen EU-Mitgliedstaaten bewertet, wobei der Schwerpunkt auf vier Bereichen liegt – Grundschutz der Medienfreiheit, Pluralität des Marktes, politische Unabhängigkeit und soziale Inklusion der Medien. Bei den aktuellsten Ergebnissen des Monitors (MPM 2020) wird insbesondere betont, dass Journalisten und andere Medienakteure nach wie vor in einigen der überwachten Mitgliedstaaten Gefahren und Angriffen (sowohl körperlich als auch online) ausgesetzt sind. Nach den Ergebnissen kann des Weiteren nicht davon ausgegangen werden, dass alle Medienaufsichtsbehörden vor Einflussnahmen geschützt sind, und zwar sowohl mit Blick auf die der Benennung ihrer Räte als auch bei der Durchführung ihres Auftrags. Nach dem Bericht stellt die Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich durchschnittlich ein mittleres Risiko in den Mitgliedstaaten dar, was auf das Fehlen wirksamer Rechtsvorschriften und/oder den Umstand zurückzuführen ist, dass die Informationen nur öffentlichen Stellen, aber nicht der Öffentlichkeit bereitgestellt werden. Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass Nachrichtenorganisationen nach wie vor hinsichtlich einer politischen Einflussnahme gefährdet sind, insbesondere wenn die Wirtschaftslage für die Nachrichtenorganisationen instabil ist.
Unabhängigkeit der Medienaufsichtsbehörden
Die Medienaufsichtsbehörden sind wichtige Akteure für die Durchsetzung des Medienpluralismus. Bei der Umsetzung medienspezifischer Vorschriften und Entscheidungen der Medienpolitik hat ihre Unabhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Interessen sowie die Unparteilichkeit ihrer Entscheidungen direkten Einfluss auf die Marktpluralität und die politische Unabhängigkeit des Medienumfelds.
Die Unabhängigkeit und Zuständigkeit der Medienaufsichtsbehörden sind gesetzlich in allen Mitgliedstaaten verankert. Dennoch sind Bedenken hinsichtlich des Risikos einer Politisierung der Behörde beispielsweise in
Ungarn
,
Malta
und
Polen
entstanden. Des Weiteren bestehen beispielsweise in
Bulgarien
,
Griechenland
,
Luxemburg
,
Rumänien
und
Slowenien
Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit mancher nationalen Medienaufsichtsbehörden aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. In der
Tschechischen Republik
prüft die Regierung derzeit eine Reform, die auf eine weitere Stärkung der Unabhängigkeit der Medienaufsicht abzielt.
Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, deren Umsetzung dieses Jahr abgeschlossen sein sollte
, umfasst spezifische Anforderungen, die zur Stärkung der Unabhängigkeit der nationalen Medienbehörden beitragen.
Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich
Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich ist eine wesentliche Voraussetzung für eine zuverlässige Analyse der Pluralität eines bestimmten Medienmarktes; sie ist nicht nur für eine fundierte Aufsicht, Wettbewerb und politische Prozesse erforderlich, sondern auch, um der Öffentlichkeit eine Evaluierung der von den Medien verbreiteten Informationen und Meinungen zu ermöglichen. In manchen Mitgliedstaaten bestehen gut entwickelte Systeme, mit denen Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich sichergestellt wird. Beispielsweise gelten in
Deutschland
für den Nachrichtenmediensektor, kommerzielle Rundfunkanbieter, Online-Medien und die Presse spezifische Pflichten zur Offenlegung von Eigentumsverhältnissen. Politische Parteien müssen ihre Beteiligung an Medienunternehmen offenlegen. In
Frankreich
müssen Medienunternehmen ihre drei größten Anteilseigner öffentlich bekannt geben und der Medienaufsicht („Conseil Supérieur de l’Audiovisuel“ – CSA) melden, wenn der Besitz oder die Kontrolle den Schwellenwert von 10 % erreicht. Aus der Website der CSA sind Informationen über die Kapitalstruktur von Verlegern verfügbar.
Portugal
verfügt über einen fundierten Rahmen für die Sicherstellung der Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich. Die Pflicht zur Offenlegung der Eigentumsverhältnisse und die Finanzierung der Medien ist in der Verfassung verankert und ihre Überwachung liegt in der Zuständigkeit der Medienaufsichtsbehörde.
In einigen Mitgliedstaaten bestehen Hindernisse für eine wirksame öffentliche Offenlegung der Eigentumsverhältnisse oder es gibt kein wirksames System für die Offenlegung. In der
Tschechischen Republik
sind Medienunternehmen nicht verpflichtet, ihre Eigentumsstrukturen, entsprechende Änderungen oder Informationen hinsichtlich des wirtschaftlich Berechtigten des Unternehmens offenzulegen. In
Zypern
besteht keine Transparenz hinsichtlich des Eigentums von Printmedien und digitaler Presse, was Bedenken hinsichtlich Kapitalverflechtungen entstehen lässt. Auch in
Bulgarien
gibt die fehlende Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich Anlass zu Bedenken.
Verteilung der staatlichen Werbung
Staatliche Werbung kann eine wichtige Unterstützungsquelle für Medien darstellen. Die finanzielle Unterstützung durch den Staat kann unerlässlich sein, besonders für gemeinnützige, gemeinschaftliche Medien und andere weniger kommerzielle Formen des Journalismus, insbesondere in Zeiten einer Wirtschaftskrise, und durch transparente Regeln und faire Kriterien kann das Risiko von Vetternwirtschaft verringert werden. Es ist deshalb besonders wichtig, dass faire und transparente Regeln für die Verteilung staatlicher Mittel und Unterstützung vorhanden sind und wirksam angewandt werden. Fehlen solche Regeln, nimmt das Risiko zu, dass öffentliche Gelder parteiisch bestimmten Medienunternehmen zugewiesen werden.
