URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

5. September 2012 ( *1 )

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten — Art. 4 Nr. 6 — Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann — Umsetzung in das nationale Recht — Verhaftete Person, die die Staatsangehörigkeit des Ausstellungsmitgliedstaats besitzt — Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl — Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Möglichkeit der Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf den Fall beschränken, dass es sich bei der gesuchten Person um einen Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats handelt“

In der Rechtssache C-42/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel d’Amiens (Frankreich) mit Entscheidung vom 18. Januar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2011, in dem Verfahren über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

João Pedro Lopes Da Silva Jorge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und U. Lõhmus sowie der Richter A. Rosas, E. Levits, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Lopes Da Silva Jorge, vertreten durch D. Fayein-Bourgois, avocat,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, J.-S. Pilczer und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und B. Czech als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. März 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) sowie von Art. 18 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Frankreich, der am 14. September 2006 vom Strafgericht Lissabon (Portugal) gegen Herrn Lopes Da Silva Jorge, einen in Frankreich wohnhaften portugiesischen Staatsangehörigen, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Drogenhandels ausgestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Art. 2 Abs. 2 des am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichneten Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen bestimmt:

„Eine im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Person kann nach diesem Übereinkommen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei überstellt werden. Zu diesem Zweck kann sie dem Urteils- oder dem Vollstreckungsstaat gegenüber den Wunsch äußern, nach diesem Übereinkommen überstellt zu werden.“

4

In Art. 3 dieses Übereinkommens heißt es:

„(1)   Eine verurteilte Person kann nach diesem Übereinkommen nur unter den folgenden Voraussetzungen überstellt werden:

a)

dass sie Staatsangehörige des Vollstreckungsstaats ist;

(4)   Jeder Staat kann jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung für seinen Bereich den Begriff ‚Staatsangehöriger‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.“

Unionsrecht

Der Rahmenbeschluss 2002/584

5

Die Erwägungsgründe 1 und 5 bis 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(1)

Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, insbesondere in Nummer 35 dieser Schlussfolgerungen, sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.

(5)

Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. … Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. …

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.“

6

Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 definiert den Europäischen Haftbefehl und die Verpflichtung zu seiner Vollstreckung wie folgt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

…“

7

Art. 3 des Rahmenbeschlusses enthält drei „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“.

8

Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) zählt diese Gründe in sieben Nummern auf. Nr. 6 lautet:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

6.

wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken“.

Der Rahmenbeschluss 2008/909/JI

9

Die Erwägungsgründe 2 und 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. L 327, S. 27) lauten:

„(2)

Der Rat hat am 29. November 2000 entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen [ABl. 2001, C 12, S. 10] angenommen, wobei er sich für eine Einschätzung des Bedarfs an modernen Mechanismen zur gegenseitigen Anerkennung von rechtskräftigen Verurteilungen mit der Folge eines Freiheitsentzugs (Maßnahme 14) sowie für die Ausdehnung der Geltung des Grundsatzes der Überstellung verurteilter Personen auf die in einem Mitgliedstaat wohnhaften Personen (Maßnahme 16) aussprach.

(4)

Alle Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen des Europarats über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 ratifiziert. Nach diesem Übereinkommen kommt eine Überstellung zum weiteren Strafvollzug nur in den Staat der Staatsangehörigkeit des Verurteilten und nur mit dessen Zustimmung und der Zustimmung der beteiligten Staaten in Betracht. Das Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen vom 18. Dezember 1997, das unter bestimmten Voraussetzungen eine Überstellung unabhängig von der Zustimmung der Person vorsieht, wurde nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert. Keines der beiden Instrumente beinhaltet eine grundsätzliche Verpflichtung zur Übernahme verurteilter Personen zum Straf- oder Maßnahmenvollzug.“

10

Art. 3 („Zweck und Geltungsbereich“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.“

11

Art. 17 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„Auf die Vollstreckung einer Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung.“

12

Art. 25 („Vollstreckung von Sanktionen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses 2002/584 und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“

13

Art. 26 („Verhältnis zu anderen Übereinkünften und Vereinbarungen“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 lautet:

