Mit 47 Jahren ist Ingo Schütze in Rente gegangen. 47? Eigentlich kein Alter für die Rente – aber uralt, wenn man aus dem Mittelalter kommt. So wie Schütze, der das historische Handwerk des Papierschöpfens 13 Jahre lang an die Menschen gebracht hat, vor allem an die Kinder. Was sein Vater damit zu tun hat, warum er jetzt aufhört – und was er noch alles ehrenamtlich tut, von Karneval bis Politik.
Text: Laura Geyer. Fotos: Thomas Merkenich
Eine Familie mit drei Kindern bleibt vor Ingo Schützes Stand stehen. „Papier schöpfen“, liest einer der Erwachsenen von dem Blatt ab, das darauf liegt, und fragt in Richtung der Kinder: „Wollt ihr das mal ausprobieren?“ Und ob sie wollen.
Jemand holt einen Stuhl für das kleinste Kind, das zuerst möchte. Ingo Schütze erklärt dem Mädchen geduldig, was es zu tun hat, hilft ihm, den Schöpfrahmen in den Papierbrei zu tauchen und anschließend das tropfnasse Blatt auf einem Lappen abzulegen. Geduldig, freundlich, auf Augenhöhe.
Als alle drei Kinder fertig sind, kommt eine Frau, vermutlich die Großmutter, zu Schütze und sagt: „Sie machen das großartig.“
Schütze lächelt, bedankt sich. Und fragt sich womöglich einmal mehr: Ist das wirklich das letzte Mal?
„Der Schöpfer ist erschöpft“, hat er am Anfang unseres Gesprächs zu mir gesagt. Es ist der Grund, warum ich ihn an seinem Stand auf dem Kunstbasar im Bergischen Löwen besuche: Ingo Schütze, bekannt als „Der Schöpfer“, hatte angekündigt, nach diesem Auftritt in Rente zu gehen.
13 Jahre lang hat er das historische Handwerk des Papierschöpfens ehrenamtlich an die Menschen gebracht. Vor allem an die Kinder. Ich mustere ihn unauffällig. Wie ein Rentner sieht er eigentlich nicht aus. „Darf ich fragen, wie alt du bist?“ „47“, antwortet Ingo Schütze.
Ein zartes Alter, um in Rente zu gehen, oder? Schütze lacht. „Ich komme ja aus dem Mittelalter! Da bin ich schon uralt.“
Wie Schütze zum „Schöpfer“ wurde
Seine Leidenschaft fürs Mittelalter war es, die ihn zum Papierschöpfen gebracht hatte. Die Mitglieder des Vereins „Vita Historica“, den Schütze mitgegründet hatte, wollten, dass jeder von ihnen eine alte Handwerkskunst auswählen sollte, um sie auf Märkten zu präsentieren. Schütze überlegte damals: „Ich kann eigentlich nichts.“
Doch dann erinnerte ihn jemand daran, dass sein Vater als Papiermacher bei Zanders gearbeitet hatte. Dieser war begeistert, als der Sohn ihn fragte, ob er ihm das historische Papierschöpfen beibringen könnte. Und so wurde Ingo Schütze „der Schöpfer“ – wer auf den Titel gekommen war, weiß er nicht mehr, aber er passte perfekt.
Zusammen mit seinem Vater Dieter baute er den Stand mit der grünen Plastik-„Bütt“ zum Schöpfen. Der Vater fand bei Ebay eine alte Papierpresse. Und bei jedem Auftritt des „Schöpfers“ war es der Vater, der den Papierbrei anrührte.
Ursprünglich wurde der aus alten Lumpen und Pflanzenfasern gemacht (welche Pflanzen dafür zum Einsatz kamen, kann man an der Alten Dombach auf dem Weg vom Parkplatz zum Papiermuseum lernen).
Ingo Schütze und sein Vater machten es sich mit Zeitungsschnipseln einfacher. Diese müssen 24 Stunden in Wasser eingeweicht und anschließend im Mixer zu Brei gemacht werden. Schütze zeigt auf die grauen Blätter, die in einer Holzkiste neben der Bütt stehen: „Die Farbe ist authentisch, denn die Lappen und Pflanzenfasern hatten damals oft unterschiedliche Farbtöne, sodass das Papier auch grau wurde.“
Schöpfen bis zur Erschöpfung
Nun ist sein Vater vor zwei Monaten 80 geworden – und fast blind. Einer der Gründe, warum Schütze nicht mehr will. Ein weiterer: Alles ist teurer geworden, der Eintritt zu Märkten wie dem auf Burg Satzvey, auf dem er jedes Jahr das Papierschöpfen präsentiert hatte, die Speisen und die Produkte dort. Kein Wunder, findet Schütze, dass Familien an seinem Stand immer weniger spenden (können).