In vielen Mitgliedstaaten gibt es keine speziellen Rechtsvorschriften, mit denen faire und transparente Regeln für die Verteilung der staatlichen Werbung an Medienunternehmen sichergestellt werden. Die auf das Fehlen klarer und transparenter Regeln zurückgehenden Risiken können sich durch eine geringe Transparenz hinsichtlich der Verteilungskriterien, der zugewiesenen Beträge und der Empfänger zeigen. In
Ungarn
wurden angesichts des Fehlens von Rechtsvorschriften und Transparenz bei der Verteilung staatlicher Werbung erhebliche Mittel für staatliche Werbung regierungsfreundlichen Unternehmen zugewiesen, wodurch der Regierung die Tür geöffnet wurde, um indirekten politischen Einfluss auf die Medien auszuüben. In
Österreich
werden relativ hohe Beträge für staatliche Werbung an Medienunternehmen vergeben, und da es keine Regeln für ihre faire Verteilung gibt, sind Bedenken hinsichtlich eines potenziellen politischen Einflusses auf diese Verteilung entstanden.
In manchen Fällen werden diese Risiken durch die allgemeinen Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge und/oder die Vorschriften für eine verantwortungsvolle Verwaltung der staatlichen Ausgaben gemindert. Beispielsweise gib es in der
Slowakei
keinen Rahmen für die Regulierung der Verteilung staatlicher Werbung, doch werden Verträge zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor im zentralen Vertragsregister erfasst, das öffentlich zugänglich ist.
Vor Kurzem hat die Kommission vorgeschlagen, dass das Aufbaupaket aus dem Unionshaushalt dabei helfen könnte, dem unmittelbaren Liquiditätsbedarf zu begegnen, während die digitalen Investitionen und die Resilienz des Sektors durch die Programme InvestEU, Kreatives Europa und Horizont Europa gestärkt werden sollen. Ferner ermutigt die Kommission die Mitgliedstaaten und alle EU-Akteure zur Unterstützung von Medien, wobei gleichzeitig die Wahrung ihrer Unabhängigkeit, Medienfreiheit und Pluralismus sicherzustellen sind.
Politischer Druck auf die Medien
Schwachstellen und Risiken für den Medienpluralismus nehmen zu, wenn die politische Unabhängigkeit der Medien in Gefahr ist, Vorschriften zum Schutz vor politischer Einflussnahme fehlen oder Vorschriften gelten, die politischen Akteuren das Eigentum an Medien gestatten.
In den Länderkapiteln wurde eine Reihe von Fällen ermittelt, in denen von Interessenträgern ernsthafte Bedenken aufgeworfen wurden. Beispielsweise wird in
Bulgarien
gemeldet, dass das Eigentum an mehreren Medienunternehmen eng mit politischen Akteuren verknüpft ist, selbst wenn diese offiziell nicht die Eigentümer sind. Darüber hinaus hat eine große Zahl an bulgarischen Journalisten politische Einflussnahme in den Medien als „üblich“ und „weit verbreitet“ bezeichnet. In
Ungarn
wird die Gründung des Medienkonzerns KESMA über die Zusammenlegung von mehr als 470 regierungsfreundlichen Medienunternehmen ohne eine Prüfung durch die Medien- und Wettbewerbsbehörden als Gefahr für den Medienpluralismus gesehen. Weitere Bedenken wurden infolge einer vor Kurzem erfolgten Übernahme laut, die dem Muster einer systematischen wirtschaftlichen Übernahme der verbleibenden unabhängigen Online-Nachrichtenmedien folgt. In
Malta
kontrollieren oder verwalten die beiden wichtigsten im Parlament vertretenen politischen Parteien mehrere maltesische Medienunternehmen und Sendeanstalten. In
Polen
verwies die Regierungskoalition während des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 auf mögliche Pläne für legislative Änderungen hinsichtlich sich in ausländischem Besitz befindlichen Medienunternehmen, was Auswirkungen auf den Medienpluralismus haben könnte.
Recht auf Zugang zu Informationen
Das Recht auf Zugang zu Informationen ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische Debatte und Kontrolle öffentlicher Einrichtungen sowie von entscheidender Bedeutung für die Medien, aber auch ganz allgemein für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Es stützt sich auf die Transparenz der öffentlichen Verwaltung und Entscheidungsfindung. Das Recht ist in der Verfassung oder im Sekundärrecht in allen Mitgliedstaaten garantiert, in manchen Länderkapiteln wird jedoch auf Hindernisse oder Verzögerungen bei der Bereitstellung der Informationen hingewiesen. In der
Tschechischen Republik
,
Malta
und
Rumänien
wurden beispielsweise wiederholt Schwierigkeiten und Hindernisse bei der Einholung von Informationen gemeldet.
Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Journalisten vor Gefahren und Angriffen
In einer Reihe von Mitgliedstaaten sind Journalisten und andere Medienakteure zunehmend Gefahren und Angriffen (körperlich und Online) in unterschiedlichen Formen in Zusammenhang mit ihren Veröffentlichungen und ihrer Arbeit ausgesetzt: der Einsatz von taktischen Klagen gegen öffentliche Kritik (SLAPP), Gefahren für die physische Sicherheit und physische Angriffe, Online-Bedrohungen, insbesondere von Journalistinnen, Hetzkampagnen, Einschüchterung und politisch orientierte Bedrohungen. Solche Gefahren, Angriffe und Hetzkampagnen werden in der einen oder anderen Form in mehreren Mitgliedstaaten gemeldet. Beispiele werden in den Länderkapiteln über
Bulgarien
,
Kroatien
,
Slowenien
,
Spanien
und
Ungarn
hervorgehoben. Gefahren und Angriffe haben eine abschreckende Wirkung auf Journalisten und sind mit dem Risiko verbunden, dass eine öffentliche Debatte über ein kontroverses gesellschaftliches Thema eingeschränkt wird.
Um dieser Situation Rechnung zu tragen, hat eine Reihe von Mitgliedstaaten bewährte Verfahren erarbeitet und Strukturen eingerichtet bzw. Maßnahmen ergriffen, mit denen Unterstützung und Schutz geboten wird. In
Belgien
richtete der flämische Journalistenverband eine spezielle Hotline für physische oder verbale Gewalt gegen Journalisten ein. In
Italien
wurde ein Koordinierungszentrum eingerichtet, das sich mit Taten gegen Journalisten befasst. In den
Niederlanden
wurde das auf eine Verringerung von Bedrohungen, Gewalt und Aggression gegenüber Journalisten ausgerichtete „PersVeilig“-Protokoll zwischen der Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Gesellschaft der Chefredakteure und dem Journalistenverband vereinbart.
Schweden
hat nationale Kontaktstellen eingerichtet und zusätzliche personelle und finanzielle Mittel für die Unterstützung von Journalisten und eine bessere Untersuchung von Hassverbrechen zugewiesen.
2.4 Sonstige institutionelle Aspekte in Zusammenhang mit dem System von Kontrolle und Gegenkontrolle
Institutionelle Kontrollen und Gegenkontrollen sind der Kern der Rechtsstaatlichkeit. Sie garantieren das Funktionieren, die Zusammenarbeit und die gegenseitige Kontrolle der staatlichen Organe, sodass die Ausübung hoheitlicher Rechte durch eine staatliche Stelle unter der Kontrolle anderer staatlichen Stellen erfolgt. Neben einem wirksamen Justizsystem stützt sich das System von Kontrolle und Gegenkontrolle auf einen transparenten, auf der Rechenschaftspflicht beruhenden, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsprozess, die Gewaltenteilung, die verfassungsgerichtliche und gerichtliche Kontrolle von Gesetzen, ein transparenter und hochwertiger Staatsapparat sowie wirkungsvolle unabhängige Behörden wie Ombudsstellen oder nationale Menschenrechtsinstitutionen. In jedem Mitgliedstaat unterscheidet sich das konkrete System von Kontrolle und Gegenkontrolle in Abhängigkeit von dem Gleichgewicht, das sich aus den politischen, rechtlichen und verfassungsrechtlichen Traditionen ergibt. Zwar kann sich das konkrete Modell in den einzelnen Mitgliedstaaten unterscheiden, entscheidend ist jedoch, dass es die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Normen gewährleistet.
Im Mittelpunkt des ersten Berichts über die Rechtsstaatlichkeit stehen einige zentrale Elemente, die für die Rechtsstaatlichkeit von besonderer Bedeutung sind, wie das Verfahren für die Ausarbeitung von Gesetzen und das Gesetzgebungsverfahren, insbesondere was die Mitwirkung von Interessenträgern, die Nutzung von beschleunigten und Eilverfahren betrifft, und das System für die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Zudem werden Verfassungsreformen zur Stärkung des Systems von Kontrolle und Gegenkontrolle betrachtet. Überdies werden Sondermaßnahmen, die zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ergriffen wurde, berücksichtigt. Die Rolle von unabhängigen Behörden, wie Ombudsstellen oder andere nationale Menschenrechtsinstitutionen, sowie die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit sind weitere Elemente der Analyse.
Druck auf das System der Kontrolle und Gegenkontrolle ist in allen Mitgliedstaaten festzustellen und ist häufig ein normaler Aspekt des politischen Prozesses in einer demokratischen Gesellschaft. Wirtschaftskrisen, die COVID-19-Pandemie und gesellschaftliche Veränderungen können diese Spannungen verstärken, doch das System von Kontrolle und Gegenkontrolle verliert nichts an seiner Bedeutung. In den vergangenen Jahren sind in der Union mehrere Krisen in Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit entstanden, die mit Angriffen auf das Prinzip der institutionellen Kontrollen und Gegenkontrollen in Verbindung gebracht werden. Eine Stärkung der Resilienz der institutionellen Kontrollen und Gegenkontrollen ist daher von wesentlicher Bedeutung, um die Rechtsstaatlichkeit zu schützen.
Ein förderlicher Rahmen für die Zivilgesellschaft ermöglicht Debatten und die Kontrolle der Regierungsverantwortlichen. Wie bei unabhängigen Journalisten und kritischen Medien sind Versuche, Akteure der Zivilgesellschaft zu unterdrücken, stets als Warnsignal mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit zu sehen.