„Dieser Rahmenbeschluss ersetzt ab dem 5. Dezember 2011 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten und deren vorübergehender Anwendbarkeit nach Artikel 28:

Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 und das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997;

…“

14

Art. 28 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Für Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingehen, gelten weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen.“

15

Art. 29 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um diesem Rahmenbeschluss vor dem 5. Dezember 2011 nachzukommen.“

Französisches Recht

16

Art. 695-24 des Code de procédure pénale (Strafprozessordnung) bestimmt:

„Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann abgelehnt werden,

2.

wenn es sich bei der Person, die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung gesucht wird, um einen französischen Staatsbürger handelt und wenn die zuständigen französischen Justizbehörden sich verpflichten, diese Strafe zu vollstrecken.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 3. Dezember 2003 verurteilte das Strafgericht Lissabon Herrn Lopes Da Silva Jorge wegen des Handels mit Drogen in der Zeit von April bis Juli 2002 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren.

18

Am 14. September 2006 stellte dieses Gericht gegen Herrn Lopes Da Silva Jorge zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe einen Europäischen Haftbefehl aus.

19

Anschließend ließ sich Herr Lopes Da Silva Jorge in Frankreich nieder. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass er seit dem 11. Juli 2009 mit einer französischen Staatsangehörigen verheiratet ist, mit der er seither im französischen Hoheitsgebiet wohnt. Er ist seit dem 3. Februar 2008 bei einer französischen Firma unbefristet als Kraftfahrer im Nahverkehr angestellt.

20

Am 19. Mai 2010 sprach er nach einer telefonischen Vorladung bei der zuständigen französischen Polizeidienststelle vor, die ihn bei dieser Gelegenheit in Ausführung des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls über seine Rechte belehrte.

21

Am 20. Mai 2010 wurde Herr Lopes Da Silva Jorge vom Generalstaatsanwalt bei der Cour d’appel d’Amiens (Frankreich), nachdem dieser ihn zur Person vernommen und über den Inhalt dieses Europäischen Haftbefehls sowie über seine Verteidigungsrechte aufgeklärt hatte, in Haft genommen.

22

Mit Urteil vom 25. Mai 2010 entschied die Cour d’appel d’Amiens, Herrn Lopes Da Silva Jorge aus der Haft zu entlassen und unter richterliche Aufsicht zu stellen.

23

Im Rahmen des die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls betreffenden Ausgangsverfahrens beantragte der Generalstaatsanwalt bei der Cour d’appel d’Amiens, Herrn Lopes Da Silva Jorge an die Ausstellungsbehörde zu übergeben, weil der genannte Haftbefehl von dieser Behörde unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen erlassen worden sei und keiner der in der Strafprozessordnung vorgesehenen zwingenden oder fakultativen Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung Anwendung finde, insbesondere nicht Art. 695-24 der Strafprozessordnung. Auf die Aufforderung, zu den Auswirkungen des Urteils des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg (C-123/08, Slg. 2009, I-9621), Stellung zu nehmen, trug der Generalstaatsanwalt bei der Cour d’appel d’Amiens vor, dass Herr Lopes Da Silva Jorge sich zwar auf die französischen Rechtsvorschriften, in denen die Voraussetzungen festgelegt seien, unter denen die zuständige Behörde sich weigern könne, einen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, und somit auf Art. 695-24 der Strafprozessordnung berufen könne. Der Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der in dieser Bestimmung nur für französische Staatsangehörige vorgesehen sei, sei gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 jedoch zur Wahl gestellt. Wie die Strafkammer der Cour de cassation (Frankreich) mit Urteil vom 7. Februar 2007 (Az. 07-80.162, Bull. crim. Nr. 39) entschieden habe, gelte Art. 695-24 der Strafprozessordnung ausschließlich für französische Staatsangehörige und unter der Voraussetzung, dass die zuständigen französischen Behörden sich verpflichteten, die Vollstreckung der Strafe selbst vorzunehmen.