Er erzählt, dass er vor jedem seiner fünf bis sechs Auftritte im Jahr Papier vorgeschöpft hätte, damit jedes Kind einen Bogen mitnehmen konnte, denn die frisch geschöpften Blätter brauchen 24 Stunden zum Trocknen. Also schöpfte er und schöpfte, „bis zur Erschöpfung“.
„Das ist nur ein Hobby, ich muss nichts damit verdienen“, sagt Schütze. „Aber zumindest die Unkosten sollten gedeckt sein.“
Jetzt kommt ein Paar an den Stand. Der Mann fragt: „Bist du nicht in Rente?“ Ingo Schütze lächelt. „Nach diesem Wochenende.“ Der Mann schüttelt ungläubig den Kopf. „Wir sprechen uns in zehn Jahren nochmal.“
Schütze lacht. „Keiner glaubt mir, dass ich wirklich aufhöre.“ Glaubt er es denn selbst? „Naja… der Kopf ja. Das Herz noch nicht so ganz.“
Der jeckste Verein der Stadt
Immerhin: Langweilig wird es ihm in der Rente nicht werden. Neben seinem eigentlichen Beruf, der Leitung des Sekretariats in der Refrather Kreativitätsschule, ist Ingo Schütze zweiter Vorsitzender des Karnevalsvereins „De Schinghellije“ (Die Scheinheiligen).
Der Karneval sei schon immer sein „Ein und Alles“ gewesen, erzählt er. Als er 2016 gefragt wurde, ob er nicht eine Karnevalsgesellschaft in Bergisch Gladbach gründen wollte, sagte er sofort Ja. Seinen Mitgründer René Karla hatte er zuletzt 25 Jahre davor gesehen, als die beiden zusammen in einer Band spielten.
Karnevalsmusik? „Nein, Rock’n’Roll, mit langen Haaren“, sagt Schütze und lacht.
Die „Schinhellije“ bezeichnen sich selbst als den jecksten Verein der Stadt. Sie bauen jedes Jahr einen neuen Mottowagen, nähen neue Kostüme. Als zweiter Vorsitzender ist Ingo Schütze für organisatorische Aufgaben zuständig. Er ist aber auch Mitglied der Wagenbaugruppe.
René Karla hat erst letztes Jahr einen Workshop bei DEM Karnevalswagen-Baumeister Jaques Tilly besucht, sodass die Gruppe nun mit ganz neuen Ideen (und einer Knochenleim-Rezeptur von Tilly selbst) am Werk ist.
Was da in der Wagenbauhalle entsteht, ist natürlich streng geheim und wird erst am Karnevalssonntag beim Zoch enthüllt. Diesmal sogar unter besonderen Bedingungen, denn Vorsitzender René Karla ist ab 2025 Zugleiter in Bergisch Gladbach.
Neu in der Politik
Man kann sich vorstellen, dass auch dieses Hobby zeitintensiv ist. Und doch reichte es Ingo Schütze scheinbar noch nicht: Seit einem Jahr ist er, zusätzlich zu allem, auch noch Fraktionsmitglied der SPD in Bergisch Gladbach.
Das kam so: „Ich saß in einer stillen Stunde auf meinem Sofa und scrollte durch die sozialen Medien und all den Hass, den die Menschen da rauslassen. Da dachte ich: Ich will mich nicht nur beschweren. Ich will aktiv werden und versuchen, was zu ändern.“
Noch hat er kein Amt inne, er möchte aber gerne mehr Verantwortung übernehmen. Auf die Frage, in welchem Bereich, antwortet er ohne zu zögern: „Im sozialen Bereich.“
Vor der Europawahl sei er bei jedem Infostand in der Fußgängerzone dabei gewesen. Eine wichtige Lektion für ihn: Er sei beschimpft worden, bestätigt worden, habe Probleme erzählt bekommen, bei denen er zunächst dachte: Und wie soll ich dir jetzt helfen? Dabei habe er gelernt, die Menschen ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören – und sich zu fragen, ob er nicht doch irgendwie helfen könne.
Der letzte Bogen
Man kann sich das gut vorstellen, wenn man sieht, wie Ingo Schütze an seinem Stand mit den Besucher:innen interagiert. Und wenn man liest, was die Menschen unter den Abschiedspost schreiben, den er nach dem Wochenende im Bergischen Löwen in den sozialen Medien veröffentlicht:
„Es gab nicht einen einzigen Moment in den vielen Jahren, wo Du gejammert hast oder schlecht gelaunt warst. Immer fröhlich und voller Kraft hast Du Dich an die Bütt gestellt.“
„Wir werden deine Arbeit, Präsentation rund ums Papierschöpfen, absolut vermissen. Vor allem sind die Kinder, denen du die Kunst so gut vermitteln konntest, jetzt bestimmt traurig.“
„Leider hat alles ein Ende.“
So auch dieses Porträt. Nicht aber Ingo Schützes Engagement. Ich bin gespannt.
Ein schöner Artikel über einen interessanten und unkonventionellen Menschen, vielen Dank.