Debatten über die Rechtsstaatlichkeit als Beitrag zur Stärkung der Kultur der Rechtsstaatlichkeit
Positive Reforminitiativen entstehen häufig aus öffentlichen Diskussionen über konkrete Themen, die für die Rechtsstaatlichkeit von Bedeutung sind. Debatten und eine stärkere Sensibilisierung für das System von Kontrolle und Gegenkontrolle, das für ein wirksames Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit erforderlich ist, sind deshalb ein wichtiger erster Schritt. Die zunehmende Aufmerksamkeit für die Debatte um Rechtsstaatlichkeit in der Union wird durch die Bemühungen zur Förderung nationaler Debatten im Wege von parlamentarischen Anhörungen, öffentlichen Sensibilisierungskampagnen oder Initiativen der Justiz deutlich. In der
Tschechischen Republik
organisiert der Senat Konferenzen und Debatten über mit dem Justizsystem in Zusammenhang stehende Themen. In
Dänemark
hat die nationale Gerichtsverwaltung in den letzten Jahren eine Reihe von Bemühungen unternommen, um die Rechtsstaatlichkeit zu fördern, das Verständnis des Justizsystems einer Vielzahl an Zielgruppen zu vertiefen und die Nutzerorientierung des Justizsystems zu verbessern. In
Deutschland
tragen regelmäßige Debatten, landesweite Informations- und Anzeigenkampagnen sowie Publikationen zu rechtsstaatlichen Themen dazu bei, eine dynamische Kultur der Rechtsstaatlichkeit zu fördern. In den
Niederlanden
finden regelmäßig politische Debatten über den Rechtsstaat in beiden Kammern des Parlaments statt.
Verfassungsreformen zur Stärkung der institutionellen Kontrollen und Gegenkontrollen, insbesondere was die verfassungsgerichtliche Kontrolle anbelangt
In einer Reihe von Mitgliedstaaten sind derzeit Reformprozesse im Gange. Sie betreffen vor allem das Eröffnen neuer Möglichkeiten für Bürger, um die Ausübung der exekutiven oder legislativen Macht anzufechten.
In
Zypern
ist beispielsweise in einem Gesetzentwurf die Errichtung eines Verfassungsgerichts vorgesehen, das die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vom obersten Gericht übernehmen würde. Nach einer Verfassungsreform wurde 2019 in
Litauen
die Möglichkeit einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und eine nachträgliche Prüfung von verabschiedeten Gesetzen eingeführt. In
Luxemburg
wurden in einer unlängst durchgeführten Verfassungsreform die Folgen von Urteilen des Verfassungsgerichts, mit denen Rechtsvorschriften für verfassungswidrig erklärt werden, verschärft und durch eine vorgeschlagene Verfassungsänderung würde dem Amt der Ombudsperson Verfassungsrang verleihen. In der
Slowakei
prüft die Regierung derzeit eine Stärkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts, indem unter anderem die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde und einer Ex-ante-Kontrolle der Konformität von Gesetzen mit der Verfassung eingeführt werden. Verfassungsreformen betreffen auch andere Aspekte des Systems von Kontrolle und Gegenkontrolle. Beispielsweise hat eine vor Kurzem angenommene Verfassungsreform in
Malta
das Wahlverfahren des Präsidenten von Malta und die Funktion der Ombudsstelle zum Gegenstand, außerdem wurde eine weitere Verfassungsreform bezüglich der Ernennung bestimmter unabhängiger Ausschüsse dem Parlament vorgelegt. Die in
Schweden
angestellten Überlegungen zur Stärkung des demokratischen Systems umfassen Reformen des Verfahrens für die Annahme von Verfassungsänderungen, während im Zuge einer parlamentarischen Untersuchung der Verfassungsrang, der Zuständigkeitsbereich und die Tätigkeiten der parlamentarischen Ombudsstelle geprüft werden.
Manchen dieser Bemühungen liegen Empfehlungen internationaler Expertengremien wie der Venedig-Kommission zugrunde, die selbst als Anerkennung zu sehen ist, dass die Berücksichtigung unterschiedlicher Meinungen und Fachkenntnisse im Wege einer breiten und gründlichen Konsultation zur Entwicklung eines ausgewogenen Systems beiträgt.
Die Verbesserung der Inklusivität und Qualität des Gesetzgebungsverfahrens ist wichtig für Strukturreformen
Das Gesetzgebungsverfahren profitiert von zunehmend inklusiven und faktengestützten Instrumenten. Insbesondere haben viele Mitgliedstaaten systematische Strategien zur Einbeziehung von Interessenträgern eingeführt, mit denen gewährleistet wird, dass Strukturreformen das Ergebnis einer breiten Diskussion innerhalb der Gesellschaft sind, auch wenn diese Strategien in der Praxis nicht immer umfassend Anwendung finden.
In einigen Mitgliedstaaten wird derzeit die Inklusivität des Gesetzgebungsverfahrens verbessert. In
Zypern
und der
Tschechischen Republik
laufen derzeit Bemühungen zur Verbesserung der Konsultationen und Transparenz. In
Estland
wird ein neues Umfeld für die Gesetzgebung entwickelt und es werden Leitlinien zur Rechtssetzungspolitik erarbeitet, um die Nutzerfreundlichkeit und Inklusivität zu verbessern. In
Griechenland
ist derzeit eine umfassende Reform der Gesetzgebungsverfahren im Gange. In
Frankreich
wird die jüngste Initiative des Bürgerkonvents für Klima als innovative Möglichkeit zur Einbeziehung der Bürger in das Gesetzgebungsverfahren betrachtet.