24

Demgegenüber begehrt Herr Lopes Da Silva Jorge vom vorlegenden Gericht, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern und die Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe in Frankreich anzuordnen. Er macht in diesem Zusammenhang insbesondere geltend, dass seine Übergabe an die portugiesischen Justizbehörden gegen Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen würde. Die Übergabe wäre ein unverhältnismäßiger Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, da er mit seiner französischen Ehefrau in Frankreich wohne und dort bei einem französischen Unternehmen unbefristet als Kraftfahrer im Nahverkehr angestellt sei. Außerdem trägt er unter Hinweis auf das Urteil Wolzenburg vor, dass Art. 695-24 der Strafprozessordnung eine nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 darstelle, weil er den in dieser Bestimmung genannten Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden könne, nur französischen Staatsangehörigen vorbehalte. Nach der letztgenannten Vorschrift müsse es nämlich auch möglich sein, diesen Grund auf Personen anzuwenden, die im Vollstreckungsmitgliedstaat wohnten. Die Vorschrift führe im Übrigen zu einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 18 AEUV, da die durch sie begründete Ungleichbehandlung von französischen Staatsangehörigen und Angehörigen anderer Mitgliedstaaten objektiv nicht gerechtfertigt sei.

25

Die Cour d’appel d’Amiens wirft daher in der Vorlageentscheidung die Frage auf, ob Art. 695-24 der Strafprozessordnung, soweit er die Möglichkeit der Geltendmachung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, allein den eigenen Staatsangehörigen vorbehält, in Anbetracht des Urteils Wolzenburg mit dieser Vorschrift des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 18 AEUV vereinbar ist.

26

Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel d’Amiens beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nationalen Rechtsvorschriften wie Art. 695-24 der Strafprozessordnung entgegen, die die Möglichkeit der Verweigerung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls auf den Fall beschränken, dass es sich bei der gesuchten Person um einen französischen Staatsbürger handelt und dass die zuständigen französischen Behörden sich dazu verpflichten, die Vollstreckung selbst vorzunehmen?

2.

Steht die Umsetzung des Verweigerungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in innerstaatliches Recht im Ermessen der Mitgliedstaaten oder ist sie zwingend geboten, und kann ein Mitgliedstaat insbesondere eine Maßnahme einführen, die eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt?

Zu den Vorlagefragen

27

Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 18 AEUV dahin auszulegen sind, dass ein Vollstreckungsmitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung des genannten Art. 4 Nr. 6 die Fälle, in denen sich die für die Vollstreckung zuständige nationale Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallende Person zu übergeben, begrenzen und dabei Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Inland aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, automatisch völlig ausschließen kann.

28

Der Rahmenbeschlusses 2002/584 soll, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das multilaterale System der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ersetzen (vgl. Urteile vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Randnr. 28, vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C-66/08, Slg. 2008, I-6041, Randnrn. 31 und 43, Wolzenburg, Randnr. 56, und vom 16. November 2010, Mantello, C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Randnr. 35).

29

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung bedeutet nach Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8983, Randnr. 51, Wolzenburg, Randnr. 57, sowie Mantello, Randnrn. 36 und 37).

30

Auch wenn der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt, bedeutet diese Anerkennung keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des ausgestellten Haftbefehls. Nach dem System des Rahmenbeschlusses, wie es insbesondere dessen Art. 4 zu entnehmen ist, können die Mitgliedstaaten den zuständigen Justizbehörden nämlich unter bestimmten Umständen erlauben, zu entscheiden, dass eine verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt werden muss (Urteil vom 21. Oktober 2010, B., C-306/09, Slg. 2010, I-10341, Randnrn. 50 und 51).

31

Dies gilt insbesondere für Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, der einen Grund nennt, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Danach kann es die vollstreckende Justizbehörde ablehnen, einen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn sich die gesuchte Person „im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat“ und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

32

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, insbesondere der vollstreckenden Justizbehörde ermöglichen soll, besonderes Gewicht auf eine Erhöhung der Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der verhängten Strafe zu legen (vgl. Urteile Kozłowski, Randnr. 45, Wolzenburg, Randnrn. 62 und 67, sowie B., Randnr. 52).