Eine übermäßige Nutzung von im beschleunigten Verfahren oder Eilverfahren angenommenen Vorschriften kann Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit geben
In allen Mitgliedstaaten wird im normalen Gesetzgebungsverfahren dem Parlament als Gesetzgeber Vorrang eingeräumt. Beschleunigte Gesetzgebungsverfahren und das Fehlen von Anhörungen sind jedoch übliche Merkmale von Rechtsstaatlichkeitskrisen. Die Venedig-Kommission und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben bei verschiedenen Anlässen betont, wie wichtig das parlamentarische Verfahren ist: intensive Beratung von Gesetzgebungsvorschlägen und Änderungen, einschließlich sinnvoller Anhörungen mit Interessenträgern, Experten und der Zivilgesellschaft, sowie ein Dialog mit der politischen Opposition. Darüber hinaus wird bei einem Umgehen des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren die Gewaltenteilung – ein Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit – verzerrt.
In einigen Mitgliedstaaten gaben der wiederholte Rückgriff auf das beschleunigte Gesetzgebungsverfahren im Parlament oder Notverordnungen der Regierung Anlass zu Bedenken, insbesondere wenn diese im Rahmen breiter Reformen angewendet werden, die Auswirkungen auf die Grundrechte oder das Funktionieren wesentlicher staatlicher Organe, wie das Justizsystem oder das Verfassungsgericht aufweisen. In diesen Fällen besteht ein erhöhtes Risiko, dass Gesetze angenommen werden, die eine Gefahr für die Achtung der Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit oder die Demokratie sowie internationale Verpflichtungen darstellen. In
Polen
wurde im Zeitraum 2015-2019 das beschleunigte Verfahren zur Annahme von Vorschriften durch das Parlament umfassend für die Annahme wichtiger Strukturreformen der Justiz eingesetzt, durch die der politische Einfluss auf die Justiz gewachsen ist In
Rumänien
sorgte die häufige Verwendung von Notverordnungen der Regierung in Schlüsselbereichen, unter anderem für Justizreformen, für Bedenken hinsichtlich der Qualität der Rechtsvorschriften, Rechtssicherheit und der Achtung der Gewaltenteilung. Die häufige Nutzung von beschleunigten Verfahren oder die Annahme von Rechtsvorschriften auf der Grundlage von Initiativen, die direkt von Parlamentsabgeordneten vorgelegt wurden, ohne dass die normalen Vorbereitungsverfahren und eine Anhörung von Interessenträgern stattfinden, stellen ebenfalls ein Risiko aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit dar.
Nationale Parlamente, Verfassungsgerichte und oberste Gerichte spielen bei der Prüfung der zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ergriffenen Maßnahmen eine Schlüsselrolle
Die Reaktionen auf die Krise zeigen insgesamt eine starke Resilienz der nationalen Systeme mit intensiven politischen und rechtlichen Debatten zu den ergriffenen Maßnahmen. In zahlreichen Mitgliedstaaten waren die Kontrolle und Debatten der Parlamente wesentlich für die Erarbeitung der Vorschläge für einen Ausnahmezustand oder alternativ einen Gesundheitsnotstand sowie die nachträgliche Kontrolle der von der Regierung angenommenen Verordnungen. Darüber hinaus wurden diese Maßnahmen häufig vom Verfassungsgericht, den obersten Gerichten oder ordentlichen Gerichten geprüft. Ein Ex-ante-Mechanismus für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor der Annahme von Gesetzen war in diesem Zusammenhang besonders von Bedeutung, wobei eine schnelle Reaktion und die Wahrung der Grundrechte Hand in Hand gehen müssen.
Die Ombudsstelle und die nationalen Menschenrechtsinstitutionen spielen eine wichtige Rolle
Nationale Menschenrechtsrechtsinstitutionen spielen eine wichtige Rolle beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit und können für eine unabhängige Kontrolle des Systems bei Rechtsstaatlichkeitskrisen sorgen. Einige Mitgliedstaaten (
Italien
,
Malta
und die
Tschechische Republik
) haben noch keine entsprechende Institution eingerichtet, obgleich andere Behörden im Bereich der Grundrechte tätig sind. In
Italien
werden derzeit zwei Gesetzentwürfe vom Parlament beraten, mit denen die Einrichtung einer unabhängigen nationalen Menschenrechtsbehörde vorgeschlagen wird. In
Malta
wird gegenwärtig ein Vorschlag zur Einrichtung einer Menschenrechtsinstitution im Parlament diskutiert. Die Rolle der Ombudspersonen im System von Kontrolle und Gegenkontrolle ist unterschiedlich. In manchen Mitgliedstaaten kann die Ombudsperson Gesetze vor dem Verfassungsgericht anfechten oder ihre Änderung im Parlament beantragen.
Organisationen der Zivilgesellschaft sind in einem instabilen Umfeld tätig, sie können aber dennoch ein starker Akteur bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit sein
In einem vor Kurzem ergangenen Urteil stellte der Europäische Gerichtshof
klar, dass Organisationen der Zivilgesellschaft „ihre Tätigkeiten fortsetzen und ohne ungerechtfertigte staatliche Eingriffe arbeiten“ können müssen. Es wird anerkannt, dass das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft bildet, da es den Bürgern ermöglicht, in Bereichen von gemeinsamem Interesse gemeinsam zu handeln und damit zu einem ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen.
In den meisten Mitgliedstaaten ist ein förderliches und unterstützendes Umfeld für die Zivilgesellschaft vorhanden. Vor Kurzem haben manche Mitgliedstaaten das Umfeld für die Zivilgesellschaft gestärkt oder beabsichtigen, solche Initiativen zu ergreifen. In
Kroatien
ist die Regierung beispielsweise bereit, einen nationalen Plan zur Verbesserung des rechtlichen, finanziellen und institutionellen Unterstützungssystems für die Tätigkeiten der Organisationen der Zivilgesellschaft anzunehmen. In
Slowenien
soll mit der nationalen Strategie für die Entwicklung des nichtstaatlichen Sektors und der Freiwilligentätigkeit die Unterstützung für Nichtregierungsorganisationen bis 2023 verbessert werden, insbesondere wenn diese einen Beitrag zu den Prinzipien des Pluralismus und der Demokratie in der Gesellschaft leisten. In vielen Mitgliedstaaten hat sich die Zivilgesellschaft unter schwierigen Umständen als resilient erwiesen und spielte als Teil des Systems von Kontrolle und Gegenkontrolle weiterhin eine wichtige Rolle in der nationalen und europäischen Rechtsstaatlichkeitsdebatte. In der
Slowakei
war nach dem Mord an Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová 2018 und in der Folgezeit eine solide Reaktion der Zivilgesellschaft zu verzeichnen. In
Rumänien
war die starke Beteiligung der Zivilgesellschaft entscheidend, um Reformen zur Korruptionsbekämpfung und die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu fördern. In
Italien
gibt es eine lebendige Zivilgesellschaft, obwohl manche NRO, die in bestimmten Bereiche wie Migration tätig sind, Gegenstand von Hetzkampagnen sind. In
Griechenland
haben einige zivilgesellschaftliche Organisationen, die im Bereich Migration tätig sind, Bedenken geäußert, dass sich der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum vor Ort verringert hat.
In manchen Mitgliedstaaten hingegen ist die Zivilgesellschaft mit ernst zu nehmenden Herausforderungen hinsichtlich neuer Rechtsvorschriften, die den Zugang zu ausländischen Finanzmitteln einschränken, oder Hetzkampagnen konfrontiert. In
Bulgarien
werden beispielsweise neue Gesetzentwürfe zur Transparenz ausländischer Finanzmittel für NRO aufgrund ihrer möglichen negativen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft kritisiert. Der Gerichtshof der Europäischen Union stellte im Juni 2020 fest, dass in
Ungarn
ein Gesetz von 2017 über die Transparenz von mit ausländischen Mitteln finanzierten Organisationen der Zivilgesellschaft unvereinbar mit dem freien Kapitalverkehr und dem Recht auf Vereinigungsfreiheit ist. In
Polen
richten sich ungünstige Erklärungen von Vertretern öffentlicher Stellen gegen NRO, wodurch der zivilgesellschaftliche Raum beeinträchtigt wird. Auf LGBTI+-Gruppen ausgerichtete Maßnahmen der Regierung, die auch die Festnahme und Haft einiger Vertreter der Gruppen einschließt, sowie Hetzkampagnen gegen diese Gruppen haben die Befürchtungen verstärkt.
3.Entwicklungen und Maßnahmen auf EU-Ebene zur Rechtsstaatlichkeit
Im vergangenen Jahr stand die Rechtsstaatlichkeit weiterhin hoch auf der Agenda der Europäischen Union. Wie in den politischen Leitlinien von Präsidentin Ursula von der Leyen dargelegt, ist die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit eine zentrale Priorität für diese Kommission, die konkret als prioritäres Portfolio einem Vizepräsidenten und für die Rechtsstaatlichkeit zuständigen Kommissionsmitglied anvertraut wurde. Von Anfang an hat die Kommission auch im Zuge der Einrichtung des neuen europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auf die Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene reagiert. Zusätzlich zur laufenden Überwachung hat sie den Dialog und die Zusammenarbeit mithilfe von Prozessen wie dem Europäischen Semester gefördert und Herausforderungen mit Blick auf die Wirksamkeit des Justizsystems oder des Rahmens für die Korruptionsbekämpfung in den Mitgliedstaaten hervorgehoben.
Die COVID-19-Pandemie hat wichtige Fragen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit aufgeworfen, die in der europäischen Debatte noch präsent sind. Seit Mitte März überwacht die Kommission die Maßnahmen in den Mitgliedstaaten, die Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte haben. Im Rahmen des Europäischen Semesters wurde in den länderspezifischen Empfehlungen von August 2020 erneut darauf hingewiesen, dass diese außergewöhnlichen Maßnahmen unbedingt verhältnismäßig, notwendig und zeitlich begrenzt sein sowie einer Überprüfung unterliegen sollten.
Das Europäische Parlament spielt eine zunehmend wichtige Rolle bei der Richtung der Debatte über die Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene. Im vergangenen Jahr reagierte das Europäische Parlament auf sich abzeichnende Entwicklungen in Zusammenhang mit der Achtung unserer gemeinsamen Werte, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit. Das Europäische Parlament hat mehrere Entschließungen angenommen, und der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) verabschiedete Berichte und organisierte Besuche in den Ländern vor Ort. Diese politischen Diskussionen sind eine Schlüsselkomponente für die Stärkung des Stellenwerts von Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Die Kommission erkennt die erforderliche Verknüpfung zwischen Demokratie und Grundrechten an, wobei dem in eigenen Arbeitsbereichen Rechnung getragen wird: der Aktionsplan für Demokratie in Europa und die erneuerte Strategie zur Umsetzung der Charta der Grundrechte, die beide im Laufe von 2020 angenommen werden sollen. Nach Auffassung der Kommission bietet der erste Bericht über die Rechtsstaatlichkeit und der vorbereitende Dialog mit den Mitgliedstaaten eine solide Grundlage für künftige Arbeiten im Europäischen Parlament.