33

Gleichwohl haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Vorschrift ein bestimmtes Ermessen. Es ist nämlich legitim, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat dieses Ziel nur gegenüber Personen verfolgt, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats nachgewiesen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Wolzenburg, Randnrn. 61, 67 und 73).

34

Daher können die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Sinne der in dessen Art. 1 Abs. 2 genannten Grundregel die Fälle beschränken, in denen die Übergabe einer vom Anwendungsbereich des Art. 4 Nr. 6 erfassten Person vom Vollstreckungsmitgliedstaat verweigert werden kann, indem sie die Anwendung dieser Vorschrift – wenn es sich bei der gesuchten Person um einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats handelt, der ein auf Art. 21 Abs. 1 AEUV gestütztes Aufenthaltsrecht hat – davon abhängig machen, dass sich diese Person eine bestimmte Zeit lang rechtmäßig im Hoheitsgebiet des genannten Vollstreckungsmitgliedstaats aufgehalten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Wolzenburg, Randnrn. 62 und 74).

35

Setzt ein Mitgliedstaat Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in sein innerstaatliches Recht um, muss er jedoch beachten, dass der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf Personen begrenzt ist, die „Staatsangehörige“ des Vollstreckungsmitgliedstaats sind oder, wenn sie nicht Angehörige dieses Staates sind, sich dort „aufhalten“ oder „ihren Wohnsitz haben“ (vgl. in diesem Sinne Urteil Kozłowski, Randnr. 34).

36

Die Begriffe „aufhalten“ und „Wohnsitz“ müssen jedoch in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden, da sie sich auf autonome Begriffe des Unionsrechts beziehen (vgl. Urteil Kozłowski, Randnrn. 41 bis 43).

37

Zum einen haben die Mitgliedstaaten zwar, wie sich aus Randnr. 33 des vorliegenden Urteils ergibt, bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in ihr innerstaatliches Recht ein bestimmtes Ermessen, doch können sie diesen Begriffen nicht eine Bedeutung beimessen, die über das hinausgeht, was sich aus einer einheitlichen Auslegung dieser Vorschrift in allen Mitgliedstaaten ergibt (vgl. Urteil Kozłowski, Randnr. 43).

38

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass der Begriff „sich aufhält“ nicht so weit ausgelegt werden darf, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls schon allein deshalb ablehnen kann, weil sich die gesuchte Person vorübergehend im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats befindet (Urteil Kozłowski, Randnr. 36).

39

Zum anderen haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in ihr innerstaatliches Recht Art. 18 AEUV zu beachten.

40

In Anbetracht des insbesondere mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgten, in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils genannten Zwecks, die Resozialisierungschancen einer Person, die in einem anderen Mitgliedstaat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, zu erhöhen, sollten Staatsangehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben und in die Gesellschaft dieses Staates integriert sind, grundsätzlich nicht unterschiedlich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Wolzenburg, Randnr. 68).

41

Somit ist es unzulässig, bei einer gesuchten Person, die sich – ohne Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats zu sein – dort seit einiger Zeit aufhält oder wohnt, von vornherein auszuschließen, dass sie zu diesem Staat Bindungen aufgebaut hat, die eine Berufung auf diesen fakultativen Ablehnungsgrund rechtfertigen können (Urteil Kozłowski, Randnr. 37).

42

Wie sich aus Randnr. 34 des vorliegenden Urteils ergibt, hat der Gerichtshof in Bezug auf einen Mitgliedstaat, der Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 durch die Festlegung besonderer Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift umgesetzt hat, bereits anerkannt, dass ebenso wie die Voraussetzung der Staatsbürgerschaft für die eigenen Staatsbürger auch die Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren für die Staatsbürger der anderen Mitgliedstaaten gewährleisten kann, dass die gesuchte Person hinreichend in den Vollstreckungsmitgliedstaat integriert ist (vgl. Urteil Wolzenburg, Randnr. 68).