Der Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit reagiert auch auf verstärkte Maßnahmen des Rates im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Im Herbst 2019 diskutierte der Rat eine weitere Stärkung des jährlichen Dialogs des Rates zur Rechtsstaatlichkeit durch eine jährliche Bestandsaufnahme. Dabei würden Diskussionen und der Austausch von bewährten Verfahren in umfassender und konstruktiver Weise als Beitrag zur Prävention von Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit genutzt. Der Ratsvorsitz hat seine Absicht zu einem politischen Rechtsstaatsdialog auf der Grundlage des Berichts der Kommission über die Lage der Rechtsstaatlichkeit erklärt, der auch eine länderspezifische Betrachtung einschließt.
Auf diese Weise wird der erste Bericht über die Rechtsstaatlichkeit dazu beitragen, die Debatte in den europäischen und nationalen Institutionen zu beleben. Überdies werden regelmäßige Sitzungen des Netzes der nationalen Kontaktstellen für den Bereich der Rechtsstaatlichkeit und mit Interessenträgern stattfinden. Die Mitgliedstaaten werden gebeten, Anfang 2021 einen Beitrag vorzulegen, dem sich im Frühling vor dem nächsten Bericht Länderbesuche in allen Mitgliedstaaten anschließen. Gleichzeitig finden Arbeiten zur Förderung von rechtsstaatskonformen Reformen durch EU-Finanzmittel und Fachwissen statt. Seit 2017 verfügt die Kommission über ein spezielles Programm für technische Hilfe für Reformen in den Mitgliedstaaten, das auch Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit unterstützt. Die bereitgestellte Unterstützung kann in Form von Experten- und Informationsreisen vor Ort, des Austausches einschlägiger bewährter Verfahren, diagnostischer Analysen sowie der Entwicklung und Umsetzung gezielter Lösungen zur Abhilfe erfolgen. Auch andere Programme der Kommission, wie die Programme für Justiz sowie Bürgerschaft, Gleichheit, Rechte und Werte sowie der Fonds für die innere Sicherheit (Polizei), können einen Beitrag leisten, unter anderem durch Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen, die der Zivilgesellschaft und anderen Interessenträgern offenstehen. Justizreformen und Reformen zur Korruptionsbekämpfung können einen entscheidenden Einfluss auf die Rahmenbedingungen für Unternehmen haben, wie bereits in Berichten über das Europäische Semester hervorgehoben wurde, und sollten deshalb von den Mitgliedstaaten bei der Erarbeitung ihrer nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sorgfältig geprüft werden.
Zusätzlich zum europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit umfasst das Instrumentarium der EU in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit verschiedene Werkzeuge, um auf eine Vielzahl von Situationen zu reagieren. Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union steht häufig im Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen. Darin wird ein im Vertrag verankertes Verfahren zur Berücksichtigung von Risiken für die Grundwerte der EU in den Mitgliedstaaten festgelegt, nach dem die EU als letztes Mittel die höchste politische Sanktion gegen einen Mitgliedstaat verhängen kann, d. h. die Aussetzung der Stimmrechte im Rat. Bis 2017 wurde das Verfahren niemals ausgelöst. Im Dezember 2017 wurde von der Kommission das Verfahren gegen Polen und später im September 2018 vom Europäischen Parlament gegen Ungarn eingeleitet. Diese Verfahren werden im Rat mit Anhörungen und aktuellen Informationen zur Lage in den beiden betreffenden Mitgliedstaaten fortgeführt, doch die meisten der ermittelten Herausforderungen sind noch ungelöst. Die Kommission fordert die betreffenden Mitgliedstaaten und den Rat auf, sich für eine Beschleunigung der Lösung der im Rahmen dieser Verfahren aufgeworfenen Probleme und das Finden von Lösungen, mit denen die Rechtsstaatlichkeit und die gemeinsamen Werte aller Mitgliedstaaten geschützt werden, einzusetzen. Bis eine Lösung für die vorgebrachten Bedenken gefunden wird, bietet die Kommission dem Rat weiterhin Unterstützung bei der Fortführung der Verfahren nach Artikel 7, damit eine Lösung für die betreffenden Fragen erzielt werden kann.
Auch der Gerichtshof der Europäischen Union spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit durch seine ständige Rechtsprechung in diesem Bereich. Wenn Rechtsstaatlichkeitsmängel eine Verletzung des EU-Rechts darstellen, wendet die Kommission einen strategischen Ansatz für Vertragsverletzungsverfahren an, die auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufbauen. Diese Verfahren sind auf spezifische Aspekte eines Verstoßes gegen das EU-Recht ausgerichtet. Die Kommission ist verpflichtet, ihre Befugnisse uneingeschränkt zu nutzen, und übt weiterhin ihre Funktion als Hüterin der Verträge aus, um die Erfüllung der Anforderungen des EU-Rechts bezüglich der Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen. Sie hat mehrfach Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu Themen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit angestrengt, und zudem wurden dem Gerichtshof von nationalen Gerichten Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung des EU-Rechts in einer Reihe von Fällen vorgelegt. 2019 und 2020 entwickelte der Gerichtshof eine wichtige Rechtsprechung zur Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere bestätigte er den Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes und des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und klärte diese weiter. Angesichts der Zahl der wichtigen anhängigen Vertragsverletzungsverfahren und der Vorabentscheidungen zu Themen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit wird diese Rechtsprechung in den kommenden Monaten und Jahren voraussichtlich weiterentwickelt.
Schließlich unterstrich der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen zu der Tagung am 17. bis 21. Juli 2020 die Bedeutung, die der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der EU-Grundwerte in Zusammenhang mit dem Unionshaushalt zukommt. Unter Verweis auf die Bedeutung, die dem Schutz des Unionshaushalts in Einklang mit den Werten nach Artikel 2 EUV zukommt, sprach sich der Europäische Rat für die Einführung einer Konditionalitätsregelung und Maßnahmen im Fall von Verstößen aus. Durch die Zusicherung des Rats der Europäischen Union dürfte die Annahme des Vorschlags der Kommission zum Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten, der derzeit vom Europäischen Parlament und vom Rat beraten wird, beschleunigt werden. Ziel ist es, den Haushalt der Union in Fällen zu schützen, in denen die finanziellen Interessen der Union aufgrund genereller Mängel in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat gefährdet sind.
4.Schlussfolgerungen und nächste Schritte
Im Juli 2019 forderte Präsidentin von der Leyen das Europäische Parlament, den Rat und die Mitgliedstaaten auf, sich an einem Prozess der Zusammenarbeit im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, einem neuen europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit unter Mitwirkung aller Mitgliedstaaten und EU-Organe als vorbeugende Maßnahme, zu beteiligen.
Dieser erste Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ist das Ergebnis eines neuen Dialogs zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten, der in die länderspezifische Analyse aller Mitgliedstaaten einfließt. Er ist ein wichtiger Schritt in Richtung Stärkung des gemeinsamen Verständnisses der Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Verbesserung des gegenseitigen Vertrauens. Die Kommission begrüßt den offenen Dialog mit allen Mitgliedstaaten und ihr Engagement bei der Ausarbeitung der länderspezifischen Analysen. Es ist ein Zeichen sowohl für die Bedeutung, die der Rechtsstaatlichkeit von den Mitgliedstaaten beigemessen wird, als auch ihres Engagements für einen europäischen Prozess. Nach Auffassung der Kommission wird dieser Prozess dazu beitragen, dem Entstehen oder der Vertiefung von Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit vorzubeugen und einen weiteren Beitrag zur Förderung einer soliden politischen und rechtlichen Kultur der Rechtsstaatlichkeit in der EU leisten. Der Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit kann jetzt als zentraler Baustein des Instrumentariums der EU zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt werden.
In dem Bericht wird eine Bilanz der einschlägigen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten gezogen. Es wird betont, dass zahlreiche Mitgliedstaaten über hohe Standards auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit verfügen und auch weltweit anerkannt sind, was bewährte Verfahren bei der Anwendung der Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit anbelangt. Doch werden in dem Bericht auch wichtige Herausforderungen in Fällen beleuchtet, in denen die Unabhängigkeit der Justiz unter Druck ist, sich die Systeme als nicht ausreichend widerstandsfähig gegen Korruption erweisen haben, Bedrohungen für die Medienfreiheit und den Medienpluralismus die demokratische Rechenschaftsablegung gefährden oder das für ein wirksames System wesentliche System von Kontrolle und Gegenkontrolle Herausforderungen ausgesetzt ist. Die Kommission wertet es als ermutigendes Zeichen, dass alle Mitgliedstaaten an der Ausarbeitung des Berichts mitgearbeitet haben, und fordert sie auf, diese Zusammenarbeit bei den Folgemaßnahmen zu dem Bericht fortzusetzen.
Die Kommission sieht dem weiteren Engagement des Europäischen Parlaments und des Rats in Fragen der Rechtsstaatlichkeit erwartungsvoll entgegen und ist der Ansicht, dass der vorliegende Bericht eine solide Grundlage für weitere interinstitutionelle Arbeiten bietet. Die Kommission ersucht auch die nationalen Parlamente und nationalen Behörden, den vorliegenden Bericht zu erörtern, auch unter Einbeziehung seiner Länderkapitel, und als Ermutigung zur Durchführung von Reformen und Anerkennung der europäischen Solidarität sich gegenseitig zu unterstützen. Der große Kreis der außer den Regierungsbehörden beteiligten nationalen Akteure, die eingebunden waren und einen Beitrag geleistet haben, zeigt auch, dass ein Bedarf an nationalen Debatten besteht.
Der erste Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ist der Grundstein für einen neuen und dynamischen Prozess, der einen fortgesetzten Dialog mit den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten sowie weiteren Interessenträgern auf nationaler und EU-Ebene beinhaltet. Die Kommission wird jetzt mit der Erarbeitung des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit 2021 beginnen, wobei sie sich auf die im ersten Jahr des Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit gewonnenen Erfahrungen stützt und die Dynamik weiterführt, um die Resilienz der Rechtsstaatlichkeit in unseren Demokratien zu stärken. Bessere Voraussetzungen werden allen Europäerinnen und Europäer dabei helfen, die Herausforderungen der beispiellosen Wirtschafts-, Klima- und Gesundheitskrise unter vollständiger Achtung unserer gemeinsamen Grundsätze und Werte zu meistern.