43

Wie der Gerichtshof im Übrigen auch entschieden hat, muss, wenn ein Mitgliedstaat Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 umgesetzt hat, ohne besondere Bedingungen für die Anwendung dieser Vorschrift vorzusehen, die vollstreckende Justizbehörde für die Feststellung, ob in einer konkreten Situation zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die den Schluss zulassen, dass diese Person sich in diesem Staat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses aufhält oder dort wohnt, mehrere objektive Faktoren, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Aufenthalts der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Bindungen gehören, in einer Gesamtschau würdigen (vgl. in diesem Sinne Urteile Kozłowski, Randnrn. 48 und 49, sowie Wolzenburg, Randnr. 76).

44

Um die unterschiedliche Behandlung der französischen Staatsangehörigen und der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu rechtfertigen, macht die französische Regierung allerdings geltend, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 keinen Mechanismus vorsehe, der es einem Mitgliedstaat ermögliche, eine in einem anderen Mitgliedstaat verhängte Strafe zu vollstrecken, da Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verweise. Die Anwendung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Grundes für eine Ablehnung der Vollstreckung sei nämlich davon abhängig, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat sich verpflichtet habe, diese Strafe „nach seinem innerstaatlichen Recht“ zu vollstrecken.

45

Die französische Regierung weist darauf hin, dass sie sich nach ihrem geltenden innerstaatlichen Recht nur dann dazu verpflichten könne, die Strafe einer verurteilten Person zu vollstrecken, wenn die Person die französische Staatsangehörigkeit habe. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten sei die Französische Republik nämlich dem am 28. Mai 1970 in Den Haag unterzeichneten Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen und dem Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991 nicht beigetreten. Dagegen habe sie genauso wie alle anderen Mitgliedstaaten das am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichnete Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen ratifiziert, nach dessen Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verurteilte zur Strafvollstreckung nur in den Staat überstellt werden könne, dessen Staatsangehörigkeit er habe.

46

Das sei gerade der Grund, weshalb der Unionsgesetzgeber den Rahmenbeschluss 2008/909 erlassen habe, durch den insbesondere der Grundsatz der Überstellung verurteilter Personen auf die in einem Mitgliedstaat wohnhaften Personen habe ausgeweitet werden sollen. Dieser Rahmenbeschluss gelte gemäß seinem Art. 25 für die Vollstreckung von Strafen in Fällen, in denen sich ein Mitgliedstaat gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Vollstreckung einer Sanktion verpflichtet habe. Nach Art. 29 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hätten die Mitgliedstaaten jedoch für dessen Umsetzung bis zum 5. Dezember 2011 Zeit gehabt. Im Übrigen sehe Art. 28 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses vor, dass für Ersuchen, die vor dem 5. Dezember 2011 eingegangen seien, weiterhin die bestehenden Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen gälten.

47

Wie die französische Regierung selbst in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung ebenso wie auch die deutsche und die niederländische Regierung eingeräumt haben, erlaubt Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des genannten Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen den Vertragsstaaten zwar, allein den eigenen Staatsangehörigen die Möglichkeit vorzubehalten, eine in einem anderen Staat verhängte Strafe im Inland zu verbüßen, doch weder dieses Übereinkommen noch irgendeine andere völkerrechtliche Regel verpflichtet diese Staaten zum Erlass einer derartigen Regel.

48

Die Europäische Kommission hat in der mündlichen Verhandlung, insoweit unbestritten, darauf hingewiesen, dass nach Art. 3 Abs. 4 des genannten Übereinkommens jeder Vertragsstaat jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung für seinen Bereich den Begriff „Staatsangehöriger“ im Sinne dieses Übereinkommens in der Weise bestimmen könne, dass er bestimmte Gruppen von Personen einschließe, die sich im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhielten oder dort wohnten, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen. Einige Vertragsstaaten haben tatsächlich derartige Erklärungen abgegeben, u. a. das Königreich Dänemark, Irland, die Italienische Republik, die Republik Finnland und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.

49

Somit ist festzustellen, dass die behauptete Unmöglichkeit, im Vollstreckungsmitgliedstaat eine Freiheitsstrafe zu vollstrecken, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verhängt wurde, es nicht rechtfertigen kann, diesen Staatsangehörigen deshalb anders als einen französischen Staatsangehörigen zu behandeln, weil der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannte Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, ausschließlich französischen Staatsangehörigen vorbehalten ist.

50

Infolgedessen können die Mitgliedstaaten, wenn sie Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in ihr innerstaatliches Recht umsetzen, die Ablehnung der Vollstreckung nicht, ohne gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu verstoßen, auf die eigenen Staatsangehörigen beschränken und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort wohnen, ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Mitgliedstaat automatisch völlig ausschließen.

51

Diese Feststellung bedeutet nicht, dass der fragliche Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen eine Person erlassen wurde, die sich in diesem Staat aufhält oder dort wohnt, zwangsläufig verweigern muss, doch muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn diese Person in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats ähnlich wie ein Inländer integriert ist, prüfen können, ob ein legitimes Interesse an der Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats besteht.

52

Demnach kann ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar die Fälle, in denen sich die nationale vollstreckende Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallende Person zu übergeben, begrenzen, wodurch das mit diesem Rahmenbeschluss eingeführte System der Übergabe entsprechend dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verstärkt wird (Urteil Wolzenburg, Randnrn. 58 und 59), doch darf er Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort wohnen, nicht ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Mitgliedstaat von diesem Anwendungsbereich automatisch völlig ausschließen.

53

Nach der Rechtsprechung haben Rahmenbeschlüsse gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU zwar keine unmittelbare Wirkung, doch hat ihr zwingender Charakter für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge (Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Randnrn. 33 und 34).

54

Die nationalen Gerichte müssen bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegen, um das im Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen. Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Randnrn. 113 und 114, und vom 24. Januar 2012, Dominguez, C-282/10, Randnr. 24).

55

Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. in diesem Sinne Urteile Pupino, Randnr. 47, sowie Dominguez, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlangt jedoch, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des fraglichen Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteil Dominguez, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

Im Ausgangsverfahren muss das vorlegende Gericht hierzu nicht nur die Vorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584, sondern auch die Grundsätze und Bestimmungen der innerstaatlichen Rechtsordnung berücksichtigen, die die Maßnahmen regeln, die ein Richter im Fall einer nach dem nationalen Recht verbotenen Diskriminierung treffen darf, insbesondere solche, durch die er eine derartige Diskriminierung abmildern kann, bis der Gesetzgeber die zu ihrer Beseitigung erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat.

58

Wenn eine derartige Anwendung des nationalen Rechts möglich ist, muss dieses Gericht im Rahmen einer Gesamtschau der objektiven Faktoren, die die Situation der gesuchten Person kennzeichnen, prüfen, ob im Ausgangsverfahren zwischen dieser Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat hinreichende Bindungen – insbesondere in familiärer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht – bestehen, die zeigen, dass die Person in die Gesellschaft des genannten Staates derart integriert ist, dass sie sich tatsächlich in einer mit der eines Inländers vergleichbaren Situation befindet.

59

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 18 AEUV dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung dieses Art. 4 Nr. 6 zwar die Fälle, in denen sich die nationale vollstreckende Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallende Person zu übergeben, begrenzen kann, jedoch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nicht ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Staat von diesem Anwendungsbereich automatisch völlig ausschließen darf.

60

Das vorlegende Gericht muss das nationale Recht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses 2002/584 auslegen, um dessen volle Wirksamkeit zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel im Einklang steht.

Kosten

61

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten und Art. 18 AEUV sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung dieses Art. 4 Nr. 6 zwar die Fälle, in denen sich die nationale vollstreckende Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich des genannten Art. 4 Nr. 6 fallende Person zu übergeben, begrenzen kann, jedoch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nicht ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Staat von diesem Anwendungsbereich automatisch völlig ausschließen darf.

 

Das vorlegende Gericht muss das nationale Recht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses 2002/584 auslegen, um dessen volle Wirksamkeit zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel im Einklang steht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

  翻译: